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Die Schöne ist erwacht

Durch die Straßen von Saigon laufen, auf einer Dschunke in der Halong-Bucht kreuzen, mit dem Zug, dem Rad unterwegs sein. Reisen in Vietnam, wo Besucher mit offenen Armen begrüßt werden.

Warum erinnere ich mich gerade an dieses Gesicht? Sie heißt An, und sie hockte sich am breiten, weißen Pazifikstrand vor mich hin und schälte mir eine Ananas. An hat einen Teint wie milchkaffeefarbenes Reispapier, gerade weiße Zähne und wenige Lachfalten in den Augenwinkeln. Sie ist 50, hat drei Kinder, ihr Mann ist tot. Das alles sagt sie mir strahlend auf Englisch, während sie mit einem krummen alten Messer an der Frucht herumschnitzt. Ich kaufe ihr auch noch Tigerbalsam und Minzeöl gegen Kopfweh ab, damit sie weiter so schön lächelt. Wie lange sie schon Witwe ist, will ich fragen. Aber sie kommt mir mit ihrer Frage zuvor, nickt zum Fotografen Jörg Modrow hinüber: "Ihr Ehemann?" - "Ein Kollege", sage ich, "wir arbeiten zusammen, wollen über Vietnam berichten." An lächelt verschwörerisch. Als sie geht, legt sie die Hand auf meinen Arm: "Vielleicht später Ihr Ehemann?"

An ist das Gesicht von Vietnam: anmutig und ein wenig distanzlos. Als die Sonne untergeht, renne ich in den brausenden Pazifik. Die Inseln am Horizont sind Tuschezeichnungen, der Wind bläst die letzte Hitze davon, und der Himmel lässt unglaublich dicke, tropische Tropfen fallen.

Vietnam - nie hätte ich gedacht, dass dieses Land einmal etwas anderes für mich sein könnte als Erinnerung an unerträgliche Nachrichten. Jetzt ist es ein Reiseland geworden, für Leute, die Entdecken genießen. Zehn Tage haben wir, um Stadt, Land und Fluss zu erkunden. Per Rad und Rikscha, per Schiff und Flugzeug, per Auto und Bahn sind wir unterwegs, gut 1700 Kilometer von Hanoi nach Saigon.

Unterwegs ind Vietnam

Die Stadt hat gute Laune.

Hanoi, die nordische Schöne, ist zum 10. Nationalen Parteitag der Kommunistischen Partei geschmückt. Rote Fahnen, gelbe Hammer-und-Sichel-Symbole, Heldenplakate an den Straßen, Freilichtbühnen auf den Plätzen - wer wie ich in der DDR geboren ist, fühlt sich seltsam erinnert. Aber so kannte ich es nie: Die Jugend, ständig auf Millionen Motorrädern unterwegs, überstrahlt die altbackenen Heldensymbole. Mädchen sitzen genauso lässig mit geradem Rücken hinter den Lenkern wie Männer. Alle sind jung - das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist 25 Jahre -, und die wenigen älteren Motorisierten, mit Hühnern, Blumenbündeln oder einem Schwein unterwegs, sehen mit 50 aus wie 35. Das Leben siegt über den Mythos, jeden einzelnen Augenblick, den ich am Straßenrand stehe, gucke, warte, genieße und nicht hinüberkann, weil es keine Ampel, keinen Fußgänger-Überweg, keine Fahrspuren gibt, nur unaufhaltsam rollenden Verkehr.

Am Abend wird Hanoi nicht ruhiger. Eher fröhlicher. Ein paar tausend Zuschauer auf Modeps stauen sich vor der zentralen Bühne am Hoan-Kiem-See und sehen Jongleuren, Tänzerinnen mit Reifen und Karate-Kämpfern zu. Die Begeisterung schwappt zu uns nach oben, die wir die Szene vom Balkon des "Highland-Cafés" bei exzellentem Latte macchiato und Sahneeis betrachten. Die Live-Musik, hymnisch mit Asia-Beiklang, wird von übermütigen Hupkonzerten begleitet. Die Jugend feiert, egal, was. Gute Laune ist das Grundgefühl. Die Stimmung einer aufstrebenden Gesellschaft. Die Wirtschaft wächst jährlich um sieben Prozent. Prozente kann man nicht sehen, aber dass es alles Wichtige und Unwichtige zu kaufen gibt, der Handel allgegenwärtig ist - das ist nicht zu übersehen.

