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Abschied nehmen

Abschied nehmen
© Syda Productions / Shutterstock
Ausräumen, erinnern, versöhnen: Selten sind Töchter ihrer Mutter so nah wie im Moment der Wohnungsauflösung. Dann heißt es, Abschied nehmen.

Dinge, die sie längst vergessen hatte. Mit klammen Fingern streicht sie darüber. Das Tischset aus Leinen, mit Hohlsaumstichen verziert, ordentlich auf Falte gelegt, ein Kleiderbügel dunkelrot umhäkelt, das Obstmesseretui aus Bast. Marlene Brenner* klopft das Herz bis zum Hals. Erinnerungen steigen hoch beim Anblick dieser Gegenstände, vor bald 50 Jahren in der Schule gebastelt und dann der Mutter geschenkt. Nie benutzt, doch gehütet wie ein kostbarer Schatz.

Sie zuckt zusammen wie als Kind, wenn sie etwas Verbotenes tat. Sich heimlich vor der Spiegelkommode auf Mutters Absatzschuhen drehte oder in ihren Wäscheschubladen rumwühlte, auf der Suche nach geheimnisvollen Sachen aus der Welt der Erwachsenen. Immer wieder laufen ihr Tränen übers Gesicht, die Mutter ist zwei Tage vorher an Herzversagen gestorben. Jäh, unerwartet.

Abschied nehmen bedeutet Gefühle sortieren

Marlene erbat sich von ihrem Bruder einen "Vorsprung". Sie wollte allein sein mit den Gedanken an die Mutter, allein an diesem intimen Ort. Einen Tag lang, aufräumen, ausräumen und sich erinnern in den Räumen, in denen die Seife im Bad und die Seidenstrümpfe über der Stuhllehne noch Mutterleben atmeten. Die Mutter für sich haben - was für ein Paradox, nachdem sie im Sarg lag. Weil es das letzte Mal war. Jedes Gefühl, jeden Gedanken bewusst erleben. Abschied. Von der Mutter, der Kindheit. Man hätte sich noch viel zu sagen gehabt.

Die halb geleerte Tasse Pfefferminztee stand auf dem Küchentisch, die aufgeschlagene Fernsehzeitung lag daneben. Als ob die Verstorbene nur eben ins Bad gegangen wäre. "Sieh her", würde sie vielleicht sagen, "alles wie immer." Ferngesehen, ins Bett gegangen, Tee gekocht, wieder ins Bett, friedlich eingeschlafen, der Tochter das Aufräumen überlassen.

Nie war ich meiner Mutter physisch und psychisch so nah.

"Nie war ich meiner Mutter physisch und psychisch so nah", sagt die 57- Jährige, "wie in diesem Moment, als sie gar nicht mehr da war." Es war kein unheimliches Gefühl, sondern ein warmes. Überraschend vertraut sogar, solche Momente hatte Marlene mit ihrer Mutter selten erlebt. Denn im Gegensatz zum kränkelnden, wohlbehüteten Bruder war sie immer total pflegeleicht, "geländegängig" gewesen. Der Vater früh gestorben, da war die Mutter froh, dass die Tochter ihren Weg durch Schule, Studium und Beruf selbständig und unabhängig machte. Und doch hätte Marlene gern "auch einmal gekümmert gekriegt", wie sie als Kind sagte. Sogar Kieselsteine hatte sie geschluckt, um krank und endlich einmal beachtet zu werden.

Fast ehrfürchtig sortierte sie die Wäsche der verstorbenen Mutter. Stille, und doch war ihr, als würde sie von der Mutter begleitet. Sie öffnete Schrank um Schrank und ging die Dinge durch. Wanderschuhe und Strickjacke, deren Geruch sie kannte. Mutterspuren. Sie zog Schublade für Schublade heraus, bis sie erschrak. Bastelsachen aus der Schulzeit, ihre Briefe und Postkarten. Darauf war sie nicht gefasst. Alles, was Marlene ihrer Mutter je geschenkt oder geschickt hatte, kam zum Vorschein. Die Mutter hat sie sorgsam gesammelt, ihre Berichte und Reportagen, alles, was sie als Journalistin je veröffentlicht hatte.

