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Im Nationalpark auf Kuba: Schnecken statt Sozialismus

Im Nationalpark auf Kuba: Schnecken statt Sozialismus
© Sven Creutz
Die herrlichsten Strände, die sonnigsten Menschen: Kubas Attraktionen sind schon viel gepriesen worden. Cornelia Gerlach hat im größten Nationalpark auf Kuba eine weitere entdeckt: eine Schnecke, die es sonst nirgends gibt.
Die Polymita ist leuchtend gelb und elegant geschwungen und nur im Osten Kubas zu finden
Die Polymita ist leuchtend gelb und elegant geschwungen und nur im Osten Kubas zu finden
© Sven Creutz

Polymita ist leuchtend gelb und elegant geschwungen, mit einem dunklen Strich, der die perfekte Windung ihres Hauses betont. Die schönste Schnecke der Welt soll sie sein. Und es gibt sie nur im Osten von Kuba. Während andere kommen, um Zigarren zu rauchen oder an einem der herrlichen Strände sonnenzubaden, will ich im Alexander-von-Humboldt-Nationalpark, keine tausend Kilometer östlich von Havanna, wandern gehen in der Hoffnung, eine kleine gelbe Schnecke zu treffen. Baracoa, von wo aus der Nationalpark verwaltet wird, ist eine kleine Stadt am Meer. Bis zur Revolution kamen die Menschen nur auf dem Seeweg hierher. Dann schlugen die Brigaden Straßen in den Urwald. Mittlerweile bröckelt der Aphalt, die Pfützen in den Schlaglöchern sind knietief. Die Landschaft ist grün und saftig, vom tropischen Regen begünstigt. Lianen hängen wie Geisterfäden über den Wegesrand.

Vom internationalen Flughafen in Holguín nach Baracoa sind es Luftlinie 200 Kilometer. Mit dem Auto braucht man dafür fast einen Tag. Das letzte Stück der Strecke geht durch die einsame Natur des Nationalparks. Dann kreuzen plötzlich Hühner die Straße, ein Schwein zuckelt gemächlich am Straßenrand entlang. Kleine Häuser säumen den Weg, fast jedes hat zwei Schaukelstühle auf der Veranda und ein Gärtchen. Eine Mutter sitzt mit ihrem Säugling an einem selbst gezimmerten Stand und bietet Süßigkeiten feil: Zuckertüten aus Palmstroh, die mit geraspelter Kokosnuss und Papaya-Stücken gefüllt sind.

"Baracoa heißt Natur". Mit diesem Slogan wirbt die Stadt für sich selbst. Baracoa gilt als die grünste Stadt Kubas. Die üppige Vegetation der Gebirgskette Sierra del Purial ist bis weit in die Stadt hinein zu sehen. Das Umland beherbergt eines der besterhaltenen Ökosysteme der Insel: den Alexander-von-Humboldt-Nationalpark. Die Unesco hat die 70 000 Hektar Urwald im Jahr 2001 zum Weltnaturerbe erklärt, weil die karibische Tier- und Pflanzenwelt hier einzigartig ist, deutlich größer als die der Galápagos-Inseln zum Beispiel.

Aber bevor ich Polymita suchen kann, muss ich meinen Reiseleiter für die kommenden Tage finden. Der Weg zu ihm führt mich durch die kleinen Straßen der Stadt zu einem gelb getünchten Haus. Neben der Haustür hängt ein Schild: "Fachmann Naturreiseführer Flora und Fauna", steht dort tatsächlich auf Deutsch geschrieben. Dr. Alberto García hat in der DDR Forstwirtschaft studiert. "Ich bin der Opa vom Nationalpark", stellt er sich breit lachend vor. Dann küsst er seine junge Frau - seine sechste, wird er mir später erzählen -, zieht seine dicken ledernen Wanderstiefel an, nimmt den Hut und sagt: "Auf geht's."