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Die Schlange vor Ho Chi Minhs Mausoleum ist lang. Er wollte verbrannt, nicht aufgebahrt werden. Trotzdem ist er nun hier zu besichtigen. Wir braten in der Schlange bei fast 40 Grad und spüren drinnen, in der dämmerigen Kühle, die ungebrochene Ehrfurcht aller für diesen zarten Mann. Draußen im nahen Park des französischen Gouverneurspalastes erzählt unser Begleiter Binh in bestem Deutsch: Die 1126 Delegierten des Parteitages haben soeben beschlossen, dass auch ein Parteimitglied Kapitalist sein darf. Und sie diskutieren über die Umbenennung der Partei. Unsere Stadttour führt folgerichtig von Onkel Hos bescheidenem Holzwohnhaus, das er sich luxusverachtend neben dem französischen Palast hatte bauen lassen, geradewegs zum Literaturtempel Van Mieu. In der ersten Universität Vietnams lehrte Konfuzius' erster Nachfolger. Zwischen Alleen, Wasserbecken, Toren und Pavillons wohnen die Schutzgeister der Dichter und Denker. Ruhe fällt vom Himmel, nur fernes Hupen erinnert an die profane Gegenwart. Die Schildkröten vor dem Brunnen der Himmlischen Klarheit sind Stein gewordene Weisheit: Sie tragen die Namen der weisesten Gelehrten aus drei Jahrhunderten. Eine Ehrenhalle des Großen Erfolgs ist zu durchschreiten. Erhabene Begriffe einer fremden Welt.

Als wir mit der Rikscha durch die Altstadt fahren, sind wir die langsamsten. Die Häuser sind viermal so hoch wie breit, jedes hat im Erdgeschoss einen Laden. Es gibt Straßen, wo Stoffe verkauft werden, Straßen, wo es nur Lampen gibt. Oder Musikinstrumente. Oder Motorradersatzteile und Werkstätten. Oder Karaoke-Bars. Ab und zu auch ein Internet-Café, vollbesetzt mit jungen Männern. Ho-Chi-Minh-Bilder und Buddhas wechseln sich ab. Die Altstadt ist ein Kaufhaus aus dutzenden von Straßen. Auf einem Motorradsitz hält eine zarte Greisin kauernd Siesta. Mitten im Gewühl, ein alter Herr aus einer anderen Zeit - ganz in Weiß mit weißem Bart. Er kommt lächelnd auf mich zu, will mit mir fotografiert werden.

Binh nimmt uns mit in sein Wohnzimmer-Lokal. Hier isst er, während er die Touristen in einem schicken Restaurant um die Ecke absetzt. Wir aber wollen Frühlingsrolle aus privater Küche, serviert im Wohnzimmer einer Familie, das tagsüber eine einfache Garküche ist. Der Fernseher plärrt in einer Hochglanz-Schrankwand, die Köchin bringt gekühltes Wasser und Servietten, auch Gabeln. Aber wir nehmen Stäbchen. Trotz Hitze erfrischt die 2,5-Millionen-Stadt. Kein Jetlag, kein Fremdeln. Hanoi umarmt uns wie gute Bekannte.

Nach drei Tagen und einem Ausflug zur wundervollen Halong-Bucht - geflutete Alpen, 3000 Gipfel im Ozean - setzt uns Binh in den Wiedervereinigungsexpress. Er verbindet Nord und Süd, Hanoi und Saigon, 1700 Kilometer sind die Metropolen voneinander entfernt. Aber wir reisen - im klimatisierten Schlafwagen, zusammen mit zwei globetrottenden Australiern - erst mal bis in die Mitte des Landes: nach Hué. Die alte Kaiserstadt, bekannt für die Schönheit der Frauen.

Das Land zieht grün vorbei.

Seit die Sonne aufgegangen ist, säumen Reisfelder den Schienenstrang - sie reichen bis zum Horizont, Wasserbüffel stehen in Gräben, fast regungslos. Das Land ist so saftig, wie die Stadt bunt war. Und über allem liegt so etwas wie: Würde. Oder ist es die pure Schönheit, die mir diesen Begriff eingibt? Es ist auch die Achtung vor den Menschen, die wir jeden Tag besser verstehen lernen.

Der Fluss der Wohlgerüche verbindet.

