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Kurzreise nach Paris: Rückkehr in die Studentenzeit

Wie wird es sein, nach fast drei Jahrzehnten Paris wiederzusehen? Birgit Schönberger lebte dort als Studentin und kehrte für eine Kurzreise an die Seine zurück.

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Meine Liebe, muss das sein? Nach all den Jahren, in denen ich Dir die Treue gehalten und Deine Schönheit gepriesen habe, empfängst Du mich mit Sprühregen. Grau in Grau. Im Mai! Ignorierst kühl mein Herzklopfen, meine Wiedersehensfreude, die explodiert, als ich aus der Metro Jules Joffrin aussteige und wie in Trance, als sei ich nie weggewesen, die erste Straße nach links nehme, vorbei an der Brasserie "Nord Sud". Du hast es immer noch nicht nötig, Dich herauszuputzen. Dir laufen sie in Scharen nach, egal wie Du aussiehst.

Ich bin ohne Farbe im Gesicht mittlerweile verloren. Und jetzt stehe ich vor meiner alten Wohnung in der Rue Marcadet, schaue nach oben zum Fenster im dritten Stock, von wo aus man die Spitze von Sacré-Coeur sieht, und der Regen vermischt sich mit einer Träne. Mitten auf der Straße erleide ich eine heftige Attacke von Melancholie und bin wie gelähmt. Zwei Autos hupen ungeduldig. Aus dem Weg! Vite, vite!

Ein Jahr habe ich als Studentin hier gelebt. Von 1985 bis 1986. Und plötzlich sind alle Erinnerungen wieder da. Ich bin 23 und möchte am liebsten laut schreien: Hey, Leute, ich bin in Paris und wohne am Montmartre! Und ich besuche abends die berühmte Theaterschule Jacques Lecoq! Ist das nicht Wahnsinn? Es fühlt sich an, als könnte ich sofort wieder in mein altes Leben eintauchen, alles ist vertraut, sogar der Waschsalon ist noch unten im Haus. Und doch sind 27 Jahre vergangen. Ich, die ich Paris niemals verlassen, Schauspielerin werden und auf keinen Fall heiraten wollte, bin jetzt 48, lebe in Berlin, habe einen Mann und eine Tochter und kann es nicht fassen: Wo sind bloß die Jahre hin?

Ein Wiedersehen mit Paris - voller Freude und Melancholie

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Ilhame, meine junge Vermieterin, zieht mit ihrer fröhlichen Art den Nostalgieschleier beiseite. Ihr Bed & Breakfast "Au Sourire de Montmartre" ist ein Juwel. Im hellen, mit Möbeln aus Marokko eingerichteten Frühstücksraum serviert sie hervorragenden Kaffee. Mein Französisch klingt in meinen Ohren etwas rostig, doch Ilhame ist sehr zufrieden. "Sie sprechen super", schmeichelt sie mir. "Noch einen Kaffee?" Keine Zeit. Ich will unbedingt Montmartre erklimmen und den spektakulären Blick auf die weißen Dächer genießen, bevor die Touristen anrücken.

Die berühmten Treppenstufen nehme ich aus alter Gewohnheit im Laufschritt. Einmal Sacré-Coeur und zurück, das war damals mein einziges Sportprogramm. Neu sind die Blumenbeete mit Margeriten und Mohn auf den Plateaus zwischen den Treppen. Urban Gardening im 18. Arrondissement.

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Oben überquere ich die Place du Tertre im Stechschritt. Die Maler, die noch verschlafen sind und mir lustlos auf Englisch ein Porträt andrehen wollen, würdige ich in einem Anflug von alter Arroganz keines Blickes und laufe schnurstracks zu den Stufen vor der weißen Basilika Sacré-Coeur. Unzählige Male habe ich diesen Blick genossen, am liebsten frühmorgens oder abends, wenn Paris sich in ein buntes Lichtermeer verwandelt. Mein Herz fängt wild an zu klopfen wie vor einem Rendezvous.

