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Mit Sigrid Damm auf Schillers Spuren

Was die Schriftstellerin Sigrid Damm bei unserer Wanderung durch Weimar von dem besessenen Arbeiter Friedrich Schiller zu berichten weiß, ist erstaunlich.

Sie kommt von Goethe. Von seinem Gartenhaus. Vor unserem Treffen hatte Sigrid Damm noch ein wenig Zeit und Sehnsucht nach einem Herzensort, der dem alten Klassiker nicht allein gehört. Dort, wo das Löwenmäulchen wächst und die Jungfer im Grünen, hat sie früher manchmal ein Schläfchen gemacht an einem Platz, den kein Gartenhaus-Besucher sehen kann. Sigrid Damm wird uns nicht zu ihrem Versteck führen am nächsten Tag. Diese Oase, in der sie Kraft schöpfen konnte, spart sie aus bei unserer literarischen Wanderung durch Weimar. Vielleicht weil es diesmal nicht um Goethe geht. Vielleicht aber auch, weil Sigrid Damm selbst im Hintergrund bleiben will, wenn sie einem anderen nachspürt.

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Den Toten die Würde lassen und den Alltag ihres früheren Lebens beschreiben - das kann sie wie keine Zweite. Ihre Biografie "Christiane und Goethe" war mit rund 500000 Exemplaren das bestverkaufte Werk des Goethe-Jahres 1999. Und jetzt also Friedrich Schiller, ein Großer schon zu Lebzeiten. Sigrid Damm hat sich seiner angenommen, obwohl sie bis vor zwei Jahren alles andere als große Stücke auf den Mann gehalten hat. Was ist, wenn man über jemand schreibt, den man eigentlich nicht mag? Mit dieser Ausgangsfrage trat sie ihre Wanderung durch "Das Leben des Friedrich Schiller" an. Wir machen uns mit ihr noch einmal auf den Weg.

Wir gehen zu Fuß. Weil es nicht weit ist zu Schillers erster eigener Wohnung am Frauenplan in Weimar, direkt neben Goethes Haus. "Ich wandere die Linien seiner Lebenszeit entlang, erschließe mir die Landschaft seiner Jahre", hat Sigrid Damm über ihren Weg zu Schiller geschrieben. Sie ist wirklich viel gelaufen, um diesen Schiller von Schichten aus Gips und Marmor, Bergen von Sekundärliteratur, unzähligen Anekdoten und ihren eigenen Vorbehalten zu befreien. Allerdings, bei Schiller gab es wenig zu entdecken, da hat die Zunft der Literaturwissenschaftler ganze Arbeit geleistet. Aber den Briefschreiber Schiller, den hat Sigrid Damm trotzdem noch einmal ganz genau betrachtet. Hat seine Briefe bis zu siebenmal gelesen, hat sie abgeschrieben mit der Hand, um Wort für Wort ein Gefühl für diesen Mann zu entwickeln. Über sein Werben um Goethe zum Beispiel, der ihn, den schon berühmten Nachbarn, jahrelang behandelt wie Luft: "Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen“, schreibt Schiller im Zorn.

In Weimar zog Schiller in Goethes Nachbarschaft

Wir stehen vor seinem Haus und ahnen die Hassliebe: Nur zwei Häuser trennen Goethes Heim von Schillers Wohnung, die er von November 1787 bis Mai 1789 gemietet hat, um dem verehrten Kollegen nah zu sein. Dazwischen der Gasthof "Zum weißen Schwan“, den es damals schon gab. Die Enge lässt uns Gefühle verstehen auf einen Blick. Goethe hat sein Urteil über Schiller später revidiert. Sigrid Damm auch. Besonders imponiert ihr, wie Schiller auf die andauernde Demütigung reagiert hat: "Er hat sich gesagt: Jeder Mensch muss Seins machen. Und wenn ich meine ganze Kraft in mein Werk stecke, dann wird der mich auch mal kennen, wie ich ihn heute kenne." Der Plan ging auf. Die Freundschaft der beiden Dichter ist legendär.

Sigrid Damm hat einen Strauß Blumen gekauft auf dem Markt. Für Friedrich Schiller und für Goethes Christiane. Beide liegen auf dem Jakobsfriedhof. Immer wenn sie in Weimar ist, besucht sie die Gräber. Im Kassengewölbe hat Schiller seine erste Ruhestätte gefunden. Die Geschichte, dass man 20 Jahre nach seinem Tod die Gebeine suchen ließ, erzählt Sigrid Damm nicht gern. Auch nicht, dass Goethe den Schädel des Freundes über Monate in seinem Haus behielt, bis der Herzog ihm einen Platz zuwies in der Weimarer Bibliothek in einem verschlossenen Behältnis. Schiller konnte sich gegen all dies nicht mehr zur Wehr setzen, auch nicht gegen die Stilisierung durch seine Frau Charlotte, die nach seinem Tod "ordentlich das Weihrauchfass über ihm schwang", wie Sigrid Damm die Anfänge der Schiller-Heroisierung nennt.