Auf der Fahrt zum Park passieren wir Schilder mit sozialistischen Durchhalteparolen: "Viva!" und "Genug geredet, es ist alles gesagt. Jetzt gilt es, hart zu arbeiten". Raúl, unser junger Fahrer, grinst. Von denen, die mit ihm Abitur gemacht haben, sind viele im Ausland. Nur fünf der alten Freunde sind ihm geblieben. Die anderen schreiben E-Mails. "Die arbeiten viel und leben wenig", sagt er, "und wir arbeiten wenig und leben viel."

Drei Wanderungen machen wir in den kommenden Tagen. Am Fuße des El Yunque, des Tafelberges, der schon Christoph Kolumbus imponierte. Ins Yumuri-Tal, eine Stunde östlich von Baracoa. Und zu einer Insel an der Mündung des Rio Toa. Wandern? Raúl schüttelt verständnislos den Kopf. Nein, sagt er, aus freien Stücken zu Fuß gingen doch nur die verrückten Touristen. Er werde den Wald an einem schattigen Platz genießen. "Aber wenn ihr eine Schnecke findet, bringt sie mit." Seine Freunde seien völlig versessen auf die Polymita. Aber die sind doch geschützt? Raúl zuckt mit den Schultern und bleibt zurück, während wir durch eine traumhaft schöne Landschaft laufen.

Manchmal würde ich mich am liebsten auf der Stelle hinsetzen und malen. Den Fluss, die von Vulkanen in der Urzeit an die Oberfläche gespuckten und von den tosenden Wassermassen geschliffenen Steine. Kletterpflanzen ranken sich die Klippen herunter, Königspalmen schicken ihre Kronen in den Himmel, und leuchtend rote Bromelien sitzen wie fette Untermieter an den Weiden, deren schützendes Dach uns Schatten spendet. Wir baden in einem Fluss mit bunten runden Kieseln in zarten Farben, gerahmt von hohen Kreideklippen. Die Sonne fällt ins Tal, das Wasser glitzert türkis wie im Bilderbuch eines Abenteuerreisenden.

Immer wieder bleibt Alberto García stehen, bückt sich, um die kleinen Blattschneiderameisen zu zeigen, oder hebt den Stock in den Busch, wo gerade ein Smaragdkolibri um eine Blüte schwirrt. Er erzählt von den Bienenelfen, einer farbenprächtigen Kolibriart, die sich vom Pollen der Königspalme ernährt, und den Schnurrbartfledermäusen, die in den Bergwäldern des Nationalparks zu Hause sind. Er lauscht dem Waldsänger und dem Vielfarbigen Todi mit dem feuerroten Schnabel und dem grasgrünen Federkleid und findet eine wunderschön schillernde Eidechse im Laub, die dort wie ein Minikrokodil auf ihre Beute lauert. "Anolis baracoae", sagt er spontan, "endemisch" - das heißt: nur hier zu finden, sonst nirgends auf der Welt. Wenn man ihn fragt, warum er nicht, wie so viele, das Land verlassen hat, dann sagt er: "Ist die Natur nicht ein wunderbarer Grund zu bleiben?"

Sogar hier draußen, fernab der Straßen, leben Menschen. Einmal stehen wir vor einer Schule mitten im Wald. "Die Natur zu lieben heißt, das Leben zu lieben", steht unter dem Giebel. Die Lehrerin winkt uns herein. Sechs Kinder werden hier unterrichtet, die kleinen subtrahieren gerade, die großen üben Brüche, eins sitzt am Computer. Als wir weitergehen, erzählt Alberto García von seiner Kindheit. Sein Vater war Köhler, der Sohn musste früh mit ran. Dass er studieren konnte, hat er der Revolution zu verdanken. "Viele träumen von schnellen Autos und übersehen, wie wertvoll es ist, dass auf Kuba jedes Kind zur Schule geht und gesund aufwächst."

Am Ende des ersten Tages haben wir vieles gesehen, aber von der kleinen Schnecke, dem Wahrzeichen von Baracoa, keine Spur.

