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Jenseits unserer Zeit

Es gibt Orte auf dieser Welt, die können uns verzaubern. Einige liegen sogar in der Wüste in Ägypten - wie die Oase Siwa.

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Man lebt nicht in der Wüste, man durchquert sie, heißt ein Beduinenspruch. Lediglich die Oasen setzen ihn außer Kraft: diese Ausnahmeorte des Verweilens, die seit frühesten Menschentagen eine heilige Faszination ausgestrahlt haben. Von Gärten, in denen immer Wasser fließt, ist schon in arabischen Paradiesbeschreibungen die Rede - sie zu finden bedurfte einer gewissen Abenteuerlust. Oasen lagen noch nie einfach um die Ecke.

Für Siwa, die entlegenste einer Kette von Oasen tief im Westen der ägyptischen Sahara, gilt das bis heute. 19 Tage brauchten früher die Kamelkarawanen auf dem kürzesten Weg durch die Wüste von Kairo aus. Heute dauert die Reise in eine andere Welt noch immer acht Stunden. Von Kairo aus fahren wir fast immer geradeaus gen Westen, biegen nach fünf Stunden einmal ab, nach dreien noch mal. Dann ändert sich schlagartig die Landschaft. Als hätte ein Bühnenbildner die Tapete vor dem Autofenster ausgetauscht, weicht öde Geröllwüste einem orangeroten Spektakel aus windgeschliffenen Felsplateaus. Die ersten Ausläufer des Großen Sandmeers der Sahara, das sich von hier bis weit in den Sudan erstreckt. Und dann, wie von einem launischen Maler in die Landschaft getupft, plötzlich sattes Grün: Olivenbäume, Dattelpalmen, haushoch und schwer beladen, zeugen von unterirdischem Reichtum. Hier gibt es Wasser, viel Wasser.

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Die Grenze zu Libyen ist von Siwa gerade noch 70 Kilometer entfernt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wehrten sich die Siwis dagegen, Bürger Ägyptens zu sein, die erste asphaltierte Überlandstraße in diesen entlegenen Winkel, seit mehr als 10000 Jahren verbürgt bewohnt, wurde in den achtziger Jahren gebaut. Eine Abgeschiedenheit, die sich heute als äußerst segensreich entpuppt.

Am Straßenrand sehen wir die ersten Häuser aus Kershaf, dem ortstypischen Gemisch aus Lehm, Stroh und Salz, nach altem Rezept verrührt zu einem haltbaren Naturzement. Noch ein paar Kilometer über Schotter, vorbei an Eselskarren, auf denen vorn der Mann und hinten die mit einem bunt bestickten Gewand verschleierte Ehefrau sitzt, an Obst- und Olivengärten, dann liegt er vor uns im Licht des Nachmittags: Adrère Amellal, der weiße Berg, nach dem das wohl ungewöhnlichste Hotel Ägyptens benannt ist. Wobei Hotel für das, was uns erwartet, profan klingt.

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In den nächsten sechs Tagen werden wir keinen Schlüssel drehen, kein Geld berühren, kein Licht einschalten. Abends werden wir dem Schein von Fackeln folgen, die uns den Weg zum täglich wechselnden Schauplatz für das dreigängige Dinner leuchten. Auch speisen, duschen, zu Bett gehen werden wir bei Kerzenlicht, denn das "Adrère Amellal" gönnt sich einen mutigen Luxus: In der gesamten Anlage gibt es keinen Strom.

Ein bewusstes Bekenntnis zur Einfachheit, zur Lebenskunst der Beduinen. Klimaanlage? Wozu, wenn man die Fenster so ausrichten kann, dass sie den Nordwind fangen. Telefon, Fernseher, Internet? Wozu, kommen die Gäste doch her, um aus der Zeit zu fallen.

Am Fuße dieses Bergs habe er ein neues Leben begonnen, sagt Mounir Neamatalla, der Mann, der das naturverträgliche Paradies am Rande der Sahara ersonnen und verwirklicht hat. 1996 kam der Ingenieur und Unternehmensberater aus Kairo zum ersten Mal nach Siwa - und verliebte sich sofort in den Flecken Land zwischen Berg und Salzsee. Von mehreren Dutzend Familien kaufte er das Land und baute mit ihrer Hilfe aus ausschließlich einheimischem Material 34 Häuser im traditionellen Siwa-Stil, ein Ensemble wie ein altes Berberdorf.

