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Ein Land erschafft sich immer neu

Dörfer, still und urig. Klöster mit langer Geschichte und großer Gastfreundschaft. Natur, wild und gewaltig. Bulgarien überrascht und beschert so manche Glücksmomente - nicht nur zur Zeit des Rosenfestes.

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Die Luft ist feucht vom Tau, ein paar Wolken hängen noch über den Wipfeln des Balkangebirges. Ein Hahn kräht in der Ferne, ein anderer antwortet mit dünner Stimme, langsam hebt sich die Dämmerung. Ich stehe mitten im Rosenfeld, leicht benommen vom Frühaufstehen und diesem unglaublichen Duft, der in der Morgenluft liegt. Hätte ich heute Nacht mein Lager hier aufgeschlagen, würde ich bestimmt von dem Duft geweckt. Dann würde ich blinzeln, lange Reihen weißer und pinkfarbener Blüten sehen und vielleicht an die Rosen-Exzesse im Film "American Beauty" denken. Und danach gleich weiterträumen. So viel Schönheit auf einmal ist kaum auszuhalten.

Der Duft von Bulgarien

Im berühmten Rosental bei Kasanlak, fast in der Mitte Bulgariens, beginnt der Tag während der Ernte immer so früh - im Morgentau entfalten die Blüten ihren stärksten Duft. In den Feldern stehen die Pflückerinnen, junge Frauen, alte Frauen mit zerfurchten Gesichtern, Roma-Frauen. Mit den Händen knipsen sie die Blüten ab und versenken sie in ihren Schürzen. Eine von ihnen, fast noch ein Mädchen, dreht sich zu mir, und ich lasse meine Hände in ihre Schürze gleiten, durch tausende Blätter der Rosa alba und damascena. Jede Blüte sieht anders aus: elegant, protzig, abweisend, verhuscht, rebellisch. Eine Rose ist mehr als eine Rose ist mehr als eine Rose. Ich packe meine Tasche mit den Blättern voll. Heute Abend, in meinem ziemlich spartanischen Gästezimmer in Kalofer, werde ich sie auspacken und auf den Tisch legen. Und im nächsten Quartier genauso. Bis zum Ende der Reise muss das Parfüm reichen.

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Plötzlich höre ich Motorenlärm. Ein Laster kurvt um die Ecke und hält. Zwei Männer steigen aus und holen die großen Plastiksäcke ab, die am Feldrand stehen und mit Rosen voll gestopft sind - die Ernte der letzten Stunden. Traurig sieht das aus, wie die Blüten zusammengepresst und verschnürt sind. Später, in der Destillerie, wird daraus das kostbare Rosenöl geschöpft, danach sehen die Blüten nur noch grau und schmutzig aus. 30 Kilo ergeben einen Milliliter Öl, der im Laden zwischen sechs und zehn Euro kostet. Ich glaube, mir sind die Blätter lieber, das schwere Öl bewirkt bei mir den sofortigen Knockout.

Die Sonne steht jetzt höher, der Rosenduft wird schwächer. Viele Frauen sitzen am Feldrand auf der Erde, essen Joghurt aus dem Glas, Tomaten oder Baniza, mit Schafskäse gefüllte Teigtaschen. "Viel verdiene ich hier nicht, und mein Rücken tut ständig weh", sagt eine Frau mit buntem Tuch um den Kopf; vielleicht ist sie 50 oder auch viel jünger. Sechs Euro in fünf Stunden, rechne ich nach. Für Knochenarbeit und Frühaufstehen. "Immerhin", sagt sie, "kann ich diesen einzigartigen Duft einatmen, ganz umsonst." Während hier noch fleißig geerntet wird, verkommen anderswo die Rosenfelder: Zwei Drittel liegen brach, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wurden viele aufgegeben. Trotzdem ist Bulgarien nach wie vor der wichtigste Rosenöllieferant in Europa. Und die Duftrose immer noch ein nationales Symbol.

Bulgarien. Ein armes Land mit rund 7,5 Millionen Einwohnern, knapp ein Drittel so groß wie Deutschland. Mitte der 90er Jahre kollabierte die Wirtschaft, den Hungerwinter 1996/97 vergisst keiner so schnell. Inzwischen greift die Privatisierung, und die Inflation ist gestoppt. Trotzdem leiden die Bulgaren unter den hohen Lebenshaltungskosten, vor allem für Strom und Heizung. Viele machen neben ihrer offiziellen Arbeit (Durchschnittseinkommen: knapp 160 Euro im Monat) noch Zweit- und Drittjobs, die Schwarzarbeit floriert.