* Name von der Redaktion geändert

Zitternd nahm Marlene die Papiere mit ihrer eigenen Handschrift, mit ihren Worten und Sätzen heraus. Sie schluckte. Jeder Schnipsel dokumentiert, stapelweise mit Bändchen umwickelt, nach Jahrgängen geordnet. Es war wie ein Schaufenster, das einem unerwartet das eigene Spiegelbild zurückwirft. Mehrere Bewerbungen hätte sie damit bestücken können. Sie weint plötzlich haltlos.

Wer ins Elternhaus zurückkehrt, um aufzuräumen, durchlebt Kindheit und Jugend im Zeitraffer und sortiert Gefühle und Beziehung zu den Eltern neu. Die Töchter mit Kleinmädchen-Gefühlen, Wut und Ängsten, mit allen Freuden und Enttäuschungen aus dieser Zeit. "Das Haus der Verstorbenen leer zu räumen verschlimmert die Trauererfahrung und lässt alle ihre Seiten sichtbar werden", schreibt die französische Psychoanalytikerin Lydia Flem in ihrem Buch "Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte". "Wie eine chemische Analyse bringt diese Aufgabe jeden noch so winzigen Partikel unserer Zuneigungen, unserer inneren Konflikte, unserer Enttäuschungen an den Tag."

Warum hatte die Mutter alles aufgehoben?

"Warum hatte die Mutter das alles bloß aufgehoben?", fragte sich Marlene. Ein richtiger Tochter-Schrein. Ohne dass die Mutter auch nur ein einziges Wort darüber verloren hätte. Nie hat sie ihre Tochter gelobt, ihr gesagt, dass sie stolz auf sie sei. Wie gut ihr das getan hätte! "Ich dachte immer, die Mutter interessiert sich gar nicht für das, was ich mache." Dabei war sie zeitlebens stiller Teilhaber am Tochterleben gewesen. Sogar Fotos von Marlenes Familie lagen in Mutters Schubladen, die musste sie heimlich bei Besuchen gemopst haben. Warum hatte sie nicht einfach danach gefragt? Die Tochter kann sich nur schwer einen Reim darauf machen. "Dieses seelische Aneinandervorbeidriften", sagt Marlene Brenner, "diese Missverständnisse und die Sprachlosigkeit sind eigentlich das, was den stärksten Schmerz ausgelöst hat." Warum haben sich Mutter und Tochter einander nicht anvertraut?

Urvertrauen ist ein Grundbedürfnis zwischen Eltern und Kindern, maßlos wie die Liebe. Doch nach dem Tod der Eltern bleibt oft nichts anderes als die Einsicht, dass dieses Bedürfnis zwar hinreichend, aber womöglich nie ideal erfüllt werden konnte. Es hat eine Zeit lang gedauert, bis Marlene sich selbst und der Mutter das fehlende Vertrauen verzeihen konnte. Aber auch wenn keine alten Rechnungen mehr beglichen werden und der Frieden mit der Mutter auf direktem Weg nicht mehr zu machen ist, ist Ausräumen ein erster Schritt auf dem Weg zur Versöhnung.

Abschied nehmen: Ausräumen ist ein erster Schritt zur inneren Versöhnung

Im Gegensatz zu Marlene Brenner ist Marie Sauter*, 44, Lyrikerin, mit ihren älteren Brüdern angerückt, um das Haus der Eltern leer zu räumen. Weniger in der Absicht, sich zu verabschieden, als getrieben von der Angst, etwas zu verpassen oder vielleicht sogar von den Brüdern übervorteilt zu werden. Als spätgeborene und einzige Tochter hatte sie das Gefühl, nicht mehr als ein paar Brosamen und die harte Kruste der Mutterliebe abbekommen zu haben.

Für Vaters Räume waren die Männer zuständig, Marie entschied sich für die Räume der Mutter. Ein letzter Liebesbeweis. Er fiel ihr schwer, sie wäre gern bei beiden gewesen, hätte gern das Tagebuch des Vaters noch einmal durchgeblättert, auch wenn es unbedeutend war und später im Altpapiercontainer landete. Doch wie immer fühlte sie sich der Mutter, depressiv und lebensmüde, wie jene gewesen war, verpflichtet. Wenn auch von dem unguten Gefühl begleitet, der Mutter nicht genügt und selbst nicht genug von ihr bekommen zu haben.