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Hué schmiegt sich von beiden Seiten geschmeidig an die Ufer. Eine breite Brücke schwingt sich darüber. Ich rieche nichts, aber die Fahrt auf dem Boot von Tú tut gut. An den Ufern liegen verwitterte Hausboote, 20000 Menschen leben auf dem Fluss. Sie schaufeln Kies vom Boden, verkaufen ihn zum Bauen, sie fischen, gehen als Händler auf den Markt. Sie haben alle einen Fernseher, aber zur Schule schicken sie die Kinder selten. Auch Tú ist eine der Schönen vom Fluss. Früher schaufelte sie mit ihrem Vater Kies, jetzt hat sie mit ihrem Ehemann ein Boot mit Stühlen, das Touristen herumfährt. Wo keine Hausboote liegen, sind die Ufer gepflegt wie die besten Anlagen an der Hamburger Alster. Und Tú lächelt ohne Unterlass, sieht in ihrem dunkelblauen Todai-Kleid traumhaft aus. Vier Töchter hat sie, die Oma betreut die beiden Kleinen.

Das Boot setzt uns an der Pagode Thiem Mu ab. Nam, unser Begleiter in Hué, erzählt von Riten, an die er glaubt. Viele Vietnamesen verehren ihre Ahnen, bringen Räucherstäbchen hierher, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Nam sagt: "Der Rauch ist eine Telefonleitung nach oben." Und er erklärt den Kult: "Ohne unsere Vergangenheit gar keine Gegenwart oder Zukunft - so denken wir." Nam, der den Ahnen huldigt, hat mit 13 in Hanoi einen Lastwagen voller Toter gesehen. Die Familie war im Krieg aus dem Süden in den Norden gezogen. 23 Jahre hatte er Sehnsucht nach dem Süden, und Nam heißt auch: Sehnsucht nach dem Süden. "Alles hängt mit allem zusammen", sagt Nam und schaut mit uns auf den grünen Fluss der Wohlgerüche. "Man muss verzeihen, aber nicht vergessen."

Noch ein Fluss, der uns trägt.

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Der Thu Bon fließt etwas weiter südlich, wir gehen im Hafen der Kleinstadt Hoi An an Bord, tuckern an schönen alten Häusern vorbei, alle in frischen Pastellfarben. Man muss hier jedes Jahr streichen, weil es jedes Jahr Überschwemmungen gibt. Dann nehmen die Leute ihre wichtigen Dinge und ziehen ein paar Wochen zu Verwandten. Wenn sie wiederkommen, renovieren sie. In den größeren Häusern wohnen Reiche, vor allem Tourismusmanager, sagt unser dritter Begleiter auf der Reise, er heißt wie der erste: Binh und hat genau wie er in Sachsen studiert. "Hotelmanager sind meist Ausländer, die wissen, was Touristen brauchen, Eigentümer aber sind Einheimische." Auch Binh der Zweite weiß, was eine Flussfahrt schöner macht.

Wir steigen vom Motorboot auf einen flachen Fischerkahn um. Gerade mal 20 Zentimeter guckt das verwitterte Holz aus dem Wasser. Tran Thi, die Fischersfrau, ist 80. Ihr kleines Gesicht verschwindet fast unter dem spitzen Strohhut, sie lächelt breit und zahnlos, als ich sie nach ihren Kindern frage. Sechs waren es, zwei Söhne sind im Krieg gestorben. Seit 61 Jahren ist sie verheiratet. Ihr Mann steht barfuß und breitbeinig im Bug des schmalen Holzbootes, wirft mit sicherem Schwung ein Netz ins Wasser, kreisrund sinkt es ab, nach einer Weile zieht er es wieder hoch. Zwei silberne Fischchen zappeln darin. "Der Fisch geht zurück", sagt die Frau. "Aber was soll man machen?" Die beiden Alten werden fischen, bis sie sterben, bemerkt Binh später. Eine Rente gibt es nicht. "Immerhin", fügt er hinzu, "zahlt der Staat die medizinische Versorgung für Arme." Es klingt stolz.

Die kleine Stadt mag Gäste.

Abends auf dem Markt von Hoi An fängt mich Tina ab, drall, im orangefarbenen Kleid, sorgfältig geschminkt: "Massage, Madame?" Und schon liege ich in einem Holzverschlag auf einer frotteebezogenen Liege und werde bearbeitet. Jegliche Anspannung geht. Die Schuhverkäuferin von nebenan bringt Fotos von Schuhen, die ihr Mann mir machen kann. Tina plappert. "Will der Ehemann auch eine Massage? Das macht mein Mann, besser, wenn es beim Mann ein Mann macht." - "Ist nicht mein Ehemann", murmele ich ergeben, "ist mein Kollege." - "Ja, ja", schnattert Tina. Am Ende gehen wir untergehakt über den Markt, sie will mich ihrer Schwester vorstellen, die mit 21 ihr zweites Kind erwartet. Ich soll ein Kleid bei ihr bestellen, "ganz billig, morgen fertig", sagt sie. Ich will kein Kleid, auch keine handgemachten Schuhe. Sie leben davon, aber ich kann nicht alle glücklich machen. Heute ist Tina glücklich, denn sie hat etwas verdient. Endlich kommt auch ihr Mann auf dem Moped, bringt den frisch massierten Fotografen und kutschiert uns dann nacheinander in das Lokal, das Tinas Bruder gehört.