Dabei ist Polymita bloß eine von 1800 bis 2000 Tierarten, die nur hier vorkommen und sonst nirgends auf der Welt. Manche, wie der Schlitzrüssler, der mit seiner langen Nase aussieht wie eine zu groß geratene Spitzmaus, sind anderswo schlicht ausgestorben.

Als Kolumbus 1492 bei Baracoa an Land ging, war Kuba zu 90 Prozent von Wald bedeckt. "Ich gestehe, beim Anblick dieser blühenden Gärten und grünen Wälder und am Gesang der Vögel eine so innige Freude empfunden zu haben, dass ich es nicht fertigbrachte, mich loszureißen und meinen Weg fortzusetzen", schrieb der Entdecker in sein Tagebuch. "Diese Insel ist wohl die schönste, die Menschenaugen je gesehen." Doch die Zuckerbarone rodeten die Wälder und legten Monokulturen an. 1910 war nur noch die Hälfte der Insel bewaldet, 1959 bloß noch etwa 14 Prozent. Bis Fidel Castro an die Macht kam. Die Revolutionäre liebten den Wald, er hatte sie versteckt und ihnen geholfen, das Regime zu besiegen. Heute wächst er auf einem Drittel der Fläche von Kuba, es gibt mehr als 80 Naturschutzgebiete.

Am zweiten Tag, bei der Wanderung ins Yumuri-Tal, begleitet uns Manuel. Er ist Waldarbeiter. Die Wanderwege sind zwar geebnet, aber die wuchernde Pflanzenwelt versucht sie sich immer wieder zurückzuerobern. Mit seiner Machete schlägt Manuel die frischen Triebe ab und macht für uns den Weg frei. Sein Haar ist grau, die Füße sind vom Barfußlaufen breit und verhornt. "Schuhe sind Luxus", sagt er. Nicht mal für sonntags hat er welche. Aber er klagt nicht. Einmal bückt er sich, sein Gesicht leuchtet zufrieden. Manuel macht die Hand auf. Darin: Polymita, gelb mit schwarz geschwungener Linie. Wunderschön. Aber man darf sie nicht verkaufen, geschweige denn, sie sich schenken lassen.

Manuel lenkt unsere Aufmerksamkeit schnell wieder auf andere Dinge, auf eine Lichtung zum Beispiel, mitten im Wald, auf der mit Stöcken ein Rund abgesteckt ist. Eine Hahnenkampf-Arena. Am Wochenende verwetten die Männer hier ihr Geld. "Ein Kubaner, der nicht spielt, ist kein Mann", heißt es, daran hat auch die Revolution nichts geändert.

Zurück in Baracoa, schlendere ich am Malecón, der Promenade am Meer, entlang, wo im Abendlicht eng umschlungen ein Pärchen von der Brandung geduscht wird. Baracoa an der Bahía de Miel, der Honigbucht, hat den Charme einer stolzen, geliebten Stadt, deren Bewohner das Leben genießen. Baracoa hat alles, was wir uns unter Kuba vorstellen: bunte, von hohen Säulengängen überwölbte koloniale Bauten, Musik auf den Plätzen und in den vielen Bars und gigantische Straßenkreuzer, deren Kofferräume wie Walfischmäuler den ganzen Hausstand ihrer Besitzer schlucken können. Zwei Mojitos, und die Welt wird locker und heiter, es ist das Jetzt, das zählt, Musik sickert wie ein Virus in meine Beine, und mein Kopf schwebt genüsslich in den Wolken.