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Womit ich nicht gerechnet habe: dass ich in ein Land fahren würde, das sich immer neu erschafft. Wenn ich glaube, Bulgarien ein Stück weit zu kennen, kommen völlig unerwartete Bilder dazwischen, und ich muss meinen inneren Film schon wieder umbauen. Und was ich ebenfalls nicht dachte: dass ich auf dieser Reise so viele Glücksmomente haben würde. Ich wusste nicht, dass es das noch gibt, diese Welt von gestern, die morgen wahrscheinlich immer noch gestrig sein wird. Bilder, die Sehnsüchte wecken, Erinnerungen an Kindheitstage, die in Zeitlupe verrinnen: rauschende Bäche, in denen Teppiche gewaschen werden; klapprige Eselskarren, auf denen sich das Heu gefährlich hoch türmt; alte Frauen am Straßenrand, in schwarze Tücher gehüllt, Plastiksandalen an den Füßen, die aus dicken Schoten Erbsen pulen und sich Geschichten erzählen, die ich nicht verstehe. Erstaunen darüber, dass die Welt so betörend langsam sein kann, so unaufregend in meinem sonst so hochtourigen Leben.

Unlesbare Ortsschilder

Auf der Dorfstraße von Kalofer. Plötzlich hält ein Lada neben mir. Wie es jetzt wohl läuft, so ohne den Dolmetscher? 25 Wörter Bulgarisch habe ich mühsam auswendig gelernt. Brot heißt "klap" und "hubavo" schön. Wie weit ich damit wohl komme? Doch da fragt mich schon eine dicke Frau in schönstem umständlichem Deutsch, ob ich Hilfe bräuchte. Sie klettert aus ihrem Auto und dirigiert mich auf den Beifahrersitz. "Sie wollen zu Rascho Zuzow, dem Rosenzüchter? Ich fahre Sie hin. Und morgen müssen Sie unbedingt nach Kasanlak zum Rosenfest kommen, die ganze Welt ist da." Als ich noch überlege, wer wohl die ganze Welt ist, zeigt sie mir stolz zwei Bücher, die sie selbst verfasst hat, auf dem Cover ist ihr Foto abgedruckt. "Prosa, sehr schön geschrieben, Poesie ist nicht meine Sache." Schade, dass ich ihre Geschichten nicht lesen kann - aber ich werde die Schriftstellerin im roten Lada bestimmt nicht vergessen. Und ihren Tipp werde ich auch befolgen. Vesselin, der für mehrere Tage mein Fahrer ist, bringt mich zum Rosenfest. Allein am Steuer zu sitzen wäre ein Detektivspiel: Häufig tragen die Ortsschilder nur kyrillische Buchstaben.

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Kasanlak ist eine ziemlich unscheinbare Stadt in der Mitte Bulgariens. Schon am Morgen wird sie von Japanern, Amerikanern und Deutschen belagert. Polizisten haben die Straße für den Festzug abgesperrt, mehrere Fernsehteams warten. Dann ertönt aus dem Lautsprecher eine pompöse Begrüßung: "Welcome to the Rose Valley." Folkloregruppen ziehen ein, Männer mit großen Glocken, die aussehen wie die wilden Kerle aus den Bergen, Mädchen und Frauen in blumenbestickten Gewändern, Fahnenträger, Zigeuner, Ballettgruppen, selbst Motorradfahrer und Straßenkehrer haben sich formiert. Dazwischen immer wieder Böllerschüsse, Konfetti, Rosenöl, das in die Luft gesprüht wird und alle auf wunderbare Weise eint. Die Rosenkönigin hat auf ihrer Tribüne Platz genommen, auf dem Kopf trägt sie eine glän-zende Krone, die Augen sind stark geschminkt, und allein für ihr Dauerlächeln hätte sie schon einen Preis verdient.

Bulgarien und die EU

Als der Umzug vorbei ist, schwenken Kinder kleine Nationalfahnen, auch EU-Flaggen tauchen auf - in den nächsten Jahren ist der Beitritt Bulgariens geplant. Auf dem zentralen Platz tanzen die Einheimischen in der Sonne zu lauter Musik, Großväter und Enkel fassen sich an den Händen, und wer im Café noch einen Platz sucht, muss lange warten - die Logenplätze sind begehrt. Die Rose hat die Stadt in einen kollektiven Rausch versetzt. Wer träumt da nicht von blühenden Landschaften und Reichtum? Der Duft liegt noch eine ganze Weile auf meiner Haut - auch nachdem wir die Stadt längst verlassen haben.

