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Von Danzig bis nach Riga: Radtour an der Ostsee

Von Danzig bis nach Riga: Radtour an der Ostsee
© pratan/shutterstock
Eine Radtour an der Ostsee: Die Landschaft zwischen dem polnischen Danzig und dem lettischen Riga ist wunderschön. Aber kann man sie auch genießen, wenn man die 550 Kilometer mit dem Rad fährt?

Eigentlich fürchte ich mich nicht vor Männern. Aber vor Frank und Hartmut habe ich Angst. Die beiden sehen mit ihren über 70 Jahren ziemlich harmlos aus, doch bei unserer Vorstellungsrunde im Danziger Hotel offenbaren sie sich. Ganz beiläufig erzählen die beiden Hobbyradler, wo überall auf der Welt sie schon auf Tour waren: Uganda, Senegal, Südafrika (Frank aus Berlin), Nordkap, über die Alpen und eben mal nachts von Niedersachsen nach Berlin (Hartmut aus Soltau). Worauf habe ich mich hier eigentlich eingelassen? Meine Radtour-Erfahrungen sind eher lokal, meine Kondition ist mäßig. Egal, ich vertraue auf das Versprechen von Tourguide Peter, alle aus der elfköpfigen Gruppe gut gelaunt von Danzig nach Riga zu führen. Und auf das E-Bike, das ich mir ausgesucht habe.

Tagsüber hat es so entspannt angefangen. Meine Freundin Sabine und ich schlenderten durch Danzig. Jetzt, im Sommer, ist es warm. Die Sonne scheint, und Gdansk, wie die Stadt auf Polnisch heißt, füllt sich mit fröhlichen Menschen. Eine Ferienprozession drängt sich über die Hafenmole, Softeis in der einen Hand, Mann, Freund oder Kind an der anderen. In den Lokalen an der Motlawa summt es, auf dem Wasser kreuzen Boote, die zu den Ostseestränden fahren. Auf Yachten feiern Jugendliche Partys. Wir bummeln an Patrizierhäusern vorbei, die in der Langgasse wie Bewerberinnen für einen Schönheitspreis nebeneinanderstehen. Tore führen in Kopfsteinpflastergassen, zu kleinen Secondhand-Shops, zu Cafés mit selbst gemachtem Kuchen. In der Frauengasse drängt sich ein Bernstein-Laden neben dem anderen.

Überall ertönt Musik in der alten Hansestadt, Geigen-und Harfenklänge, die Bässe einer E-Gitarre. Es sind Studenten, die sich solo oder als Miniband ein paar Zlotys verdienen und uns - schöner Auftakt für unsere große Fahrt - in Hochstimmung versetzen.

Hunde kläffen, als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg machen. Rund 550 Kilometer werden wir in zwölf Tagen radeln, durch vier Länder: Polen, die russische Exklave Kaliningrad, Litauen und Lettland.

Sobald wir Danzig hinter uns gelassen haben, versinke ich in der Landschaft. Ringsum Wiesen mit Klatschmohn, der sich im Wind wiegt, und Weizenfelder, so weit das Auge reicht. Wir radeln vor-bei an Storchennestern, in denen der Nachwuchs mit hungrigen Schnäbeln auf die Eltern wartet. Durch Dörfer, in denen die Zeit nicht zu vergehen scheint. Hinter Holzfensterläden hängen Spitzengardinen, an grauen Hauswänden blühen Stockrosen.

Der alte Hafen von Danzig, das Städtchen Frombork & radeln auf der Kurischen Nehrung
Der alte Hafen von Danzig, das Städtchen Frombork & radeln auf der Kurischen Nehrung
© Sabine Steputat

Die meisten Dächer sind krumm und schief. In den Gärten wachsen Kohl und Möhren, Gurken, Petersilie. Wer es zu etwas Geld gebracht hat, schmückt seine Garageneinfahrt mit Pflastersteinen und den Vorgarten mit Rasen und Koniferen. Unsere Wege sind mal Schotter-und Buckelpisten, mal alte Panzerstraßen, unzählige Schlaglöcher inklusive. "Hallo Deutschland", ruft uns ein Mann mit nacktem Oberkörper über den Zaun zu und winkt so lange, bis wir in einem Wäldchen verschwunden sind.