Am dritten Tag meiner Reise fahren wir mit dem Boot auf eine kleine Insel in der Mündung des Rio Toa. In einem himmelblauen Haus am Strand lebt der alte Rafael Jiminez mit seiner Familie. Er ist Kokosbauer. Seine Füße biegen sich um den Stamm der Palme, als er flink wie ein Eichhörnchen hinaufsteigt. Die faltigen Armen sind hart wie Eisen. Er zieht sich mit einem Klimmzug hoch und krabbelt zwischen die Palmblätter. Frei hängend schwebt der 91-Jährige über dem Strand. Bald ist er in der Baumkrone verschwunden, nur gelegentlich fällt ein trockenes Blatt. Dann hört man das Surren der Machete. Schon saust die erste Kokosnuss zu Boden, ein Huhn flüchtet. Mehr Nüsse fallen.

Rafaels Sohn ist Schulleiter. Einmal im Monat kommt er mit den Kindern zum Strand. Sie sammeln den Müll, den das Meer anspült. Hinter dem Haus liegt ihre Beute: Fischkisten, Badelatschen, Konservendosen und alte Netze. Rafaels Frau hat einen alten Tampen zum Trocknen an die Hauswand gehängt. "Die äußeren Fasern sind brüchig", sagt sie, "aber guck her", sie dreht das Tau auf, und innen kommt festes Garn zum Vorschein. Damit häkelt sie. Taschen, Körbe, Hüte. "Wollen wir tauschen?", frage ich, mehr aus Jux, und halte meinen Sonnenhut in die Luft. "Maria", ruft Rafaels Frau laut über den Hof nach ihrer Tochter, "komm gucken." Einen Moment später hat Maria meinen Hut auf dem Kopf und ich ihren, und wir tanzen vergnügt zwischen den Bänken.

Rafael lässt es sich nicht nehmen, uns wieder zurück zum Festland zu rudern. An den meisten anderen Orten der Welt würden Motorboote verkehren, aber die knappen Ressourcen auf Kuba schenken uns Momente von vollkommener Schönheit: Das Plätschern der Ruder, der Schrei einer Möwe, die üppig grünen Berge des Nationalparks unter dem Himmel.

Rafaels Kahn ist leck, durch die Planken rinnt das Wasser. Er rudert eine Weile, dann muss er schöpfen. Einen Moment später hängt er sich wieder an die Ruder und fängt laut an zu singen: "Ave Maria, Halleluja, / Ich habe eine schöne Frau an Bord / und diese Reise gefällt mir." Alberto García fällt ein. Die Männer singen um die Wette.

Reise-Infos Kuba

Schöne Aussichten vom Hotel "Castillo" in Baracoa über die alte Seefahrerstadt im Osten von Kuba
Schöne Aussichten vom Hotel "Castillo" in Baracoa über die alte Seefahrerstadt im Osten von Kuba
© Sven Creutz

Die besten Unterkünfte in Baracoa: Das "Hostal 1511" ist ein neues kleines Hotel in einem renovierten Kolonialbau nahe dem Zentrum. Doppelzimmer mit Frühstück ab 50 Euro. Calle Ciro Frías, Baracoa, Tel. 0053/21/64 57 00.

Das "El Castillo" hat einen Pool und ein gutes Restaurant mit lokalen Spezialitäten. Doppelzimmer mit Frühstück ab 55 Euro. Loma del Paraíso, Baracoa, Tel. 0053/21/64 51 65. Infos über beide Hotels: www.gaviota-grupo.com

Das leckerste Essen: Im "El Buen Sabor" wird serviert, was die Region hergibt, am liebsten Fisch in Kokosmilch. Calixto García No. 134, Tel. 0053/52/38 53 09.

An der Mündung des Flusses Toa liegt die "Finca Rancho Toa". Lokale Küche, manchmal wird ein Spanferkel über dem Feuer geröstet. Km 3, Carretera a Moa, Baracoa, Tel. 0053/21/64 52 24

Der Reiseführer: "Reise Know How Cuba", der Guide für Individualisten von Frank-Peter Herbst, ist sehr kompetent und aktuell (480 S., Reise Know How, 19,50 Euro)

Text: Cornelia Gerlach Fotos: Sven Creutz BRIGITTE woman 11/13

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