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"Ich werde Ihnen doch keine Bonbons anbieten, so was Triviales. Bier ist interessanter!" Mit diesen Worten begrüßt uns die Äbtissin Melania im Kloster Sokolski und winkt uns an den Besuchertisch, auf dem schon eine große Flasche Bier steht. Nach dem Trubel und Taumel des Rosenfests sind wir an diesen stillen Ort gefahren, von denen es in Bulgarien so viele gibt. Das Frauenkloster, eine große Anlage mit einem verspielten Brunnen im Innenhof, liegt nicht weit von Kasanlak, an den Hängen des Balkangebirges, die aussehen wie grüne Teppiche. "Falkenhorst" heißt die Gegend hier, und bei schlechtem Wetter kommen die Wolken so weit herunter, dass man kaum noch die grüne Kuppel der kleinen Kirche erkennt. Melania gießt unsere Gläser voll und trinkt gleich einen kräftigen Schluck. Die 61-Jährige hat ein markantes Gesicht mit dichten Brauen und große, kräftige Hände. Leider, sagt die Äbtissin, würden in Bulgarien immer weniger Frauen ins Kloster gehen, im Moment lebt sie mit zwei Nonnen und einer Novizin zusammen. Früher, erzählt sie, hat sie lange als Tischlerin gearbeitet. Ihre Bekehrung zu Gott? Eine dramatische Geschichte. Ihr damaliger Freund sei sehr eifersüchtig gewesen, unterstellte ihr Affären, und in ihrer Not log sie ihn manchmal an. Eines Tages kam es zum Streit, er war betrunken, hob eine Axt, und in diesem Moment schloss Melania mit ihrem Leben ab. Dass er dann doch nicht zuschlug und das Schicksal ein Einsehen hatte, brachte sie zum Glauben und zu Gott. Seit zehn Jahren ist Melania jetzt Nonne. Vermisst sie das Weltliche überhaupt nicht? "Nein", sagt sie lachend und trinkt noch einen Schluck. "Sicher, der Teufel lässt uns nie in Ruhe. Aber ich lebe in Harmonie mit mir, früher war das nicht so." Dann steht sie auf und drückt uns freundlich die Hand. "Entschuldigen Sie, aber ich muss die Abendmesse lesen." Ich höre die Glockenschläge, die Dämmerung legt sich wie eine Decke über das Kloster, der Brunnen plätschert. Hier würde ich gern ein paar Tage unterkriechen, denke ich, oder eine Woche, oder wer weiß.

Die Frauen sind ein echter Hingucker

Und gleich danach nach Plovdiv fahren, Bulgariens zweitgrößte Stadt, die auf mehreren Hügeln erbaut ist, links und rechts von dem breiten Fluss Mariza. Um nach der verschärften Einsamkeit des Falkenhorsts in einem Straßencafé ein italienisches Eis zu essen, über die rummelige Fußgängerzone zu flanieren, mir die goldglänzenden Ikonen-Kopien anzuschauen, die an die Touristen verkauft werden, oder die schreiend bunten Landschaftsbilder. Hier in Plovdiv taucht wieder dieses Gefühl auf, das mich auf der ganzen Reise begleitet: Bulgarien ist niemals wie das Bild in meinem Kopf, immer wieder zoomt die Kamera neue Einstellungen heran. Auch die Frauen von Plovdiv sind ein Film für sich: knallrotlippig, schrill, echte Hingucker, wie sie da über die Laufstege der Straßen stolzieren. Die Röcke wehen wie Fähnchen um ihre Beine, die Pumps sind gefährlich hoch, die T-Shirts lila, gelb, grün, himmelblau - wahrscheinlich finden sie uns Westfrauen gähnend langweilig.

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Einer meiner Lieblingsplätze in Plovdiv ist das römische Amphitheater. Der Blick schweift über die langen Sitzreihen zum Bühnenraum, dahinter erheben sich Hochhäuser und die Berge. Gerade wird "Aida" geprobt, in wenigen Tagen ist Premiere. Ein Pianist stimmt den Triumphmarsch an, der Chor legt los, noch etwas vorsichtig, ein paar spanische Touristen fallen mit ein. Dann intoniert der Pianist eine Arie der Aida, die Solistin ist noch nicht zur Stelle, plötzlich übernimmt eine klangvolle Stimme aus dem Publikum: "Qui Radames verrà." Die Zuschauer klatschen, eine junge Frau mit schwarzen Haaren geht leichtfüßig die Stufen hinunter auf die Bühne und singt die ganze Arie, danach fröhliches Gelächter und Beifallsbekundungen in allen Sprachen. Plovdiv ist in diesem Moment international und lässt die Welt rein.

