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Die Haare abschneiden?

Sabine Reichel hatte (fast) immer lange Haare. Mit einer Mischung aus Mut, Skepsis und Lust auf Veränderung entschied sich unsere Autorin, die Haare abschneiden zu lassen.

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In der Nacht vor dem Schnitt wachte ich schweißgebadet aus einem Albtraum auf: Ich hatte darin eine Frisur wie Königin Beatrix und wollte mir naturgemäß das Leben nehmen! Vorsichtig tastete ich meinen Kopf ab - mein langes Haar war zum Glück noch dran. Doch nicht mehr lange. Schließich hatte ich es BRIGITTE WOMAN versprochen, so wie eine Prinzessin dem Zauberer in Grimms Märchen. Am nächsten Morgen sollte es ab.

"Dein Haar ist so lang!", hatte meine beste Freundin gesagt und war sich dabei vielsagend durch ihre "praktische" kinnkurze Frisur gefahren. Ich kannte das Thema. "Zu lang", wollte sie eigentlich sagen, mit dem Zusatz "für dein Alter". Natürlich eine Frechheit, denn ich bin erst 59!

Sind lange Haare tatsächlich eine Frage des Alters? Sollte man sie ab einem bestimmten Stichtag in der eigenen Biografie lieber kurz und praktisch tragen? Darüber wird gern lang und breit diskutiert. Doch Frisuren sind auch immer Familiengeschichten. Warum sollte jemand kurze Haare haben und kühle Effizienz ausstrahlen wollen wie Sabine Christiansen oder Pragmatismus wie Angela Merkel, egal in welchem Alter? Haare sind sexy, Haare sind schön und lebendig, sie knistern und glänzen, laden zum Wühlen ein und fließen natürlich über Schultern - wenn man sie lässt.

Haare abschneiden = ein neues Image?

Was würde mir wohl mit kürzeren Haaren widerfahren? Möglicherweise ein völlig neues Image? Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich gehöre nun mal zur Original-Hippie-kurze-Röcke-lange-Haare-Generation, für die alle Friseure und Haarschnitte Horror waren und "anständige" Frisuren das Spießigste überhaupt. Nein, ich wollte nicht wirklich von meinem alten Image lassen oder "meinen" Typ verändern. Seit 30 Jahren habe ich fast durchgehend lange Haare. Und eigentlich sollte das auch so bleiben.

Aber ich sah durchaus die Gefahr. Sehr oft bleibt man an seiner Frisur so kleben wie an einem Freund, obwohl die Spannung längst weg ist und alles nur leblos hängt. Sollte die Beziehung zwischen mir und meinem Haar so enden? Nein. Das Thema begann mich zu beschäftigen.

Es war nicht das erste Mal in meinem Leben. Haare waren immer wieder hitzige bis ideologische Diskussionen wert gewesen, wie wahrscheinlich für viele Frauen meiner Generation. Dabei begann alles so unkompliziert: In den 50er Jahren überließ man Haare, Frisuren und Geschmack dem Frisör um die Ecke, dafür war er schließlich da. In den Läden stank es nach Ammoniak, die Frisörmeisterin im türkisfarbenen Kittel wedelte mit dem Frisierumhang, Kundinnen blätterten in "Film und Frau"-Magazinen, die Trockenhauben verbreiteten tropische Hitze und Flughafengeräusche. Meine Mutter war nicht ganz der Frisörtyp. Sie hatte über die Schulter fallendes langes Haar mit blonden Strähnen, das sie oft selbst wusch, meist zu einer schicken Hochfrisur aufsteckte und so Weiblichkeit und Eleganz pur darstellte. Normale Mütter mochten es praktisch und gingen alle 14 Tage zur Kaltwelle. Die Jungs kriegten Meckifrisuren oder den gemäßigten Militärschnitt mit scharfem Seitenscheitel, Vati den Fassonschnitt.

Haare abschneiden oder lieber wachsen lassen?

Bei uns Mädchen waren Variationen möglich. Als wir klein waren, gab's den niedlichen ohrkurzen Bubikopf, als Schulkind waren Zöpfe, Affenschaukel und Pferdeschwanz möglich. Doch dann, als Teenager, ging unerbittlich das Theater um eine modische Frisur los und damit das heiße Thema: kurz oder lang?