Kann man eine Romanze mit einer Stadt haben? Offenbar ja. Ich finde es immer noch aufregend, auf meine Ex-Geliebte zu schauen, die mir zu Füßen liegt und die ich für einen kurzen Moment ganz für mich habe. Paris bringt mich dazu, furchtbar kitschige Zeilen zu schreiben. Mein Tagebuch von damals, das ich vor der Abreise entdeckt habe, ist auch voll mit peinlichen Passagen.

Die ersten Busse mit japanischen Reisegruppen kommen. Jetzt schnell runterlaufen und schauen, ob es das Bistro "Le Progrès" noch gibt, dessen Name ironisch mit dem Ambiente kontrastiert. Die Wände sind vergilbt, an der Decke hat sich der Zigarettenqualm von Jahrzehnten festgesetzt. Damals habe ich, obwohl ich mein Leben lang Nichtraucherin war, nachmittags im Café geraucht, Gauloises natürlich, liberté toujours, und dabei geschrieben. Ich machte auf Existenzialistin und fand es großartig, allein an einem Tisch zu sitzen und ein bedeutsames Poetinnengesicht aufzusetzen. Ehrlich gesagt gefällt mir das immer noch, wenn ich auch über mich lachen muss. Die Fähigkeit zum Pathos ist mir über die Jahre abhanden gekommen, ich habe jetzt eher einen ironischen Umgang mit mir und der Welt.

Eintauchen in fremde Welten - von Afrika bis Theater

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Es ist nicht möglich, sich in Paris zu bewegen, ohne in Klischeefallen zu tappen. Auch wenn ich mich immer noch zielsicher bewege und lässig die Rechnung verlange, fühle ich mich doch wie eine Statistin in einem Film. Vielleicht auch, weil "Die fabelhafte Welt der Amélie" hier in der Nähe gedreht wurde. Vier Euro kostet der Café crème. Es ist mir ein Rätsel, wie ich mir die Existenzialistinnenpose überhaupt leisten konnte. Ich hatte sehr wenig Geld, mein Zusatzjob als Kindermädchen war auch nicht gerade lukrativ. Wahrscheinlich war ich gar nicht so oft im Café, wie meine Erinnerung mir vorgaukelt. Die Nachmittage zu Hause hat mein Gedächtnis in der Rubrik "unspektakulär" abgelegt und später dann wohl gelöscht.

In der Rubrik "spektakulär" sind meine Streifzüge durch die Goutte d'Or abgespeichert. Das afrikanischste Viertel im Pariser Nordosten, das lange als Problembezirk verschrien war und jetzt in Mode kommt wie alles ehemals Verruchte.

Bevor ich ins Gedränge abtauche, atme ich tief durch. Vor den Schönheitssalons und den Läden mit Stoffen aus dem Kongo und Benin, Gemüse aus Kamerun und Früchten von den Antillen sitzen Schwarzafrikanerinnen in knallbunten knöchellangen Röcken und turbanartigen Kopfbedeckungen, vor sich riesige Säcke mit Erdnüssen. Der erdige Geruch von Süßkartoffeln steigt mir in die Nase und auch der Duft von gerösteten Maiskolben. Plötzlich fangen alle an, wild durcheinanderzuschreien, und rennen weg. Später, als die Polizei abgerückt ist, kommen sie wieder aus ihren Häusern, und der illegale Handel beginnt von vorn.

Die Goutte d'Or fasziniert mich immer noch. Ich sehe die damalige Studentin, die mit großen Augen als einzige Weiße durch die Menge läuft und zum ersten Mal in ihrem Leben Süßkartoffeln und Schweinefüße sieht, Musik von Mory Kanté hört und es nicht fassen kann, dass sie, die kleine Saarländerin, in einer Stunde den afrikanischen Kontinent durchqueren kann. Ich bin überrascht, wie viele Erinnerungen an jeder Straßenecke aufploppen wie Pop-ups. Es war eine wilde, prägende Zeit. Mich neu kennen lernen, Grenzen testen und verschieben. Nach drei Studienjahren im hübschen, verschlafenen Freiburg habe ich hier offenbar alles eingesogen wie ein Schwamm und in mir bewahrt wie ein kostbares Elixier.

