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"Hunger bedeutet Stress" - was an Diäten gefährlich ist

"Hunger bedeutet Stress" - was an Diäten gefährlich ist
© Seksan.TH / Shutterstock
Der Medizinprofessor Achim Peters ist Experte für Übergewicht. Er warnt: "Hunger bedeutet Stress" - und der tut uns nie gut.
Professor Dr. med. Achim Peters
Peters, geboren 1957, ist Hirnforscher, Endokrinologe, Diabetologe und Adipositas-Spezialist und arbeitet an der Universität Lübeck. Er leitet dort auch die interdisziplinäre Forschergruppe "Selfish Brain". Im Jahr 2011 erschien sein Bestseller "Das egoistische Gehirn".
© Thorsten Wulff

BRIGITTE WOMAN: Herr Professor Peters, würden Sie mir raten, eine Diät zu machen, wenn ich abnehmen will?

Achim Peters: Nein, auf keinen Fall würde ich Ihnen das raten!

BRIGITTE WOMAN: Warum nicht?

Achim Peters: Dazu muss man sich anschauen, was im Körper passiert, wenn der Mensch Hunger hat. Alle Studien zeigen: Sämtliche Organe nehmen ab. Nur das Gehirn bleibt gleich schwer oder verliert höchstens ein Prozent an Gewicht.

BRIGITTE WOMAN: Wie kommt das?

Achim Peters: Das Gehirn zieht, wenn es Energiebedarf hat, seine Energie aus dem Körper.

BRIGITTE WOMAN: Das Gehirn greift die anderen Organe an?

Achim Peters: Ja. Und zwar nicht nur, wenn der Mensch Hunger hat. Sondern auch, wenn er im Stress ist. Wenn ich etwa eine Prüfung habe, dann bin ich aufgeregt, muss mich konzentrieren - dafür braucht mein Gehirn mehr Energie. Und diese Extraenergie bestellt es aus dem Körper. Unter anderem mithilfe des Stresshormons Cortisol. Dieses Hormon baut praktisch überall Gewebe ab und transportiert die Energie daraus ins Gehirn.

BRIGITTE WOMAN: Und das ist gefährlich?

Achim Peters: Eigentlich ist das ja eine gute Sache. Man kann bei Gefahr ganz schnell das Gehirn hochfahren, und das hat uns Menschen in der Evolution sehr viele Vorteile gebracht. Wenn die Stresshormone einmal kurz ansteigen, ist das auch nicht schlimm. Nun gibt es aber Situationen, die anhaltend stressig sind.

BRIGITTE WOMAN: Was sind das für Situationen?

Achim Peters: Die eigentlichen Stressoren in unserem Leben heute heißen: unsicherer Arbeitsplatz, Überforderung, Druck, wenig Kontrollmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit. Im Privatleben stressen uns Trennungen, Verluste, die Pflege kranker Eltern, Armut, Geldsorgen und Alleinerziehen.

BRIGITTE WOMAN: Also lang anhaltende Sorgen und Schwierigkeiten.

Achim Peters: Und jetzt wird das mit dem Cortisol zum Problem. Wenn die Situation nicht gemeistert wird, dann gibt's die nächste Stufe, man nennt sie tolerierbaren Stress. Da ist der Mensch noch in der Lage, zum Beispiel durch Unterstützung von Freunden oder der Familie, das Problem in Schach zu halten. Wenn aber diese Puffermechanismen nicht mehr ausreichen, kommt es zu toxischem Stress. Der bricht überwältigend über den Menschen hinein, und der ist dauerhaft belastet.

BRIGITTE WOMAN: Das Cortisol bleibt hoch und richtet Schaden an?

Achim Peters: Wir unterscheiden hier zwei Typen von Menschen, den A-Typ und den B-Typ. Nehmen wir an, beide haben anhaltenden Stress am Arbeitsplatz. Die A-Typen fahren mit ihren Stresshormonen dauerhaft hoch, zehren sich innerlich aus - und diese anhaltende Cortisolbelastung führt vergleichsweise häufig etwa zu Herzinfarkt, Schlaganfall, Arteriosklerose, Depressionen.

BRIGITTE WOMAN: Und die B-Typen?

Achim Peters: Die sind am Anfang noch aufgeregt, aber irgendwann haben sie sich daran gewöhnt, das Cortisol bleibt unten! Sie haben einen erblichen Schutzmechanismus gegen Dauerstress, den etwa die Hälfte der Bevölkerung besitzt: Ihr Gehirn legt eine Art Schalter um, der die Cortisolausschüttung stoppt.

BRIGITTE WOMAN: Aber was macht denn deren Gehirn, um sich in der stressigen Situation mit Energie zu versorgen?