Meine Angst, Frank und Hartmut könnten ein Tempo vorlegen, das mich zur Schnappatmung zwingt, erweist sich schon in den ersten Tagen als unbegründet. Ganz im Gegenteil. Frank plaudert so amüsant auf der Fahrt über sein Leben und seine Lieben, dass ich alle Anstrengungen vergesse. Hartmut prescht nie vor und gibt mir Tipps, wie ich beim Fahren meine Kräfte schonen kann. Auch die anderen Mitradler, zwei Paare aus Nord- und Süddeutschland, Bruder und Schwester aus Hamburg und eine Single-Frau aus dem Rheinland, sind Teamplayer und passen sich dem Gruppenrhythmus an. Wenn hier überhaupt jemand zickt, dann ist es mein Rad, meine "Gazelle", wie sie sich auf ihrem schwarzen Rahmen nennt. Bei Gegenwind hört dieses E-Bike gern mal auf, mich anzuschubsen, und lässt mich ordentlich strampeln.

Dass alle bei guter Laune bleiben, liegt auch an Arnim, unserem zweiten Reiseleiter. Er macht die besten Picknicks zwischen Ural und Pommerscher Bucht und erzählt uns Anekdoten und Geschichten. Wie in Nida (Nidden), dem bekannten Badeort auf der Kurischen Nehrung mit ihrer saharagleichen Dünenlandschaft, wo wir das Sommerhaus von Thomas Mann besuchen. Es ist ein Holzhaus mit Traumblick auf das Haff. In einer kleinen Kammer unterm Reetdach schrieb der Nobelpreisträger an "Joseph und seine Brüder". Er war mit seiner Familie Anfang der dreißiger Jahre nur dreimal hier, bevor er in die Schweiz emigrierte. Danach fiel das Haus Hermann Göring in die Hände.

Deutsche Geschichte begleitet uns fast überall auf unserer Vier-Länder-Tour. Wir fahren über die alte Reichsstraße von Elblag (Elbing) zur Sommerresidenz des letzten deutschen Kaisers bei Kadyny (Cadinen), einem bescheidenen Herrenhaus mit kleinem Park, das nicht besichtigt werden kann. Wir erkunden Frombork (Frauenburg), ein Städtchen mit Dom in nordischer Backsteingotik. Neben einer Säule liegt das Grab von Nikolaus Kopernikus, eine goldene Madonna lächelt wie eine Königin hinab auf die Besucher. Wir klettern den Glockenturm hinauf und werden belohnt mit einem Blick auf das Frische Haff. Ich muss an die tausende Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten denken, die am Ende des Zweiten Weltkrieges hier elendig auf dem Eis erfroren oder im Bombenhagel der russischen Armee starben.

Haus in Nida & ein gedeckter Picknicktisch
Haus in Nida & ein gedeckter Picknicktisch
© Sabine Steputat

Wir sind keine Heimweh-Touristen. Keiner von uns sucht hier Spuren seiner Familie. Doch als wir durch das ehemalige Ostpreußen fahren, über diese langen Alleen, die uns mit ihren grünen Armen voller Eichenlaub vor der Sonne beschützen, über uns der Himmel, so blau und hoch wie nirgendwo auf der Welt, da kann ich den Schmerz der Vertriebenen besser verstehen.

In ihrem Buch "Bilder, die langsam verblassen" schrieb Marion Gräfin Dönhoff, die in Ostpreußen auf einem Gut aufwuchs und alles verlor: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der höchste Grad der Liebe zur Heimat dadurch dokumentiert wird, dass man sich in Hass verrennt gegen diejenigen, die sie in Besitz genommen haben, und dass man jene verleumdet, die einer Versöhnung zustimmen." Wenn sie an Ostpreußen denke, dann sei sie sich sicher, dass es noch genauso unvergleichlich schön sei wie damals, als es ihre Heimat war. "Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: zu lieben, ohne zu besitzen."

Kaliningrad ist ziemlich hässlich. Hohe Betonbauten aus der Sowjetzeit bröseln mehr oder weniger vor sich hin. Und dort, wo das alte Königsberger Schloss stand, ragt ein Geisterhaus, das "Dom Sowjetow", in den grauen Himmel. In den siebziger Jahren sollte hier die Stadtverwaltung einziehen, doch schon während der Bauzeit drohte der Komplex einzustürzen. Die russische Regierung habe bereits vor Jahren versprochen, das Schloss wiederaufzubauen, hören wir von Tamara, unserer Reisebegleiterin in der russischen Exklave. "Uns geht es hier eigentlich gut", sagt die ehemalige Ingenieurin, "wir können nicht klagen. Im übrigen Russland ist so viel mehr Wehmut und Armut."