Am nächsten Morgen nehmen wir das Rad, um zum Markt zu fahren, über die Flussbrücke, am Hafen entlang. Es duftet nach Kräutern und Frittiertem, die Schuhverkäuferin winkt mir zu, Männer spielen am Straßenrand Domino, Hunde liegen im Schatten. Abends am Strand treffe ich auch An wieder, esse ihre Ananas, trinke ein vietnamesisches Bier - und will einfach nur bleiben.

Das Land blüht auf.

Rund um die Stadt ist Landwirtschaft. Erste Bio- Höfe entstehen. 20 Minuten sind es bis Tra Que. Dort hatte eine Familie eine Geschäftsidee: Holen wir Gäste aus der Stadt, zeigen ihnen unsere Gemüse- und Kräuterfelder, kochen für sie, plaudern mit ihnen. Und Hoi An hat ein Ausflugsziel mehr. Der Eintritt kostet einen Dollar. Bevor im schönen, neuen Bambusbau aufgetischt wird, trinken wir grünen Tee bei der Familie von Großvater Tran Lu. Auf blitzblank polierten Fliesen stehen Bambusstühle, auf einem Teppich sitzen Frauen mit einem Baby und gucken fern. Die Großmutter, Le Thi Mai, ist 70. Sie war Partisanin und ist von Amerikanern gefoltert worden, damit sie Verstecke verrät. Jetzt ist sie stumm und guckt durch uns hindurch. Ihre Schwiegertochter Nga erzählt, dass unlängst ein großer blonder Mann vor der Tür stand. Der Amerikaner war Pilot in dieser Gegend gewesen und jetzt auf Nostalgie-Reise. Er wollte von ihnen wissen, wie sie heute über Amerika denken. Nga, die gut Englisch spricht, sagte ihm im Auftrag des Großvaters: "Der Krieg ist Vergangenheit, wir haben beide Arme für euch geöffnet." Ich bekomme ihr Baby in den Arm, wir lachen, lachen, ich schlucke meine Ehrfurcht als Kloß im Hals hinunter. Und merke mir: Hier kann man Verzeihen lernen.

Im Dorfrestaurant sind wir die einzigen Gäste, essen Minze-Pfannkuchen, Hühnchen mit Sprossen, eingewickelt in hauchdünne Reisfladen mit scharfer Fischsoße, Schweinefleisch mit Minzeblättern umwickelt, Rindfleisch mit Gemüse und gebratenen Fisch. Der Satz unseres Begleiters in Hué fällt mir wieder ein: Alles hängt mit allem zusammen. Vietnam ist auf einmal eine alte Weise für mich.

Auf unseren Ausflügen ins Umland schwärmt Binh: "Von 180 Ländern waren wir vor 15 Jahren wirtschaftlich auf Platz 179. Heute stehen wir an 79. Stelle, haben also 100 Länder überholt." Er will, dass sein Sohn Computertechnik studiert. Während Binh über den Fortschritt redet, zeigt er uns die mystischen Cham-Heiligtümer von My Son. Düstere Türme, die ältesten aus dem 11. Jahrhundert, eingebettet in eine üppige Talsenke. Das sakrale Zentrum eines einst stolzen Volkes wurde erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. Wenige Jahrzehnte später standen sie leider mitten in der "Free Fire Zone" der Amerikaner. 51 der Türme aus verschiedensten Epochen wurden zerstört. Trichter und Krater sind grün überwuchert, aber neben einer Schiwa-Skulptur steht eine rostige Bombenhülle.

Binh baut sein eigenes Haus, drei Schlafzimmer, zwei Wohnzimmer. "Was du mit 50 nicht geschafft hast, schaffst du nie mehr", sagt er. Er ist 47. Ich frage: "Wofür braucht ihr eigentlich noch die Kommunisten?" Er lacht: "Wir brauchen die nicht. Die brauchen sich!" Und die Opposition? "Ach was, die Leute haben genug Probleme."