Jetzt brauchte sie dieses kleine, ausgezehrte Frauenleben über den Tod hinaus. Marie hatte das Gefühl, ihre Mutter gegen allzu intime und leichenfledderische Zugriffe von außen schützen zu müssen. Im Geruch des Schlafzimmers der Verstorbenen, mit der handgebügelten Bettwäsche im Schrank, gefaltet und aufeinander gelegt, fühlte sie sich geborgen. Zur Ordnung erzogen, die war ihr vertraut. "Jesu, meine Freude", sie holte die alte, verkratzte Platte heraus und legte sie auf. Bachsche Orgelmusik, für Marie, die Pfarrerstochter, der Inbegriff von Kindheit. So melancholisch, so moraldurchdrungen. Dann räumte sie aus und packte die Gegenstände in Kisten, auf denen "Wegwerfen", "Weitergeben" oder "Aufheben" stand.

Abschied nehmen ist Trauerarbeit

Trauerarbeit mit Hintergedanken. Denn insgeheim suchte sie nach einer Erklärung für Mutters Depression, die sich auch in ihr Leben geschlichen hatte. Hatte die Mutter einer unglücklichen Liebe nachgetrauert, von der sie einmal andeutungsweise erzählt hatte? Marie suchte, verhalten, und fand doch nirgends einen Brief, kein Tagebuch. Sie war enttäuscht, zurückverwiesen auf ihre eigenen Spekulationen. Warum erklärte sich die Mutter nicht wenigstens im Tod? Sie hätte es wissen müssen, dass sie ihrer Tochter dieses Vertrauen schuldig war.

Oder hatte Marie es womöglich nicht verdient? Weil sie sich nicht genug um sie gekümmert hatte? Der Ordner, in dem die Mutter ihren Krankheitsverlauf dokumentierte: War sie einsam gewesen und fühlte sich allein gelassen? Es sei schwer, sich von dem schlechten Gewissen und den Selbstvorwürfen zu lösen, sagt Marie. Dabei hatte sie es ihrer Mutter immer recht machen wollen, sich gekümmert, obwohl es Zeiten gab, da sie die Mutter notwendig gebraucht hätte. Als ihre Ehe schief lief und sie schwanger auf sich allein gestellt war. Keiner da, der ihr half, darüber war sie wütend.

Abschied nehmen bedeutet, auch Neues über die Verstorbene zu lernen

Meine Mutter lebt weiter in mir.

Bei der Auflösung der Wohnung hatte sie das Gefühl, sich holen zu müssen, was sie vorher nicht bekommen hatte. Gegenstände - stellvertretend für Vertrauen und Zuwendung. Also lud sie das Biedermeiersofa ein, auf dem sie als Kind geschlafen hatte, und den Schreibtisch ihrer Mutter. "Aber ich hab ziemlich schnell gemerkt, da steckt's nicht drin." Nicht die bedingungslose Liebe, nicht die Fürsorge oder das Vertrauen. Stattdessen transportierten die Möbel Tradition, Disziplin und Moral. Ein solches Erbe kann auch ersticken.

Banale Dinge sind es, über die sich Marie im Laufe der Zeit ihrer Mutter annähert und sich sogar Schritt für Schritt mit ihr aussöhnt. Ein Zettel mit ihrer Handschrift - gibt es etwas Persönlicheres? -, der aus ihren Büchern fiel, als Marie sie auf dem Flohmarkt verscherbelte. Eine Reiseerzählung der Mutter. Und die plötzliche Erkenntnis: Die Mutter hätte gern geschrieben. Aber sie musste zurückstecken, zuerst der Krieg, dann als Pfarrersfrau mit vier Kindern. Sie hatte keine Wahl, die spätgeborene Tochter bekam ihre Unzufriedenheit zu spüren. Marie ahnt, dass sie, die Autorin, statt ihrer Mutter, aber auch für ihre Mutter jetzt schreibt. "Meine Mutter lebt weiter in mir - schön, doch manchmal auch Besorgnis erregend."

