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Kaiserschmarren und Karpfen blau

Ein Fotograf und eine Reporterin fahren quer durch Deutschland, klingeln an fremden Haustüren, fragen die Menschen, die dort wohnen, nach ihrem Lieblingsrezept - und machen daraus ein Buch.

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Leider kann ich nicht behaupten, dass es meine Idee war - dafür ist sie zu gewagt. Eines Tages kam mein Sandkastenfreund Markus Schmidt zu Besuch und legte ein dickes Buch auf den Tisch. "African Salad" hieß es, sein Freund und Partner Stephan Le Roux aus Kapstadt hatte es konzipiert. In dem Buch waren große Fotografien von Menschen, Häusern und Küchen in Südafrika. Und von Hand geschriebene Rezepte. "Stell dir vor", sagte er, "Stan, der Fotograf, ist anderthalb Jahre durchs Land gefahren, hat an 120 fremden Türen geklingelt und die Leute einfach nach ihren Lieblingsrezepten gefragt." So sei Stan Engelbrecht von den ärmsten Hütten bis in die Küchen bewachter Villen gekommen.

Markus zeigte auf das breit lachende und mit Dreck verschmierte Gesicht einer Frau namens Miriam Moeletsane. Sie stand vor einer erdroten Hütte am Fuß eines Tafelbergs, unter dem diesig-blauen Himmel Südafrikas. Innen ein sauber aufgeräumter Raum mit Lehmboden, Feuerstelle und einem einzigen durchgesessenen Gartenstuhl. Hier kochte Miriam Moeletsane wohl täglich "Sotho Pumpkin Moroho", einen Kürbisbrei.

In den Bildern lag sehr viel Wärme. Wie schön, dachte ich, während ich über die Seiten von "African Salad" streichelte, und sagte, dass man eine Vorstellung bekomme von den Menschen, ihrem Leben und ihrem Land. "Toll, oder?!", rief Markus, und seine Nasenflügel blähten sich leicht, wie immer, wenn er eine Idee gerochen hat. "Meinst du, das geht auch in Deutschland?", fragte er beiläufig. Ich ahnte, er hatte mir das Buch nicht ohne Grund geschenkt. Markus ist Werber. Werber verkaufen einzelne Sätze. Für mehrere Sätze - Bücher gar - sind sie nicht zuständig. Aber in diesem Buch standen mehrere Sätze. Kleine, unterhaltsame Texte über das Leben der Menschen. Und für Markus war ich die Fachfrau für das Verfassen von mehreren Sätzen. Also antwortete ich im Expertentonfall: "Theoretisch geht das in jedem Land der Erde."

Querschnitt durch das deutsche Essen

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Und dachte: Es wäre Wahnsinn. Es würde irre viel Zeit und Geld kosten. Man müsste einen Querschnitt zeigen, durch alle Regionen, Kulturen, Schichten. Der Fotograf und eine Reporterin müssten wochenlang herumfahren - schließlich öffnet nicht jeder zwei Fremden die Tür und lässt sich fotografieren. Und dann die Reisekosten. Die Honorare für Schreiber und Fotograf. Die Redaktion. Der aufwändige Druck. Kein Buchverlag würde so etwas bezahlen. Ich blätterte durch die glänzenden Seiten, zupfte am Schmuckband und schwieg. "Genau so haben wir uns das gedacht!", rief Markus. "Wir machen alles selbst, gedruckt wird in Singapur, da ist es günstig, und DU textest!"

Als ich den Fotografen Stan Engelbrecht zum ersten Mal traf, einen sanft lächelnden Blonden mit Tattoos und Löchern in der Jeans, aßen wir Hühnchen in Ingwer. Einen kurzen Moment hatte ich fantasiert, ob ich mein Baby und meinen kleinen Sohn in ein Wohnmobil packen und mit diesem fremden Mann zehn Wochen durch Deutschland gondeln sollte. Stan konnte ja gar nicht mit den Leuten hier reden, er sprach nur Englisch und Afrikaans. Aber dann fragten wir lieber Dagmar Hoetzel, eine Berliner Architektin, die mit dem Produzenten von "African Salad" befreundet war. Der Plan: Dagmar fährt mit Stan herum, in ihrem 20 Jahre alten Golf. Sie hat ein Auge für gute Häuser. Sie klingelt und spricht mit den Bewohnern. Stan macht Fotos. Ich schreibe auf, was die beiden mir berichten. Beim dritten Glas Wein hob ich den Zeigefinger und sagte streng, das sei aber ein verdammt blauäugiges Projekt! Und noch dazu im Selbstverlag! Da lachte Stan mich an und erklärte: "In Südafrika haben wir es per Internet verkauft, und es wurde ein Superseller, den sie sogar Staatsgästen schenken. Lass uns doch erst mal machen!" Darauf antwortete ich nichts mehr. Sondern schämte mich fast ein wenig: dafür, dass wir hier so fantasie und mutlos geworden sind.

Wir breiteten auf dem Küchentisch eine Deutschlandkarte aus und steckten in jede unserer zuvor gewählten 16 geografisch-kulinarisch-kulturellen Regionen Fähnchen. Für Leute, die wir kannten. Falls die Fremden uns Türen und Herzen doch nicht öffneten. "Aber in meiner Heimat hatte ich oft schon eine Tasse Kaffee in der Hand, bevor ich den Leuten überhaupt erklären konnte, was ich von ihnen will", sagte Stan und lächelte voller Zuversicht. Ich schwieg.