Die größte Stadt ist grell und schräg.

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Bevor wir Ho-Chi-Minh-Stadt - oder auch Saigon - betreten, sehen wir alte Wunden, 40 Kilometer außerhalb. Die Tunnelsysteme von Cu Chi. Wer jetzt noch nicht begriffen hat, wie David Goliath besiegen konnte, versteht es hier auf einmal. In etwa 250 Kilometer langen Stollen, Tunneln und Verliesen lebten 16000 Partisanen, die Besatzer hatten keine Chance. Wenn sie das Gebiet betraten, stürzten sie in Fallen, wurden von Bambusspitzen aufgespießt, tappten in Fußfallen, aus grasgetarnten Erdlöchern sprang der Feind und schoss, war so schnell wieder weg wie ein Spuk. Ein General der US-Armee soll verzweifelt gerufen haben: "Wir sehen sie nicht, aber sie sind überall!" Heute kriechen ergraute Widerstandskämpfer einträchtig mit Vietnam-Veteranen aus den USA durch die Tunnel, in denen die Schrecken dokumentiert werden: wie sie unterirdisch Brot gebacken, Schuhe genäht, aus amerikanischen Blindgängern Bomben und aus landwirtschaftlichem Gerät Fallen gebaut haben. Paradox: Bis heute ist das wehrhafte 80-Millionen-Volk nicht in der Lage, ein einziges Gewehr zu produzieren. Damit Touristen hier durchkommen, wurden die Gänge verbreitert. Damals hätte sich kein GI hier bewegen können. Heute sind sie willkommen am Ort ihrer Schmach. Und die einstigen Kämpfer kassieren Eintritt. Saigon ist heißer, lauter, voller, größer als Hanoi - nicht schöner. Shopping-Center, Banken, eine Großstadt- Skyline wie überall auf der Welt. Nur: Neben der Cola-Werbung hängen politische Parolen - Glückwünsche zum Tag der Wiedervereinigung. Heldengesänge schwingen durch die Lobby des Hotels im Kolonialstil. Wir wundern uns schon nicht mehr. Alles hängt eben mit allem zusammen. Oben weht die rote Fahne, und unten tobt das Business.

Reiseführer

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Unterwegs mit Experten

Auf über 600 Seiten, ergänzt mit detaillierten Karten, liest es sich nicht nur spannend über Land und Leute, über Religion und Kultur, sondern es werden auch Legenden erzählt, Eigenarten der Menschen erklärt, politische Höhepunkte und nationale Besonderheiten beschrieben. Dazu gibt's Tipps für die Entdeckung der verschiedenen Regionen, vom Norden bis zum Mekong-Delta, vom Hochland bis zu den Küsten. Wer dieses Bändchen dabeihat, sieht mehr als die Oberfläche - er bekommt Hintergründe, die verstehen helfen. "Vietnam - die Perle Indochinas individuell entdecken" (Reise Know-How, 22,50 Euro)

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Vorsicht: bitte kein Küsschen!

Um in Vietnam nicht ins Fettnäpfchen zu treten, braucht man dieses Verhaltens-ABC, denn hier gelten andere Regeln. Sich beim Essen nicht zieren, sondern ordentlich zulangen lautet eine, bescheiden auftreten hingegen eine andere. Frauen, die vietnamesische Männer freundschaftlich auf den Unterarm fassen: verpönt! Ein Küsschen zur Begrüßung? Lieber nicht! Und dann: Lächeln, lächeln, lächeln, besonders bei Peinlichkeiten oder Pannen! Nicht nur die Mentalität der Vietnamesen, auch ihre Feste und Traditionen werden kenntnisreich erklärt. Am besten vorher lesen, um dann ganz entspannt sein zu können - wie die Vietnamesen. "Kulturschock Vietnam" (Reise Know-How, 14,90 Euro)

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Steine erzählen Geschichte

Tempel, Klöster und Pagoden spielen bei der Reise durch die Länder am Mekong eine entscheidende Rolle. Hier ruht schließlich die Geschichte der Völker, und hier ist sie auch lebendig. Wer die Champa waren und wie sie gedacht und gefühlt haben - diese Einblicke wünscht sich, wer in My Son steht und ihre immer noch mächtigen, tausend Jahre alten Heiligtümer sieht. Aber auch ein Spaziergang durch Hoi An, die kleine Hafenstadt, ist viel ergiebiger, wenn man mit dem Wissen dieses Kunstreiseführers unterwegs ist. "Vietnam, Kambodscha und Laos" (DuMont Kunst Reiseführer, 29,95 Euro)