Die Sonne in der Wüste Ägyptens gibt ein Festspiel

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Wir kommen genau zur richtigen Zeit an, um fünf Uhr nachmittags gibt die Sonne über Siwa ein Festspiel für die Sinne, es ist die Zeit der langen Schatten und weichen Konturen. Dieses Licht! Ich ertappe mich bei dem Gedanken, gleich müsse Ralph Fiennes aus "Der Englische Patient" um die Ecke biegen, so sehr erinnern mich die Farben, der Himmel, die Stimmung an den Film, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Kairo und in Westägypten spielt. (Dass Juliette Binoche, eine der Hauptdarstellerinnen, tatsächlich schon im "Adrère Amellal" gewohnt hat, erfahre ich erst einen Tag später bei einer Fahrt durch die Wüste). Stattdessen nimmt uns André aus Südafrika in Empfang; mit Khakihosen, weißem Turban und Wanderstock sieht der leicht exzentrische Hotelmanager aus, als hätte ihn ein Expeditionstrupp in einem vergangenen Jahrhundert in Siwa zurückgelassen. André führt uns zu unserem Haus. Zwei gegenüberliegende Zimmer, die auf eine kleine Terrasse führen, von der aus wir zur einen Seite auf den großen Salzsee und einen Palmengarten blicken, zur anderen auf den Tafelberg. Ich lege meine Kleider in die geschnitzte Holztruhe, die den Schrank ersetzt, und wasche mir im Natursteinbad bei Kerzenlicht den Staub der Straße vom Gesicht. Draußen gleiten lautlos Männer in Weiß durch die Dämmerung und setzt Wegmarken aus Fackeln und Öllaternen, auf einer der oberen Terrassen lodert bald einladend ein Lagerfeuer aus Olivenbaumholz.

Cocktailstunde. Aus allen Ecken schlendern Gäste herbei, folgen dem Pfad der Fackeln, lassen sich am Feuer nieder oder drinnen in der von hunderten Kerzen erleuchteten Bar. Bei schottischem Whiskey und Oliven aus heimischer Produktion lernen wir Suzy und Jeremy aus der Schweiz kennen, sie sind wie wir gerade erst angekommen, eigentlich leidenschaftliche Taucher, aber für diesen Urlaub von einer Mittelohrentzündung in die Wüste geschickt. Und wir treffen Samir und Leila aus dem Libanon, seit ein paar Tagen da und schon ganz im Rausch der Wüste. "Ihr müsst morgen unbedingt mit Abdallah fahren", sagt Leila, "er ist der Schlüssel zur Wüste, er führt euch mit dem Herzen."

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Nach ein paar Drinks bedeutet uns ein hilfreicher Geist in Weiß, ihm zu folgen. Wieder geht es den Fackeln nach, eine Treppe hinauf, um zwei Ecken, durch einen schmalen Gang - dann stehen wir in einem runden Zimmer mit vier festlich gedeckten Tischen. Vor uns Tafelsilber und Kandelaber, über uns: Die Sterne und der im Mondlicht schimmernde Tafelberg, wir dinieren unter freiem Himmel wie in einem nach oben offenen Märchenschloss. Drei Gänge mit Salat und Gemüse aus dem hauseigenen Biogarten, dazu geschmortes Lamm, Dattel-Soufflé, einzig der Wein kommt von weit her, aus Europa, einer Welt, der wir uns nach zwei Stunden in Siwa bereits so entrückt fühlen wie sonst mit viel Glück in der zweiten Urlaubswoche. Über uns schwebt die Nacht so still, dass ich glaube, die Sterne zu hören. "Max", sage ich zu meinem Begleiter, "dieser Ort ist gefährlich. Verzaubert schon nach zwei Stunden, wie sollen wir jemals nach Kairo zurückkehren?"