Briefe, Fotos, Dias, auch Vasen, Geschirr und Silber aus ihrer Kindheit hat Marie in einem Keller zwischengelagert. In Kisten, die sie bisher nicht wieder geöffnet hat, "weil ich Angst habe, überflutet zu werden". Denn es sind die alltäglichen Dinge, die plötzlich schwer wiegen, weil sie einen vor die Frage stellen: Was sind die Eltern den Kindern und was die Kinder den Eltern schuldig geblieben - oder eben auch nicht? Respekt, Liebe, Verständnis, das Bemühen darum?

Meine Eltern fehlen mir so.

Eine Wohnung ist schnell aufgelöst, der Ablösungsprozess zwischen Eltern und Kindern kann dauern. "Meine Eltern fehlen mir so." Sonja Thaler*, 52, Lehrerin, die vor neun Jahren mit dem Gefühl "Das Leben muss ja weitergehen" ihr Elternhaus ausräumte, trauert bis heute. Ihr Sohn ist aus dem Haus, der Beruf reibt sie auf, wie gut könnte sie dieses "Zuhause" jetzt brauchen. Aber es gibt keine Mutter mehr, die bemuttert, Hühnersuppe kocht und einen mit einer Wärmflasche ins Bett packt. Stattdessen Verlassenheit. Ein Gefühl, mit dem man leben lernen muss. Denn einen Teil der Sicherheit und des Fundaments, auf das man sein Leben gründet, nehmen die Eltern mit ins Grab.

Das Haus, die Wohnung der Mutter ausräumen weist einen Weg zurück in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft. "Jetzt ist keiner mehr da, der einem den Blick aufs Grab verstellt", sagt Marlene Brenner. Der frühe Tod des Vater war ebenfalls sehr schmerzhaft. "Aber damals startete ich gerade ins Leben. Die Zukunft war voller Verheißungen." Und jetzt? Deutlich und begrenzt liegt das eigene Leben vor einem.

Die Fragen, die Marlene ihrer Mutter nie stellte, weil diese keine Antwort darauf gehabt hätte, beantwortet sie sich nun selbst. Die Mutter hat ihre Pflicht getan. Zuwendung bedeutete für sie, dafür zu sorgen, dass die Tochter einen warmen Wintermantel trug. Vertrauen, dass sie ihr zutraute, mit Schule oder Liebeskummer allein fertig zu werden. Auch eine Form von Mutterliebe. Zumal in der Nachkriegszeit, als die äußeren Lebensbedingungen hart waren und das Bedürfnis, sich mit Emotionen auseinander zu setzen, gar nicht erst aufkommen ließen.

"Ich glaube, meine Mutter kannte nicht einmal das Wort Psychologie", sagt Marlene Brenner, "und schon gar nicht, welchen Schaden eine Seele nehmen kann."

Abschied nehmen: Hinterlassenschaften sind Erinnerungen an die nachfolgende Generation

Jetzt ist Marlene dran, auch Töchter haben Töchter. Wie steht es mit dem Vertrauen zwischen ihr und ihrer Tochter? Was wird die einmal zu dem ganzen Krempel sagen, den die Mutter ihr hinterlässt? Welche Erinnerungen auspacken? Auch das geht ihr in der Wohnung der Verstorbenen durch den Kopf.

Marlene hat viel von den Dingen ihrer Mutter ans Rote Kreuz verschenkt. Nur die Fotos sind ihr heilig. Es sind nicht mehr als eine Hand voll, ihre Eltern waren Kriegsflüchtlinge, Fotos ein Luxus. Deshalb haben sie heute einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung. Silbergerahmt, um die Seele zu wärmen. Die Mutter schaut, als wolle sie sich in Erinnerung bringen und rufen: "Hallo, hier bin ich." Das ist schön, wäre aber nicht nötig, sagt Marlene Brenner. "Seit ich ihre Wohnung ausgeräumt habe, sitzt mir meine Mutter nicht mehr wie früher in den Knochen, sondern im Herzen."

Buchtipps: Lydia Flem: "Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte", 128 S., 16,80 Euro, Schirmer Graf Sylvia Frey Werlen: "Seelenfenster. Vom Sterben der Eltern und der Chance, ihnen dabei neu zu begegnen", 191 S., 17 Euro, Karpfen Angelika Overath: "Nahe Tage - Roman in einer Nacht", 160 S., 16 Euro, Wallstein-Verlag Ingrid Strobl: "Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt", 268 S., 9,90 Euro, Fischer

Text: Marianne Mösle

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