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Rue du Faubourg-Saint-Denis im 10. Arrondissement. Die Straße der tamilischen Restaurants und der pakistanischen Friseure. Und mittendrin die Internationale Theaterschule Jacques Lecoq. Hier habe ich mit großer Begeisterung dreimal in der Woche abends Pantomime geübt, Tragödien aufgeführt und mich in Improvisation versucht.

Unendlich weit weg erscheint mir das heute. Ich finde keinen Zugang mehr zur Schauspielschülerin von damals. Bei der Vorstellung, auf einer Bühne im Scheinwerferlicht zu stehen, bricht mir heute der Schweiß aus. Beim Anblick der Theaterplakate im Foyer sehe ich plötzlich Sandra vor mir, die strenge Lehrerin mit den feuerroten Haaren, die mit rauchiger Stimme schimpfte: "Das war nichts. Noch mal von vorn!"

"Unglaublich", sagt Roberta, die Fotografin. "Du siehst plötzlich zehn Jahre jünger aus!" - Quatsch, das glaube ich nicht. Kann ich mal sehen? Tatsächlich: Da ist ein Strahlen in meinen Augen, eine Verwegenheit im Gesicht, die mich verjüngt. Als die Tür ins Schloss fällt, ist es wie ein Aufwachen aus einem Traum. Aber ich war wirklich da. Mein Name - was für eine Überraschung - ist immer noch im Computer gespeichert!

So viel Schönheit kann auch anstrengend sein

Wie schön, dass ich mich nicht mehr von pappigen "Sandwichs tunésiens" ernähren muss und mir ein Menü leisten kann im "Au Relais" in meinem alten Viertel Montmartre. Rot-weiß karierte Tischdecken, alte Lampen, Bücher. Alle kennen und küssen sich. Die Kellner servieren das Menü stilvoll mit kleinen Scherzen garniert. Das Essen ist hervorragend, vor allem die Himbeertarte zum Nachtisch. Toppen kann ich das nur noch mit einem Besuch bei Marie Quatrehomme in der Rue de Sèvres, in deren Filiale im 7. Arrondissement die Sterneköche ihren Käse einkaufen. Beim Anblick der Kundinnen, die mit kritischer Miene den Crottin prüfen, mit dem Rocamadur liebäugeln und sich dann nach eingehender Beratung, als ginge es um Leben und Tod, doch für den Chèvre au romarin entscheiden, wird mir klar, dass ich mich in einem Punkt nicht verändert habe. Es sind immer noch die kleinen Sensationen, die mich mehr faszinieren als der Louvre, die Champs-Élysées und der Eiffelturm.

So, meine Liebe, der Käse ist gekauft, der Rotwein auch, es wird Zeit für mich, zum Flughafen zu fahren. Jetzt kann ich es Dir ja sagen: Deine Schönheit macht mich auf Dauer ein bisschen kirre, ich vertrage nicht mehr so viel auf einmal davon. Aber es geht ja nichts verloren. Alles ist gut verwahrt in meinem inneren Schatzkästchen, das ich jederzeit öffnen kann. Hemingway hatte recht: Du bist ein Fest fürs Leben.

Reise-Infos Paris

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Übernachten

"Au Sourire de Montmartre". Bed & Breakfast mit kleinen, sehr ruhigen, geschmackvoll eingerichteten Doppelzimmern in verschiedenen Stilen (Montmartre, Lautrec, Marrakech...). DZ/F ab 125 Euro (64, rue du Mont Cenis, Tel. 00 33/6/64 64 72 86, www.sourire-de-montmartre.com).

Essen

"Au Relais". Charmantes Bistro mit sehr gutem Mittagsmenü (48, rue Lamarck, im Marcadet-Viertel). "Petit Pois". Hausgemachte salzige und süße Tartes, Suppen, Salate (57, rue de Mont Cenis).

Lesen und informieren

"Pariser Spaziergänge", Michelin-Führer mit 29 schönen Touren durch die Stadt mit Plänen (19,90 Euro). Infos unter www.rendezvousenfrance.com

Fotos: Roberta Valerio BRIGITTE WOMAN 07/2013

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