Unsere Welt gibt es hier nicht

Auch Siwa, der Ort selbst am anderen Ufer des Salzsees, zu dem wir am Morgen nach Granatäpfeln, Joghurt, Crêpes, ofenwarmem Brot und hausgemachter Olivenmarmelade aufbrechen, ist noch immer nicht ganz von unserer Welt. Noch immer gibt es den Boab, den Nachrichtenverkünder des Dorfes, der über Dattel- und Olivenpreise informiert, Geburten und Todesfälle kundtut, verlorene Tiere meldet und während des Fastenmonats Ramadan zum Gebet ruft. Jeder kann den Boab, die lebende Lokalzeitung, bitten, für ihn etwas im Ort zu verkünden, bezahlt wird er vom Dorf in Datteln und Oliven. Noch immer hängen verheiratete Frauen, wenn sie im Garten arbeiten, ihren Tarfottet, ein bunt besticktes Baumwollgewand, über den Pfosten am Tor - ein Signal, dass nur ihr eigener Mann hereinkommen darf. Noch immer wird mehr Siwi als Arabisch gesprochen, ein Berberdialekt, ähnlich dem der Berber in Marokko, Libyen und Algerien, woher die Bewohner von Siwa ursprünglich stammen sollen.

Auf dem Hügel, wo das berühmte Orakel von Amun liegt, soll Alexander dem Großen im Jahr 331 vor Christus nichts Geringeres als göttliche Herkunft bestätigt und die Weltherrschaft prophezeit worden sein. Irgendwo draußen in der Wüste ist einst eine ganze persische Armee spurlos verschwunden. Und im Dorf erzählen die Frauen, dass sie früher weit laufen mussten, um zu waschen, damit sie die Brunnen nicht verschmutzten. Statt mit Seife, die es nicht gab, haben sie mit Schlamm gewaschen, eine große Plackerei. Heute gibt es Waschmaschinen, auch hier in Siwa. Und zwischen den immer noch weit verbreiteten Eselskarren wuseln immer mehr Motorräder made in China umher.

Mühsal für die Frauen

So paradiesisch Siwa dem Reisenden erscheint, so mühselig war das Leben hier früher für die Frauen. Doch die größten Veränderungen Siwas gelten ihnen. Es ist die Werkstatt unseres Hotels, des "Adrère Amellal", wo junge Frauen kostbare Stoffe und Bettwäsche besticken - eine kleine Revolution für das konservative Berberdorf, in dem Frauen traditionell nur zu Hause arbeiten und noch vor wenigen Jahren mit zehn, zwölf Jahren verheiratet wurden. "Behutsamen Wandel" nennt Mounir Neamatalla den Versuch, durch Rückgriff auf Tradition - viele alte Handwerkskünste waren in Siwa beinahe vergessen - den Frauen im Ort neue Wege zu öffnen, ohne als Eindringling empfunden zu werden.

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Sicher, noch immer müssen die Mädchen ihre Arbeit aufgeben, sobald sie von ihrer Familie verlobt werden. Noch immer dürfen Frauen auf der Straße mit keinem Mann außer dem eigenen sprechen, muss der Mann deswegen alle Einkäufe erledigen. Aber wenn Mariam, eines der Mädchen aus der Werkstatt, erzählt, dass ihre Mutter mit zwölf Jahren geheiratet und niemals im Leben eigenes Geld verdient habe und sie nun schon über 20 und immer noch ledig sei und die Eltern es nicht eilig hätten, sie zu verheiraten, da sie ja Geld nach Hause bringe, ist das immerhin eine leise, aber doch hörbare Prophezeiung des Wandels.

So wie der neue Geldautomat in Siwa, der einzige im Umkreis von mehr als 300 Kilometern. Und rund um den einzigen großen Platz in Siwa die vielen neuen Restaurants und Garküchen, in denen die Touristen für immer noch sehr wenig Geld ortstypische Gerichte probieren können, wie Elhoogy, eine zum Frühstück servierte Mischung aus Datteln, Eiern und Öl, oder Mahshy, mit Zwiebeln, Fleisch, Tomaten und etwas Reis gefüllte Weinblätter.

Die Küche von Siwa allerdings, klagen die Frauen im Dorf, sei nicht mehr, was sie einmal war. "Früher haben wir jede Speise frisch zubereitet, alles, was wir aßen, wuchs hier. Und kaum jemand brauchte je einen Arzt", erzählt Habiba Talkan, die älteste Frau von Siwa. Wie alt sie genau ist, können selbst ihre Töchter nicht sagen, "über hundert", versichern sie. Ihre jüngste Urenkelin Fatima ist 13 Jahre alt, einer ihrer Schwiegersöhne arbeitet auf der anderen Seite des Sees im "Adrère Amellal" - aber keine der Frauen aus der Familie hat das Hotel jemals gesehen.