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Hatte aber vorsichtshalber herumtelefoniert und sagte: "Fahrt zuerst zu einem Typen hier bei Hamburg, der ist Weltenbummler und lebt in einem Schrebergarten." Rhett Treinies öffnete Dagmar und Stan seine Gartentür einen Spalt weit. Als sie ihm erklärten, sie wollten nur sein Lieblingsrezept wissen - machte er ganz auf. Und erzählte ihnen sogar viel mehr, zum Beispiel von seiner Hippiezeit in den Siebzigern, als er ins blumige Kalifornien zog und von da nach Mexiko, und wie er dann mit dem Bus 13 Jahre durch Asien...

Dann gab er ihnen mehrere Rezepte für mexikanische Tortillas. Später versackten die drei in einer portugiesischen Pinte im Gewerbegebiet von Hamburg-Wilhelmsburg. Am folgenden Tag klingelten Dagmar und Stan bei allen Häusern rund um Hamburg, die ihnen sympathisch erschienen. Sämtliche Türen blieben verschlossen.

Stan war erstaunt. So etwas kannte er nicht. In Südafrika sei man nicht so reserviert. Dagmar wurde nervös. Am Nachmittag brach ihr Auto zusammen und musste in die Werkstatt. So lange erzählte ihnen der ehemalige Kapitän Jochim Westphalen aus Hamburg-Blankenese die Geschichte seiner allerersten Schiffskost, einer versalzenen Erbsensuppe. Eine Kollegin hatte ihn mir rasch per Telefon vermittelt.

Die Nacht verbrachten die beiden bei einer Bekannten von Dagmar, im niedersächsischen Flecken Bleckede-Barskamp. Die Bekannte erwähnte eine ihrer Tai-Chi-Schülerinnen, eine alte Dame, die mit ihrem Gehwagen zum Kurs kam. Sie lebte in einem Haus, in das sich Dagmar sofort verliebte - weil es mit seinem gepflegten Rotklinker "so deutsch" aussah.

Die Geschichte vom Karpfen

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Stan imponierten die akkurat aufgereihten Gartenharken. Und so trafen die beiden Brunhilde Steinhauer. Und hörten ihre Geschichte von den Karpfen, die sie immer aus dem Dorfteich gefischt hatte, ein paar hundert Meter die Straße runter. Und von der Blume, die ihr Sohn für Jeff Koons geschnitzt hat, als er mal bei einer Tischlerei arbeitete, die für den amerikanischen Künstler Entwürfe ausführte. Die Blume hängt jetzt neben einem Erzengel an Brunhildes Tapetenwand. Als sie zum Abschied in breitem Masuren-Deutsch sagte, Dagmar und Stan hätten "Wurzeln an ihrem Herzen" geschlagen, da schöpften die beiden wieder Mut. Und fuhren weiter, zu fast hundert Adressen. Auf die Insel Pellworm, nach Görlitz, Bochum, Erfurt, Hinterzarten, auf die Schwäbische Alb und nach Kaufbeuren, wo Schwester Maria Regina Winter Pilgersuppe verteilt.

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Manchmal nutzten sie die Fähnchen, die wir gesteckt hatten. Manchmal sprach Dagmar Menschen auf der Straße an, da waren sie zugänglicher. Aber nicht jeder passte ins Buch: Denn wir wollten eine gute Mischung aus Stadt und Land, Alt und Jung, Einheimischen und Neubürgern. Dazu die Extrawünsche: Stan liebt Hunde. Stan fotografierte viele Hunde. Dagmar wollte mehr Häuser. Markus mehr Postkartenmotive: Fischer auf dem Chiemsee, Bauern in den Bergen. Ich fand Gartenzwerge gut. Und von Stephan Le Roux aus Südafrika kam die erstaunte Frage, ob es bei uns nur alte Leute und Reihenhäuser gebe? Wir machten es jedem recht. Stans zuvor verschwommenes Deutschlandbild gewann dabei an Kontur. Am meisten überraschte ihn, dass wir die Verkehrsregeln beachten. Und wie viele Fotos und Erbstücke in unseren Häusern stehen. Wir Deutschen, so befand er, seien reich an Familiengeschichten.

Und die rührten uns alle. Hatten die Leute nämlich erst einmal verstanden, was wir von ihnen wollten, ließen sie uns auch in ihre Häuser - und in ihre Erinnerungen: Für einen alten Steinmetz bewahrt die Biersoße den Geschmack seiner Kindheit in Niederschlesien. Wegen des Kaiserschmarrens seiner Oma ist ein Punk Koch geworden. Die kleine Greta rettete ein Pferd davor, als Sauerbraten zu enden.

Und falls jetzt noch ein paar Leute das Buch kauften . . . - dann würde mich schon mal interessieren, was die Menschen so in Indien am liebsten kochen. Oder in Italien. Oder im Irak? Man kommt auf die aberwitzigsten Ideen, wenn man sich nur mal was traut.

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Das Buch "Das is(s)t Deutschland. Menschen und ihr Lieblingsessen" von Nataly Bleuel, Stan Engelbrecht und Dagmar Hoetzel kann man unter www.das-isst-deutschland.de für 39,90 Euro (zzgl. 3,90 Euro Versand) bestellen. Auf der Website sind auch alle Rezepte zu diesem Artikel zu finden.

Fotos: Stan Engelbrecht Text: Nataly Bleuel

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