Als 14-Jährige im Jahre 1961 hatte man nicht wirklich schicke Vorbilder in der Helmfrisuren-Riege der heimatlichen Idole. Teenagerstars wie Connie, Dorthe oder Gitte waren nichts für mich. Ich fühlte mich mehr der Existenzialistenmode zugetan und wollte entweder ganz kurz oder ganz lang und mit Pony und Mittelscheitel - landete aber bei jedem Friseurbesuch (inzwischen mit "eu") irgendwie dazwischen. So entschied ich mich, selbst Hand anzulegen und mir mit einer Rasierklinge einen Raspelschnitt wie die amerikanische Schauspielerin Jean Seberg zu schnippeln. "Du siehst aus wie ein Junge", sagte mein Vater knapp. Fein, denn so entging ich dem Schicksal meiner Schwester, deren Klassenkameradin Gerda eine Ausbildung zur Friseurin machte. Sie stellte sich als Modell zur Verfügung und musste so monatelang unter abenteuerlichen Experimenten mit dem gerade erfundenen Haarfestiger und dem marterähnlichen Toupierkamm leiden. Ich dagegen strubbelte mir nur kurz die Haare und fertig.

Wie sich herausstellen sollte, lebte ich genau im richtigen Jahrzehnt. Schließlich befreiten die 60er und frühen 70er Jahre entgegen allen Behauptungen nicht so sehr den vermurksten Geist und die bürgerliche Moral, sondern vor allem das Haar, das immerhin in einem gleichnamigen Musical der Star war. Endlich wuchsen in voller Fülle bei Männern und Frauen gleichermaßen die Haare ohne lästige Einmischung der Haarartisten. Das Friseurgewerbe beklagte den Untergang der Frisur als solche und kriegte nur noch vereinzelte Traditionalisten unter die Trockenhaube. Eines Tages allerdings auch mich. Viele, die als junge Frau in den frühen 70er Jahre gelebt haben, erinnern sich an das urplötzliche Begehren nach riesiger Lockenpracht, das so stark war, dass man zum nächsten Friseurladen um die Ecke lief, zwischen erstaunten Damen Platz nahm und sich dem anstrengenden und stinkenden Prozess der frühen Dauerwelle unterwarf. Mit den unausgekämmten Hippiehaaren im Rauschegoldengel-Stil hatte man endlich dem Establishment ein Schnippchen geschlagen. Es sollte nicht das letze Mal gewesen sein.

Genau wie viele wissen, zu welcher Musik sie erstmals Sex hatten, so erinnern sich viele auch bei wichtigen Erlebnissen an ihre Frisuren - schließlich waren die oft gesellschaftliches Statement. Erstes Rolling-Stones-Konzert: langer Zopf unter afghanischem Käppi; Hochzeit bei der besten Freundin: Farrah-Fawcett-Frisur. Ich weiß tatsächlich noch, wie ich meine Haare trug, als ich "Revolver" zum ersten Mal hörte: sehr lang mit blonden Strähnen. Und leider, leider führt kein Weg an der düsteren Disco-Phase der 80er Jahre vorbei, der ich trotz starker innerer Warnsignale nicht entfliehen konnte. Ich schnippelte und schnippelte, und plötzlich war da der Stufenschnitt, oben ziemlich kurz, unten ganz lang: der klassische Vokuhila. Es folgte eine lange Mützenzeit, und ab dann war ich von der Experimentierwut kuriert. Es gab für mich nur noch die schöne lange gewellte 40er-Jahre-Frisur, mit Seitenscheitel, die dann mit 54 Jahren dem Mittelscheitel-Pony-Klassiker wich.

Haare abschneiden - ein letzter Gruß zum Spiegelbild

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Diese Frisur trug ich denn auch, als ich nervös bei der BRIGITTE WOMAN-Hairstylistin Platz nahm. Ein letzter Gruß zum langhaarigen Spiegelbild, dann senkte ich den Blick und beobachtete misstrauisch aus den Augenwinkeln, wie die abgeschnittenen Strähnen Herbstblättern gleich gen Boden taumelten. Wie in Frida Kahlos Selbstporträt mit den abgeschnittenen Haaren. Sie hat Tränen in den Augen. Als ich endlich wagte, erneut in den Spiegel zu gucken, sah mir zwar keine brandneue Frau entgegen - trotzdem fühlte ich mich, als könne ich mich mit dieser praktischen, ja, irgendwie echten Frauen-Frisur von nun an überall souverän durchsetzen. Frisch gestylt fieberte ich dem Test-Termin mit meiner Freundin entgegen. "Du siehst erwachsen aus. Endlich!", meinte sie. "Und nicht wie Beatrix." Erleichterung! Der Freund ihrer Tochter war auch da und murmelte die magischen Worte: "Irgendwie frischer und jünger." Danke, mehr wollte ich gar nicht hören!

Fotos: Michael Neumann Produktion: Bénédicte Mohr

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