Die Wüste ist wie ein Kunstwerk

Die Lebensfeindlichkeit der endlosen Wüsten ringsum ließ in Siwa so viel länger als andernorts alles so, wie es immer war. Aber das Paradoxon der Oase bedeutet auch, dass von hier aus selbst die Wüste ihre Bedrohlichkeit verliert. Gewiss, vom "Zauber der Wüste" hatte ich gehört, aber es war eine abstrakte Idee gewesen, ein aus Bildbänden und Dokumentarfi lmen gespeistes Bild, zweidimensional, ohne Geruch oder Temperatur. Bis wir am Nachmittag aufbrechen. Mit Abdallah, der jeden Winkel der Wüste kennt und selbst nachts zurückfi nden wird, ohne Straßen und ohne GPS. Als das weiße Licht des Mittags mild wird und orange, die Welt wieder Konturen bekommt. Und was für eine Welt: Die Kanten der Dünen sind wie mit dem Pinsel gemalt, ein Kunstwerk in Bewegung, das der Wind jeden Tag, jede Nacht aufs Neue schafft, nun leuchtend in fein abgestuften Tönen der Wärme.

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Die Wüste ist immer in Bewegung, und auch wenn sie uns lebensfeindlich und leer erscheint, wimmelt es von Leben. Hier und dort entdecken wir Spuren davon, Fuchspfoten im Sand, die charakteristische Fährte einer Seitenwinder-Klapperschlange, die symmetrische Bögen in den Sand zeichnet. Sie haben Namen, die Dünen, je nach Form und Konsistenz: Barchan, Sif, Draa, Rhourd, geformt von Winden, die Schirokko, Khamsin oder Harmattan heißen - jeder Name ein Versprechen vergangener, abenteuerlicher Zeiten.

Abdallah fährt bis an die Kante einer senkrecht abfallenden Düne heran, stoppt abrupt - so, als habe er gerade noch rechtzeitig bremsen können - und fährt dann, von einem kleinen Aufschrei unsererseits begleitet, beherzt in den Abgrund. Unsere Angst war unbegründet, sanft gleitet der Jeep den Hang hinunter, und mit 100, 120 Stundenkilometern geht es in der Ebene weiter, der nächsten Düne entgegen.

Suzy und Jeremy aus Zürich sind, als passionierte Taucher, in der Wüste eigentlich nicht in ihrem Element. Und trotzdem hin und weg. Als Suzy dann auch noch versteinerte Muscheln findet, fühlt sie sich, als habe ihr der Himmel gezeigt, dass es noch ein Meer gibt. Nicht blau, sondern orange, nicht nass, sondern trocken - aber ebenso frei, ohne Grenzen und Schärfe. Wir befi nden uns auf dem Tiefpunkt der Erde, in der sogenannten Qattara-Depression - und fühlen uns großartig. Jeden Tag fahren wir zum Nachmittagstee und Sonnenuntergang in die Wüste, ein Ritual, das für mich zum Höhepunkt des Tages wird. Abdallah schürt ein Feuer fürs Teewasser, das er in einem zerbeulten Kessel aufkocht. Mit 15, erzählt er, habe er 1969 das erste Mal Siwa verlassen, um auf die weiterführende Schule in Masa Matruh am Meer zu gehen. "Ich habe die ganze Nacht geweint", erinnert er sich. Und kam bald wieder. Um nie mehr fortzugehen.

Reise-Info für die Wüste Ägyptens

Beste Reisezeit von Dezember bis Februar, tagsüber angenehme 21 Grad, abends nur noch zehn bis zwölf Grad.

Anreise über Kairo (Flüge, z. B. Lufthansa ab ca. 300 Euro), weiter mit einem Wagen mit Fahrer (ca. acht Stunden, 160 Euro/Strecke). Z. B. I Car Rental Service, Magdy Rashad, 53 Mouz El. Dawla st., Kairo, Tel. 0020/112 02 09 24, icarrental@gmail.com

Die Unterbringung im "Adrère Amellal" in der Oase Siwa kostet 335 Euro im Doppelzimmer, inklusive Mahlzeiten, Getränken und Ausfl ügen (Buchung über nlehzam@eqi.com.eg oder rnessim@egi.com.eg)

Weitere Infos unter www.adrereamellal.net, www.siwa.com, www.eqi.com.eg Guter Reiseführer: "Ägypten" aus der Reihe Dumont Richtig Reisen (22,95 Euro)

Text: Susanne Fischer Fotos: Max Becherer

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