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Das Haus sieht einladend aus, leuchtet warm in Gelb. Als Schiller mit seiner Familie einzog, war es eines der schönsten und repräsentativsten Häuser in Weimar. Drei Etagen, Seitengebäude, Stallungen. Nur wenige Minuten zum Frauenplan, Markt und Schloss keine 300 Meter entfernt. Ein Garten, ringsum Grün. Die Esplanade ist Spazierweg und für Kutschen gesperrt. Fußgängerzone wie heute also. Schiller, den Krankheiten quälen, seit er ein Kind ist, bleiben nur drei Jahre im neuen Heim. Seine Lebenszeit läuft ab, er weiß es. Schiller arbeitet wie ein Besessener, will seinem Körper so viel wie möglich abringen. "Wenn das Gebäude zusammen fällt, so habe ich doch vielleicht das Erhaltenswerte aus dem Brande geflüchtet", schreibt er an Goethe. Auch das hat Sigrid Damm gerührt an diesem Mann, der wie so viele ernsthafte Dichter sein Werk mit dem Leben bezahlt. 50 Jahre, das ist die magische Zeitgrenze, die Schiller zu erreichen hofft. Nur 45 Jahre wird er alt.

Sein Arbeitszimmer ist sein Sterbezimmer. Über 50 Jahre hat Sigrid Damm das Schillerhaus gemieden, weil sie hier als Schülerin Beklemmungen bekam. Mit ihrer Klasse stand sie zwischen Bett und Schreibtisch und empfand die räumliche Nähe viel zu intim und unzulässig. Ebenso die Erzählungen der Führerin: die Schädel-Geschichte, den Obduktionsbericht, nach dem Schiller schon seit zehn Jahren hätte tot sein müssen wegen seiner heillos angegriffenen Organe.

Schiller - ein großartiger Dichter und begeisterter Vater

Wir steigen nach unten. Die Kammern der Kinder. "Schiller hat seine ganze Existenz auf sein Schreiben ausgerichtet", sagt Sigrid Damm. "Trotzdem hat dieser fleißige Mann seine Nase nicht nur in Bücher gesteckt. Er hat verstanden zu leben. Auch wenn dies immer nur ein kurzes Atemholen war, um dann weiterzuarbeiten." Seine Kinder haben ihm eine Ration Extralebensluft beschert, das gehört zu den berührendsten Erkenntnissen ihres Buches. Mit all seinem Enthusiasmus, dem wir die Ode "An die Freude" verdanken, die Beethoven in seiner "Neunten" zum Klingen gebracht hat und die heute als Europa-Hymne zur Umarmung für Millionen geworden ist - mit all diesem Enthusiasmus war Schiller auch Vater.

Die Wege, die Sigrid Damm in der Vergangenheit geht, sind immer auch Wege ins Heute. Mit jedem fremden Leben kommt sie sich selbst ein wenig näher: "Ich bin über Lenz zum Schreiben gekommen. Ich wollte wissen, was ihn zum Verstummen gebracht hat. Darüber habe ich meine Sprache gefunden und meine Erfüllung." Darum geht es ihr bis heute: Die Erfahrung eines anderen teilen. Und mitteilen. Die Verletzbarkeit eines anderen spüren und damit seine Menschlichkeit. So bricht sie Geschichte auf. Wir kommen an auf dem Platz, der Schiller und Goethe vereint vor dem Deutschen Nationaltheater. Goethe trägt den Lorbeerkranz, Schiller greift danach, das Gesicht abgewandt. "Die klassische Kälte des Standbildes", hat Sigrid Damm dieses Denkmal beschrieben. Man kann den Giganten nicht ins Gesicht sehen, ohne dass der Nacken schmerzt.

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Was sieht sie, jetzt nach ihrer Wanderung, wenn sie an ihr Gegenüber Schiller denkt? - Einen Mann, der ein besessener Arbeiter war und diesen Einsatz nicht als Opfer empfunden hat, sondern jedwede Vergeudung von Zeit und Talent als Todsünde. - Einen Enthusiasten, der daran geglaubt hat, dass man zur Freiheit durch das Reich der Schönheit wandelt und dass die ästhetische Erziehung des Menschen ein Weg sei zur Verbesserung der Welt. - Einen Dichter, der lange gehofft hat, die Kunst möge die Kraft haben, so viel auszurichten, und der für diesen Glauben seine Gesundheit riskiert hat und sein Leben. - Einen Menschen, der Sigrid Damm mit seinen Denkangeboten und seiner Konsequenz tief beeindruckt hat.

Schillers Schönheitsbegriff, was kann er uns heute bedeuten? "Dass wir uns frei machen von hunderttausend unwichtigen Dingen in dieser überreizten Konsum-, Medien- und Bilderwelt", ist ihre Antwort. "Dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren." Und nur betrachten, was wirklich wichtig ist im Leben. Wandern hilft. Das Schüttelmaß der Schritte. Wir haben es erfahren an diesem Tag in Weimar. Die Beine sind schwer, als würden kleine Bleigewichte sie zuverlässig mit dem Boden verbinden, aber der Kopf ist leicht. Und die Gedanken, sie schweben frei. Schiller hätte es wohl gefallen.

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Buchtipp: Sigrid Damm: "Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung", Insel Verlag, 489 Seiten, 24,90 Euro

Text: Angela Wittmann Fotos: Ute Karen Seggelke

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