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Hochglanz - aber ganz echt

Ja, wirklich: Diese Bilder sind so schön wie das ganze anmutige Land. Und wer glaubt, sie seien geglättet, der irrt. So sieht es tatsächlich dort aus zwischen Hanoi und Saigon. Wer seine Reise gerade vorbereitet und in dem Bildband blättert, möchte am liebsten gleich losfliegen, und wer schon einmal dort war, seufzt glücklich: Da war ich, und es war göttlich. "Vietnam, die schönsten Bilder" (Geo, 19,90 Euro)

Politik

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Vergeben, nicht vergessen

Der Vietnamkrieg war der längste Krieg des vorigen Jahrhunderts und der einzige, den die USA bisher verloren haben. Man kann nur ahnen, was Vietnam heute leisten würde, hätte es nicht 30 Jahre lang alles auf Verteidigung setzen müssen. Vietnam-Reisende benötigen darum ein Grundverständnis der Kriegswirren: Warum haben sich die Amerikaner hier überhaupt eingemischt? Und wie kam es, dass die stärkste Armee der Welt scheiterte? Was hat das alles mit Kommunismus zu tun? Im Buch kommen Zeitzeugen beider Seiten zu Wort - vom CIA-Agenten über den Vietnam-Veteranen bis zum General der Befreiungsarmee. So entsteht ein differenziertes Bild, mit dem man sich vor Ort sensibler bewegen kann, wenn immer wieder vom Verzeihen die Rede ist. "Apokalypse Vietnam", Wolfgang Schneider (rororo Sachbuch, 9,90 Euro)

Roman

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Verlorener Sohn auf Spurensuche

Als Kind war Andrew X. Pham mit seiner Familie in die USA geflüchtet. Jetzt kehrt er zurück, reist durch seine alte Heimat. Eindrucksvoll und anrührend beschreibt er seine Eindrücke und schildert die Geschichte seiner Familie vor dem Hintergrund der jüngsten vietnamesischen Vergangenheit. Phams Buch ist Roman, Reisebericht und Familiensaga in einem. Und lässt die gelungene Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam, die jeder Reisende spürt, noch erstaunlicher erscheinen. "Mond über den Reisfeldern. Auf den Spuren meiner Familie durch Vietnam", Andrew X. Pham (Goldmann, 9,90 Euro)

DVDs

Vietnam. . . vor dem Krieg

Am Vorabend des Krieges wird in Saigon die Leiche des Entwicklungshelfers Pyle (Brendan Fraser) aus dem Wasser gefischt. "Der stille Amerikaner" hatte zu Lebzeiten allerdings nicht nur Helfen im Sinn. Sein eigentlicher Auftraggeber war die CIA; seine Aufgabe: das kommunistische Regime im Untergrund zu schwächen; sein Fehler: sich in die vietnamesische Geliebte seines besten Freundes (Michael Caine) zu verlieben. Philip Noyce verfilmte Graham Greenes politischsten Roman kongenial.

. . .während des Krieges

Drei Filme über den Vietnamkrieg haben sich in unser Gedächtnis gebrannt: Francis Ford Coppolas legendenumwobene und spektakuläre Kriegshalluzination "Apocalypse Now" (1979) mit Marlon Brando, Oliver Stones erschütterndes Drama "Platoon", in dem ein unerfahrener, idealistischer Student die mörderische Absurdität des Krieges kennen lernt, als sein Trupp ein Bauerndorf zerstören soll, und Barry Levinsons "Good Morning, Vietnam" mit Robin Williams als quasselstrippigem Army-Discjockey. Alle drei Filme wurden zu Recht mit Preisen (Oscar, Golden Globe) überhäuft.

. . .nach dem Krieg

Saigon, Ende der 90er Jahre: Rikschafahrer Hai liebt das Callgirl Lan und spart unermüdlich auf eine Nacht mit ihr; Lotospflückerin An gibt einem durch Lepra entstellten Dichter neue Inspiration; Woody, der Bauchladenjunge, will seinen Warenkoffer zurück, und James Hagen (Harvey Keitel), US-Marine a.D., sucht seine vietnamesische Tochter, die er nur vom Foto kennt. Tony Buis Film "Three Seasons" ist eine betörende Mischung aus Stadtporträt und Schicksalsmosaik

Text: Vera Sandberg Fotos: Jörg Modrow

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