Achim Peters: Bei B-Typen holt sich das Gehirn die Energie nicht aus den Körperreserven. Sondern aus dem, was sie verzehren. B-Typen fangen also an, mehr zu essen. Dadurch werden sie dicker.

BRIGITTE WOMAN: Hängt Gewichtszunahme immer mit Stress zusammen?

Achim Peters: Es gibt Krankheiten, die zu Gewichtszunahme führen, aber die sind extrem selten. In allen anderen Fällen ist Stress die Ursache für Übergewicht.

BRIGITTE WOMAN: Doch Sie sehen das entspannt?

Achim Peters: Das ist ein genialer Schutzmechanismus des Gehirns! B-Typen können in stressvoller Umgebung überleben. Während die A-Typen krank werden und eher sterben.

BRIGITTE WOMAN: Aber es gibt doch viele Krankheiten, zum Beispiel Diabetes Typ II oder Gelenkbeschwerden, die auf Übergewicht zurückzuführen sind.

Achim Peters: Betrachten wir zunächst mal die stressbedingten Erkrankungen. Das sind zum Beispiel Herzinfarkt, Schlaganfall, Depression, Unfruchtbarkeit, Knochenschwund. Menschen, die sich an Stress gewöhnen, sind davor geschützt. Dieser Schutz ist mit Übergewicht erkauft, nichts ist umsonst im Leben. Natürlich haben B-Typen Knie-und Hüftschmerzen. Aber die sind lächerlich gegen die schweren Krankheiten, die toxischer Stress bei A-Typen auslöst.

BRIGITTE WOMAN: Bisher wurden alle diese Erkrankungen dem Übergewicht zugeschrieben.

Achim Peters: Es gibt Beobachtungsstudien, die - für wissenschaftliche Laien - diesen Schluss nahegelegt haben. Doch die Ersten, die festgestellt haben, dass da etwas nicht stimmt, waren die Nierenspezialisten. Die haben gesehen, dass ihre dicken Patienten an der Dialyse länger lebten als die dünnen. Die Herzspezialisten sahen dasselbe: Wenn jemand einen Herzinfarkt hat und dick ist, lebt er länger, als wenn er dünn ist. Dann kamen die Neurologen und bestätigten die Beobachtung für den Schlaganfall, und so ging es weiter.

BRIGITTE WOMAN: Wer dick ist, hat bei Krankheit größere Überlebenschancen?

Achim Peters: Ein hoher Body-Mass-Index erwies sich in weiteren großen Beobachtungsstudien - auch in der gesunden Bevölkerung - immer als günstig für die Lebensdauer. Und dann gab es in den USA eine Vergleichsstudie, die das klären sollte. Sie bildete zwei Gruppen - gelost. In der einen Gruppe ließ man die Leute abnehmen und Sport machen, in der anderen Gruppe nicht. Und nach Jahren kam raus: Diejenigen, die abgenommen hatten, haben nicht länger gelebt als die anderen. Und die Studie war groß genug, um aussagekräftig zu sein.

Durch Dicksein bekommt man kein Diabetes

BRIGITTE WOMAN: Was ist mit Diabetes Typ II? Jeder Arzt sagt, dass er durch Übergewicht ausgelöst wird.

Achim Peters: Es gibt keine Arbeit, die zeigt, dass Dicksein die Ursache für Diabetes Typ II ist. Typ A kriegt einen Diabetes Typ II und Typ B auch. Und zwar beide wegen Stress!

BRIGITTE WOMAN: Sie sagen doch, Typ B sei stressresistenter?

Achim Peters: Die Art und Weise, wie Stress bei Typ A und B einen Diabetes Typ II erzeugt, ist unterschiedlich. Typ B gewöhnt sich an den Stressauslöser und muss daher mehr essen, um sein Gehirn ausreichend zu versorgen. Dabei steigt nicht nur das Körpergewicht, sondern auch der Blutzucker. Beim gestressten Typ A führt vor allem die Mangeldurchblutung des Gehirns zum Diabetes Typ II.

BRIGITTE WOMAN: Wenn Typ B jetzt eine Diät macht, gerät er dann auch unter Stress?

Achim Peters: Ja. Hunger bedeutet Stress. Dann wird Cortisol ausgeschüttet, auch bei Typ B. Mit allen Folgen.

BRIGITTE WOMAN: Das heißt, eine Diät geht immer mit erheblichen Gesundheitsrisiken einher?

Achim Peters: Ein, zwei Tage Hunger steckt man weg, aber wenn das länger dauert: ja! Manche machen das eine Zeit lang, andere sogar lebenslang, das sind die gezügelten Esser. Sie haben dauerhaft hohes Cortisol, noch dazu Funktionseinschränkungen im Gehirn.

BRIGITTE WOMAN: Weil das Gehirn nicht genug Energie bekommt?