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Als ich gegen Abend durch die berühmte historische Altstadt gehe, habe ich das Gefühl, die Welt schließt sich wieder, und ich bin an einem völlig anderen Ort: enge, verwinkelte Gassen, bunt angemalte Häuser aus der Zeit der "Wiedergeburt", als Bulgarien im 19. Jahrhundert wirtschaftlich aufblühte. Verspielte Erker, bunte Ornamente, Holzschnitzereien, Fachwerk, ein bisschen museal wirkt das alles, liebevoll restauriert und unverhofft schön - eine Stadt wie aus einem fernen Märchen.

Stadt. Land. Fluss. Fehlt nur noch das Schwarze Meer. Die Bulgaren lieben ihr Meer, viele verbringen ihre Sommerferien dort. Einen Namen habe ich häufig auf dieser Reise gehört: Sosopol, einer der ältesten Orte am Schwarzen Meer. Südlich von Burgas gelegen, südlich von den schaurigen Bettenburgen.

Ich halte die Nase in den Wind und rieche Fisch und Feigen. Eine bizarre Mischung. Der wunderschöne Küstenweg ist von Feigenbäumen gesäumt, die ihre Blätter in den blauen Himmel strecken. Ein Hauch von Mittelmeer, das Wasser glänzt türkisfarben. Schon wieder ein anderes Bulgarien. In den Restaurants, die auf Felsterrassen gebaut sind, wird frischer Fisch serviert, während fette Möwen sich gegenseitig die Brotkrumen abjagen. Unterhalb der Felsen ist feiner Sandstrand, von der Sonne erwärmt, und die Wellen rauschen direkt in die Seele.

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In der Altstadt bieten Einheimische Privatquartiere an, manche von ihnen können Deutsch - schnell finde ich ein gemütliches, billiges Zimmer mit Loggia, von dort kann ich fast ins Meer spucken. Am Nachmittag füllen sich die Gassen, die Touristen flanieren an den Schwarzmeerhäusern vorbei, die fast zu dunkel sind für die Leichtigkeit des Ortes. Bemalte Erker, schöne Holzveranden, Rosen und Wein ranken sich an den Mauern hoch. Cafés, Souvenirshops, obszöne Postkarten. Backpacker mit großen Rucksäcken probieren billige Turnschuhe an. Gerade rollt ein Mercedes Cabrio mit bulgarischem Kennzeichen über das Pflaster, die beiden jungen Männer tragen dunkle Sonnenbrillen, was sonst, Smokies "Living Next Door To Alice" dröhnt aus dem Auto, und eine alte, zahnlose Frau bleibt stehen und wackelt im Takt mit den Hüften. Dann geht sie beschwingt zu der Garageneinfahrt gegenüber, in der ein Tischchen aufgebaut ist. Sie winkt mir, ich solle kommen. Auf dem Tisch liegen Häkeldecken, wie sie meine Großmutter in ihrem Wohnzimmer hatte. Ich kaufe zwei Deckchen, eierschalenfarben. Die Frau strahlt, nimmt eine rote Rose aus dem Marmeladenglas, das vor ihr steht, und reicht sie mir. Ich schnuppere - die Rosen von Kasanlak duften schöner, denke ich. Aber wann hat mir schon mal eine Frau eine rote Rose geschenkt?

Reise-Infos Bulgarien

Balkan Trek: Der kleine Veranstalter bietet Reisen durch Bulgarien mit Schwerpunkt auf Fauna und Flora, Geschichte und Kultur. Angebote unter www.balkantrek.com.

Ausführliche Infos über Unterkünfte, Pauschalreisen und das Land unter www.visitbg.de.

Buchtipps: "Bulgarien", Dumont Reisetaschenbuch mit viel Hintergrundinfos (12 Euro). - "Bulgarien", Reise Know-How-Führer mit praktischen Tipps und Adressen (22,50 Euro).

Literaturtipps: Romane aus Bulgarien

Ehrlich und humorvoll sind diese Romane aus Bulgarien und anderen Ländern Osteuropas - und für uns eine Entdeckung.

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Text: Franziska Wolffheim Fotos: Sabine Steputat

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