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Ode an das Vorspiel

Vorspiel: Pärchen im Bett beim Vorspiel
© Das Intimste am Sex: Ode an das Vorspiel / Shutterstock
Nichts gegen den guten alten Geschlechtsverkehr. Aber das Vorspiel ist um Längen aufregender - meint BRIGITTE WOMAN-Psychologe Oskar Holzberg.

Vorspiel: Das Eigentliche kommt erst noch.

Vorspiel, das klingt immer wie Vorwäsche, wie ein lauwarmes Einweichprogramm.

Erst etwas Necking zum Warmwerden, dann gleiten seine Finger tiefer, tauchen in sie ein. Ihr Atem geht schnell, sie stöhnt leise, während sie bemerkt, dass seine Küsse sich in kleine Bisse verwandeln. Er drängt sein Becken näher an ihres. Er glaubt, dass sie so weit sein könnte. Sie fragt sich, ob er schon will.

Ihre Fragen bleiben unausgesprochen, sie sind ihnen so vertraut, dass sie sie kaum bemerken. Sie begleiten sie wie erotische Schatten. Wann ist es so weit? Wann schläft man wirklich miteinander, wann beginnt man mit dem Geschlechtsverkehr? Wann ist es vorbei: das Vorspiel? Vorspiel, das klingt immer wie Vorwäsche, wie ein lauwarmes Einweichprogramm. Oder wie die Vorgruppe, die möglichst schnell die Bühne räumen soll, damit der Top-Act endlich loslegen kann. Vorspiel, das heißt, das Eigentliche kommt erst noch. "Die Aufgabe des Vorspiels liegt darin, für eine effektive Stimulation zu sorgen, die die Partner physisch und psychisch auf den Geschlechtsakt vorbereiten. Dank dieser Vorbereitung kann er bei beiden Partnern mit dem Orgasmus abschließen", sagt das rororo-Sachbuch "Sexualität".

Wirklich intim miteinander sind wir beim Vorspiel.

Ode an das Vorspiel
© Corbis

Wirklich intim miteinander werden wir laut dieser Definition erst, wenn das Vorspiel vorbei ist. Glücklicherweise stammt der rororo-Band samt Zitat aus dem Jahr 1977. Damals wurde das Vorspiel überhaupt erst Mainstream, die Sexualität legte noch ihre Ketten ab. Unser Verständnis von Sexualität ist seither deutlich komplexer geworden. Wir haben verstanden, dass sich beim Sex unsere Bedürfnisse nach Bindung und Lust vermischen. Dass wir Ekstase und Exzess erleben möchten, aber auch Akzeptanz und Zugehörigkeit. Und dass es dazu mehr braucht als routiniertes Fummeln und dann Beischlaf inklusive Orgasmus

Der amerikanische Sexualtherapeut David Schnarch, der mit seinem Buch "Die Psychologie sexueller Leidenschaft" auch in Deutschland die Sexuallandschaft aufgemischt hat, geht aber noch weiter. Seine These: Wirklich intim miteinander sind wir keineswegs beim eigentlichen Sex, sondern bei dem, was wir vorher tun. Beim Vorspiel. Paare, so seine Diagnose, fliehen regelrecht in den Koitus, wenn sie drohen, einander zu nahe zu kommen. Sie wechseln zum Koitus, weil sie darüber die Intimität des Vorspiels unbewusst wieder auf ein für sie erträgliches Maß herunter regulieren können. Bei Menschen mit Beziehungsangst kann das Vorspiel richtiges Unbehagen auslösen. 

Beim Vorspiel können wir spielen, ausprobieren, die Rollen wechseln.

Das Vorspiel ist das, was passiert, bevor dich dein Partner vergisst.

Das Vorspiel - wenn wir uns denn drauf einlassen - ist wie ein offenes Gespräch, das sich in jede Richtung entwickeln kann, zu verschmelzender Innigkeit, zum aggressiven Kämpfen oder zum kichernden Knabbern.

Beim Vorspiel können wir spielen, ausprobieren, die Rollen wechseln. Wir schauen uns in die Augen, wir spüren in uns hinein. Wir fühlen, wo wir dem anderen misstrauen, wo wir uns selbst nicht trauen, gehemmt sind, Zurückweisung fürchten. Verstehen wir die Bedürfnisse des anderen, wagen wir, die eigenen zu zeigen? Können wir nehmen, ohne zu geben? Geben wir ohne Erwartung? Wir küssen uns, und das sagt uns, wie es um unsere Liebe steht. Aber wollen wir das wirklich wissen? Wie frei und mutig durchqueren wir diesen Spielplatz der Nähe, auf dem jeder Quadratzentimeter Haut eine Antwort gibt, jede Berührung eine Frage stellt: Wo ist deine Lust, und wer bist du? Wo ist meine Lust? Und wer bin ich? Wer sind wir?