Achim Peters: Wenn das Gehirn in Not ist, dann fordert es entweder über das hohe Cortisol mehr Energie an. Das hat dann die entsprechenden Nebenwirkungen. Oder es spart Energie ein. Der Mensch wird müde, erschöpft, vergesslich, er macht häufiger Fehler. Das nennt man Burnout.

BRIGITTE WOMAN: Also mehr essen und zunehmen oder Essen einsparen und Burnout bekommen?

Achim Peters: Das sind die beiden bitteren Alternativen, wenn man als Typ B unter Dauerstress ist.

BRIGITTE WOMAN: Erklären Sie mal den gefürchteten Jo-Jo-Effekt.

Achim Peters: Man macht eine Diät und ist stoffwechselmäßig belastet, das Gehirn betreibt im Grunde Raubbau am Körper. Es gibt gute Studien, die zudem zeigen, dass der Hunger nicht weggeht. Selbst nach einem Jahr strenger Diät. Also sagen die Patienten irgendwann: Jetzt schaff ich das nicht mehr, der Hunger ist zu groß. Dann essen sie wieder so viel, wie ihr Gehirn braucht - und das Gewicht geht hoch. Und was machen die Freunde, die einen zuvor gelobt haben? Die gucken, die sagen nichts, aber die gucken. Dann überfällt den Betroffenen eine ungeheure Scham. Und die erzeugt Stress, und zwar toxischen.

BRIGITTE WOMAN: Und prompt braucht das Gehirn noch mehr Energie.

Achim Peters: Und dann muss er noch mehr essen und nimmt entsprechend zu.

BRIGITTE WOMAN: Warum nehmen Frauen in den Wechseljahren zu?

Achim Peters: Junge Frauen haben viel Östrogen im Blut, dieses Hormon puffert Stress ab. Wenn Frauen aber in die Wechseljahre kommen, dann geht der Östrogengehalt im Blut runter. Das heißt, der Stressschutz fällt plötzlich weg. Es gibt einige Frauen, die unter Stress jetzt dünner werden, das sind die A-Typen. Andere werden dicker, weil sie dem B-Typ angehören.

BRIGITTE WOMAN: Wir sollten besser keine Diäten machen, wie es einige Politiker mit der so genannten "Dickensteuer" erreichen wollen, sondern den Stress bekämpfen?

Achim Peters: Man hat in den USA Frauen, die in Armut lebten, untersucht. Sie standen jeden Tag vor dem Problem, Nahrung für sich und ihre Kinder beizubringen. Die haben das geschafft, aber mit extremem Stressaufwand. Viele von ihnen wurden dabei dick. Bei uns sind etwa Hartz-IV-Empfänger in einer ähnlichen Situation. Wenn jetzt die Dickensteuer kommt, dann geraten diese Menschen noch mehr in Stress.

BRIGITTE WOMAN: Also, was tun?

Achim Peters: Wer gestresst ist, sollte raus aus der unsicheren, stressvollen Umgebung. Das ist aber meist nicht möglich. Dann helfen Antistressprogramme. Etwa eine kognitive Verhaltenstherapie, die von den Kassen bezahlt wird. Gut wirksam ist auch Achtsamkeitstraining. Nicht jeder kann seine Lebenssituation ändern, aber durch solche Verfahren kann man besser damit umgehen, die Stresslast sinkt, man muss nicht mehr so viel essen. Und dann reguliert sich das Gewicht von ganz allein.

BRIGITTE WOMAN: Aber nicht alle Menschen werden das hinbekommen.

Achim Peters: Deshalb sollte man die Übergewichtigen in Ruhe lassen und sagen: Bleib, wie du bist!

BRIGITTE WOMAN: Stattdessen wird häufig Disziplinlosigkeit unterstellt.

Achim Peters: Das ist ein Vorurteil, und es steht in Konflikt mit den wissenschaftlichen Daten. Man kann die Beherrschtheit über das Essverhalten messen, und in allen Studien kommt raus, dass dicke Menschen deutlich beherrschter beim Essen sind als alle anderen.

BRIGITTE WOMAN: Würden Sie sagen, dass wir essen können, was wir wollen?

Achim Peters: Ja. Essen Sie sich satt, dann ist Ihr Organismus in Balance und Ihr Gehirn gut versorgt.

BRIGITTE WOMAN: Und aufhören mit den Selbstvorwürfen?

Achim Peters: Ja. Denn das stresst und schwächt das Selbstwertgefühl.

Das Buch

"Hunger bedeutet Stress" - was an Diäten gefährlich ist
© PR

Achim Peters: "Mythos Übergewicht - Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat: Überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung", 272 Seiten, 19,99 Euro, C. Bertelsmann Verlag

Interview: Katja Jührend BRIGITTE WOMAN 02/14 Teaserbild: Pützfeld/Plainpicture, Porträt: Achim Peters

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