An Lebensmitteln mangelt es in Kaliningrad nicht. Im Supermarkt Viktoria türmen sich Melonen, Tomaten und Kirschen. Würste und frisch geschlachtete Hühner liegen auf der Fleischtheke. Brot kommt duftend aus dem Ofen. In meinem Warenkorb landet eine Saunamütze für Männer mit rotem Sowjetstern und ein Klatschheft: Auf dem Titelblatt lächelt Putin, der "schönste Bräutigam Russlands".

Wir sind froh, Kaliningrad zu verlassen. Freuen uns über die nahe Ostsee, die in hohen Wellen an lange Sandstrände rollt, und auf das Städtchen Klaipeda (Memel) in Litauen. Letzte Sonnenstrahlen begleiten uns auf der Fähre, die uns in die Hafenstadt bringt.

Studenten sitzen draußen vor alten Speichern am Fluss Dane, ziehen lachend vorbei am Ännchen-von-Tharau-Brunnen am Theaterplatz und weiter durch die Gassen der Altstadt, von Fachwerkhäusern gesäumt. In der Friedrichspassage gibt es nach 19 Uhr keinen Platz mehr in den Lokalen, die Gäste sitzen Ellbogen an Ellbogen, während deftige Kost auf den Tischen steht: Teigtaschen mit Pilzen, Kartoffelklöße mit Fleischfüllung. Dazu ein frisch gezapftes Svyturys, ein Bier aus einer der ältesten Brauereien der Stadt.

Kaliningrads Strandpromenade & das Rigaer Nachtleben
Kaliningrads Strandpromenade & das Rigaer Nachtleben
© Sabine Steputat

Es sind aber eher die stillen Momente, die diese Tour so einmalig machen. Wenn wir mit roten Köpfen irgendwo in der Natur sitzen und unsere Beine ausstrecken, auf einer Wiese, betupft mit dem Blau der Kornblumen, dem Pink der wilden Wicken. An Seen, wo das Schilf leise raschelt und ein Fasan aus der Deckung flattert.

Wenn uns eine Dorfkirche aufgeschlossen wird und wir vor dem Altar knien, der liebevoll mit Heiligenbildchen und Kerzen geschmückt ist. Wenn wir durch Wälder rollen, wo an Lichtungen schon mal ein Autofahrer steht, um mit Cappuccino für Radler und Wanderer ein kleines Geschäft zu machen. Wenn wir den "Berg der Kreuze" besteigen, ein nationales Heiligtum im katholischen Litauen. Ein Hügel mit ungezählten Kruzifixen, ein Dickicht aus Holz und Eisen, aus Plastik und Radfelgen, über und über behängt mit Rosenkränzen und Papierblumen. Jedes eine Fürbitte, ein Wunsch, ein Dank, eine Abbitte. Unter sowjetischer Besatzung wälzten Planierraupen alles nieder. Einige Nächte später waren die ersten Kreuze wieder auferstanden.

Riga feiert. Das Leben. Den Sommer. Die Bars und Kneipen haben ihre Fenster geöffnet, Musik schallt heraus, Pop und Jazz, Folk und Blues. Wir steuern den Livenplatz an, auf dem große Zelte aufgebaut sind wie in einem Biergarten. In einem spielt eine Rockabilly-Band ihre schnellen Rhythmen, über den Holztisch rutschen Bierkrüge in unsere Richtung. Ein Schluck, und schon schnappt sich Sabine den lachenden Frank, sie fegen im Discofox über die Tanzfläche. Eigentlich wollten wir weiterziehen, zu den schnörkeligen Jugendstilhäusern. Aber jetzt schalten wir einfach einen Gang runter und bleiben. Klatschen und rocken und feiern mit.

Gut zu wissen

Die geführte Fahrradreise wird vom Radreisespezialisten "Die Landpartie" (Tel. 04 41/570 68 30, www.dielandpartie.de) in Zusammenarbeit mit dem ADFC angeboten. Sie ist Teil einer außergewöhnlichen Tour von Hamburg nach St. Petersburg: 1. Abschnitt: Hamburg - Danzig 2. Abschnitt: Danzig - Riga 3. Abschnitt: Riga - St. Petersburg

Die Abschnitte können auch einzeln gebucht werden. Die Unterkünfte sind meist schlicht, das Gepäck wird befördert, ein Begleitbus sammelt müde Radler ein.

Tagesetappen: zwischen 33 und 75 Kilometern.

Text: Anna M. Löfken Fotos: Sabine Steputat BRIGITTE WOMAN 06/2014

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