Die Lust kann erlöschen, weil die Trauer über seine letzte Affäre noch zu stark ist. Sie kann sich aus dem gleichen Grund zur Ekstase steigern. Eine Frage der Intimität, der Begegnung. "Im Vorspiel handeln wir aus, auf welcher Ebene von Intimität, Erotik, Bedeutungserleben und emotionaler Verbundenheit wir uns im weiteren Verlauf bewegen werden", so David Schnarch. Wir können diesen Gefühlen folgen, uns auf die Ungewissheit der Begegnung einlassen. Oder wir beenden das Vorspiel. Und gehen zum Geschlechtsverkehr über. Tun, was wir immer tun, folgen einem vertrauten Pfad. Machen uns auf den Weg zum Orgasmus. Werden von ergriffenen Wanderern zu besessenen Gipfelstürmern. Was die amerikanische Paarexpertin Dr. Pepper Schwartz zu der bissigen Bemerkung veranlasst: "Das Vorspiel ist das, was passiert, bevor dich dein Partner vergisst."

Der Koitus ist der sicherere Ort. Es gibt ein Ziel. Das Gespräch hat ein Thema. Mann weiß, was zu tun ist. Frau auch. Oder eben auch nicht, dann starrt sie, wie wir es gern in französischen Filmen sehen, gelangweilt an die Decke, während er auf den Höhepunkt zuruckelt oder mit seiner Erektion kämpft. Oder sie heuchelt Ekstase, damit sich trotz aller Nacktheit niemand die Blöße des Versagens geben muss. Jenny und Alex sind erst seit einem Jahr zusammen. Alles ist gut, nur der Sex nicht. Sie können offen miteinander sprechen. Jenny geht Alex' "Gefummel" auf den Wecker, das Vorspiel dauere ewig, bis sie dann endlich "zur Sache" kämen.

Das wäre sie nicht so gewohnt. Alex dagegen hat sich immer als der Mann mit den goldenen Händen gesehen und ist enttäuscht, dass Jenny nicht würdigt, wie einfühlsam und ausdauernd er sie streichelt und massiert. Es stellt sich heraus, dass Alex Angst hat, zu früh zu kommen und seine fordernde Partnerin nicht befriedigen zu können. Jenny ist davon genervt, dass er nicht zu seiner Angst steht, sondern sie hinter seinen endlosen Streicheleinheiten verbirgt. Aber dann wird auch deutlich, dass Jenny Angst hat, emotional zu früh "zu kommen". Vor zu viel Verbindung flieht sie lieber hastig in die Unabhängigkeit der eigenen Lust. Als ihnen klar wird, dass sie beide Ängste haben und das anerkennen können, beginnen sie, eine befriedigende Sexualität zu entwickeln.

Unsinnlich ist vor allem die Grenze zwischen "Vorspiel" und dem "eigentlichen Geschlechtsverkehr".

Wir essen ja auch nicht ständig Bio-Tofu oder Vier-Sterne- Menüs, sondern ziehen uns im Stehen lustvoll eine Currywurst rein.

Natürlich muss sich nicht jede Zweisamkeit im Bett zu einer elegischen Begegnung auswachsen – wer mal Mingle war, weiß das vermutlich. Sex kann sogar ganz und gar anonym und unpersönlich sein. Und selbst in nahen Beziehungen hart und schmutzig.

Wir essen ja auch nicht ständig Bio-Tofu oder Vier-Sterne- Menüs, sondern ziehen uns im Stehen lustvoll eine Currywurst rein. Und es geht auch nicht darum, dem ewigen Vorspiel das Wort zu reden, in dem sich Angst vor Aggression in falscher Zärtlichkeit und Versagensängste in ausgefeilten Streichelorgien verstecken. Aber genauso klar ist, dass wir mehr ausdrücken und mehr erleben können, wenn wir mit dem ganzen Körper dabei sind, wenn Hände, Zunge, Lippen, Zehen aktiv sind, statt in relativ einengenden Körperpositionen nur von Schwanz zu Muschi zu kommunizieren.

