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Freiheit für die Dinge

Gae Aulenti revolutionierte das Design in den 60ern, das Bühnenbild des italienischen Theaters in den 70ern und die Museumsarchitektur in den 80ern - eine visionäre Gestalterin.

"Ich bin morgens noch nie mit einer genialen Idee aufgewacht", sagt Gae Aulenti. "Ich muss mein ,Sujet' von Grund auf studieren." Sich in die Tiefe stürzen, betrachten, refl ektieren: Sie liebt diesen Prozess, der lange vor einem Entwurf anfängt. Gae Aulenti will den Dingen auf den Grund gehen, deren innere Logik begreifen - und sie mit ihren Entwürfen sichtbar werden lassen. "Wenn ich morgen den Auftrag bekäme, einen Flughafen zu entwerfen", sagt sie, "wäre ich wahrscheinlich schon bald Expertin in der Geschichte der Luftfahrt." Expertin für Theater, Licht und moderne Kunst ist sie nämlich schon.

Angefangen hat alles mit einer Revolte. "Meine Eltern wollten, dass ich ein dilettantisches, aber nettes Mädchen der Gesellschaft werde", erzählt Gae Aulenti, "aber ich habe rebelliert." Ein ganzes Leben lang. Die große alte Dame der italienischen Architektur strotzt nur so vor Durchsetzungsvermögen und Ideen. Sie ist eine, die sich durchgebissen, Widerstände aus dem Weg geräumt und Mauern eingerissen hat. Eine, die gegen die übermächtige männliche Konkurrenz in den Architekturbüros und Designstudios mit Klugheit angetreten ist - und mit Witz. Trotzdem ist Gae Aulenti keine Feministin, nie gewesen. Ein Freigeist schon eher.

Gae Aulenti hatte schon immer ihren eigenen Kopf

Frauen sollten sich nicht ständig als Minderheit betrachten, sagte sie einmal, "das lähmt das Denken". Sie hatte eben schon immer ihren eigenen Kopf. Dickkopf, hätte wohl ihr Vater, ein Kaufmann aus Udine, dazu gesagt. Gegen seinen Willen schrieb sich Gae Aulenti für das Architekturstudium an der Polytechnischen Hochschule in Mailand ein. Mit Mitte 20 machte sie ihr Diplom - als eine von zwei Frauen. Bei "Casabella Continuità", in den 50er und 60er Jahren das führende Magazin für Architektur und Design in Italien, wurde sie zunächst Redakteurin und später Art-Direktorin. "Wir hatten endlose Diskussionen über die Zukunft der italienischen Architektur", erinnert sich Gae Aulenti. Es ging um nicht weniger als die Emanzipation vom Bauhaus, aber auch von der faschistischen Architektur Mussolinis. Es ging um die Philosophie der Gestaltung und um visionäre Formgebung. "Wir wollten unsere eigene Identität finden", sagt sie. Die kleine Frau mit den kurz geschnittenen dicken grauen Haaren und der melodiösen Reibeisenstimme schätzt Unabhängigkeit - besonders im Denken.

Aber irgendwann Mitte der 60er Jahre hatte Gae Aulenti von der bloßen Theorie genug. Sie wollte entwerfen. Mailand war damals die internationale Designmetropole, ein Schmelztiegel von Architekten und Designern aus aller Welt. Und Gae Aulenti die Königin der Avantgarde. Sie war ihre Vordenkerin. Angesagte Designfirmen wie Zanotta, Kartell und Poltronova rissen sich um ihre Entwürfe, die meistens schlicht, aber immer mit einem Augenzwinkern daherkamen.

Die Entwürfe von Gae Aulenti sind gegenwärtig - und zeitlos

Als sie für Fontana Arte einen mobilen Couchtisch entwerfen sollte, montierte sie einfach eine Glasplatte auf vier riesige Räder. Ihre Leuchten - allen voran die "Pipistrello", die eher einer Skulptur als einer Lampe gleicht - zählen längst zu den begehrten Designklassikern. Gae Aulenti mag keinem Stil zugeordnet werden. Das Wort "stillos" in seiner ureigenen Bedeutung gefällt ihr da schon wesentlich besser. "Ich bin nicht post, nicht neo, nicht modern, ich bin zeitgenössisch. Punkt." Ihre Entwürfe sind jedenfalls niemals modisch. Sie appellieren an das Harmoniebedürfnis der Menschen, "eine Sehnsucht, die vielleicht doch nur eine Utopie ist", sagt sie nachdenklich.

Ihr Büro an der Piazza San Marco in Mailand ist ein Ort der Inspiration, bis obenhin voll gestopft mit Büchern über Kunstgeschichte, Malerei, Musik, Literatur. Im selben Haus hat Verdi auch sein berühmtes Requiem geschrieben. "Kultur ist die Nahrung für meine Intuition", sagt sie. Kein Wunder also, dass das Entwerfen von Bühnenbildern für die großen Opernhäuser Europas eine ihrer Lieblingsaufgaben war, für Alban Bergs "Wozzeck" an der Mailänder Scala zum Beispiel oder Rossinis "Il Viaggio a Reims" an der Wiener Staatsoper.

In den 70er und 80er Jahren machte sich Gae Aulenti einen Namen als Architektin. Sie wurde eine der besten. Eine, die vor allem den Umgang mit historischen Gebäuden beherrscht. 1980 gewann sie den Zuschlag für die Umgestaltung des Pariser Bahnhofs Gare d'Orsay in ein Museum für die Kunst des 19. Jahrhunderts. Bald folgten andere spektakuläre Projekte: die Neugestaltung des Museums für Moderne Kunst im Pariser Centre Pompidou zum Beispiel und des Palazzo Grassi in Venedig - und natürlich der Wiederaufbau des Gran Teatro La Fenice in Venedig nach dem Brand von 1996. Zur Zeit arbeitet sie an einem Entwurf für eine Mailänder Bibliothek. "Dass mein Kopf noch so gut funktioniert, liegt daran, dass ich so viel zu tun habe", erzählt Aulenti, die immer noch täglich in ihrem Mailänder Studio arbeitet. "Das hört auch mit 81 Jahren nicht auf, genauso wenig wie das Träumen." Zum Beispiel davon, noch einmal eine Stadt zu entwerfen. "Na ja", sagt sie dann, "es darf auch eine kleine sein."

Text: Uta Abendroth Foto: Rufen Afanador

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