Und unsinnig und unsinnlich ist vor allem die Grenze zwischen "Vorspiel" und dem "eigentlichen Geschlechtsverkehr", die so tief in uns eingeschrieben scheint. Sobald wir uns fragen, wie viele Sexpartner wir eigentlich schon hatten, was zählen wir dann? Alle körperlich-erotischen Begegnungen? Oder nur die, bei denen er drin war? Irgendwie scheint König Penis immer noch zu bestimmen, was Sex ist und was nicht. Zählen nur die Nächte, in denen wir einen Orgasmus hatten? Oder fragen wir uns mittlerweile wirklich, mit wem wir intim waren? Unsere gesamte sexuelle Entwicklung klebt daran fest. In der Pubertät knutschen wir uns wund, bis wir dann glauben, es sei Zeit für unser erstes Mal. Den ersten Kuss erinnern wir gut. Und den ersten richtigen Sex. Dazwischen scheint nichts zu liegen. Nur das Niemandsland des Vorspiels.

Die sanfte Erregung des Vorspiels ist die Chance, die eigenen Wünsche auszuloten.

Zu Beginn einer erotischen Beziehung durchstreifen wir es vielleicht noch fragend und forschend. Aber in der sexuellen Routine einer langjährigen Beziehung lassen wir es schnell hastig hinter uns. Dabei wissen wir doch im Fortgang unseres Lebens genauer, was wir genießen, unterscheiden besser zwischen Erwartungen und tatsächlichen Bedürfnissen. Die sanfte Erregung des Vorspiels ist die Chance, die eigenen Wünsche auszuloten.

Zu verweilen, wo es sich wirklich gut anfühlt. Aber auch hier gilt: "No risk, no fun." Wir müssen das belebende Risiko eingehen, den Partner durch Berührung und durch Worte mit unserer Innenwelt zu konfrontieren. Was haben wir zu verlieren, wenn wir von dem so erfolgreich zwischen uns eingespielten sexuellen Skript abweichen, das letztlich jede Lust killt? Doch nur die alten Ängste, die darin eingeschrieben sind. Aber können wir nicht längst leichter zu unseren Ängsten stehen? Sie zulassen und auf diese Weise endlich überwinden? David Schnarch stellt eine einfache Frage: Woher wissen wir beim Sex, ob es Zeit ist, das Vorspiel zu beenden und zum Geschlechtsakt überzugehen? Wenn der Partner nur noch unsere Genitalien streichelt? Wenn wir ihn ungeduldig finden? Oder gar, wenn sie Angst hat, dass er eh gleich kommt oder seine Erektion nachlässt? Oder er fürchtet, dass sie das Interesse verliert? Und wer entscheidet, wann es so weit ist?

Wenn wir diese Fragen ernst nehmen und ihnen nachgehen, dann begegnen wir einander neu in unseren Ängsten und Wünschen. Ist es nicht das, was wir in der Intimität suchen? Ganz wir selbst sein in der Gegenwart des anderen, dieses ungeheure Wunder. Wir könnten viel mehr miteinander erleben, wenn wir das, was im Vorspiel passiert, zum Maß aller Dinge erklärten. Wenn es gelänge, uns gemeinsam treiben zu lassen, statt es miteinander zu treiben. Sich Zeit zu nehmen und einander wirklich zu berühren. "Der Koitus ist nicht das Ziel, sondern nur einer der Wege", sagt Dr. Pepper Schwartz. In der menschlichen Sexualität geht es, auch wenn sie sich biologisch deswegen entwickelt hat, nur noch sehr selten um Fortpflanzung. Es geht auch selten um Sex. Aber viel um Nähe und um Abgrenzung, um Ekstase, Fantasie, Spiel, Macht und Ohnmacht, um Selbstbestätigung, um Identität, um die Festigung der Liebe und das Wiedererwecken romantischer Gefühle, um Erregung und Sich-fallen-Lassen, um Begegnung.

Sexualität verstehen wir heute nicht mehr als Trieb, sondern als eine Art, Lust intensiv zu leben. So gefühlvoll, bewegend und fantasiereich, wie wir es uns im Vorspiel erlauben. Wenn wir es uns denn erlauben. Wenn wir auf alles Verstellen und Es-recht-machen-Wollen verzichten, uns von allen Erwartungen und Idealen lösen, von denen des Partners und von unseren eigenen. Dann wartet noch eine Menge Leben und Liebe an dem Ort, den wir besser nicht mehr Vorspiel nennen sollten.

Foto: Corbis Text: Oskar Holzberg

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