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Pilgern in Deutschland: Der Weg in die Stille

Pilgern in Deutschland: BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiterin Silke Pfersdorf versuchte, auf dem Mosel-Camino wieder ins Gleichgewicht zu kommen - mit besten Aussichten.

1. Tag: Von Koblenz-Stolzenfels bis Alken

Wie hält man durch, was man am liebsten gar nicht anfangen würde?

Irgendwann werde ich sowieso den Bus nehmen. Oder ein Taxi. Gerade erst habe ich den Rucksack auf dem Rücken, und schon habe ich unheilige Gedanken. 180 Kilometer zu Fuß auf dem Mosel-Camino. Ein Wahnsinn, die Idee einer durchfeierten Nacht. Ein paar Tage runterschalten, den Motor abkühlen lassen, zur Ruhe kommen. Machst du nie, sagten meine Freundinnen. Mache ich doch, sagte ich. Und damit hing ich drin.

Dabei hasse ich Wandern, konnte es noch nie leiden. Jetzt geht es auch noch bergauf, und zwar kräftig. Früher ordneten Pilger ihr Leben, machten ihr Testament, zahlten ihre Schulden, bevor sie sich auf den Weg machten. Nichts davon hatte ich erledigt. Ein guter Grund umzukehren, denke ich grimmig. Mächtige Burg, dieses Stolzenfels. Und jetzt geht es auch noch weiter hoch, direkt auf die Hunsrückhöhen, vorbei an den Mauerresten des Merkurtempels, ein paar zu großen Straßen und einer wenig idyllischen Tankstelle direkt in den Stadtwald. 23 Kilometer hält der Tag bereit.

Pause? Nö. Ich will ankommen, und das möglichst schnell. Der Wald ist schön, gebe ich zu. So still, so licht. So weich der Boden. Zwei, drei Kilometer lang schleppe ich mein Grollen noch mit. Mit den Stunden finden meine Schritte so was wie einen Rhythmus. Drei Stunden später scheint mein Rucksack leichter. Weil die vier Butterbrote nicht mehr drin sind? Oder hat mich vor allem mein Unmut belastet? Am Wegweiser zur Wallfahrtskirche auf dem Bleidenberg bin ich vorbeigelatscht. Und damit an der Jakobsmuschel, die mir die Richtung zeigt. Wie auf den vielen Jakobswegen, die es in Europa gibt. Muschelsuchen muss ich also noch üben. Dann kann ich nicht mehr. Bin atemlos. Weil der Blick mich umhaut. Die Burg Thurant, das Moseltal. Über eine Felsklippe führt ein Pfad zur Alkener St. Michaeliskirche.

Die erste Etappe ist geschafft. Den Pilgerstempel gibt es hier in der Bäckerei. Dort gibt es auch leckeren Apfelkuchen. Tagesgäste suchen Parkplätze für ihre Autos. Ich bin zu Fuß hier, möchte ich voller Stolz schreien, ich bin gelaufen. Meine Füße brennen. Herrlich. Was das Durchhalten angeht: Nur wer die Zähne nicht mehr zusammenbeißt, kann wieder lachen.

2. Tag: Von Alken bis Karden

Hinnehmen, was kommt - auf dem Weg und im Leben.

Seit ich beschlossen habe, mich nicht mehr zu sperren, laufe ich auch gegen nichts mehr an. Man kann auch schneller ans Ziel kommen als zu Fuß, klar. Aber beim Pilgern muss man es nicht. Ein Gedanke, der seltsam ruhig und zufrieden macht. Keine drängende Uhrzeit, keine Aufgabe. Nichts wartet außer einem langen Fußmarsch. Das befreit auch von eigenen Erwartungen. Und: Wenn man nicht ständig auf Großes hofft, fallen einem plötzlich die Kleinigkeiten ins Auge. Lila Blümchen, winzig, am Wegrand. Das wogende Grün der Felder. Ameisenstraßen, Kompanien aus jungen Weinblättergirlanden. Auf einer Anhöhe, dem Küppchen hoch über dem Baybachtal, starten Gleitschirmflieger in die Freiheit, über allem zu schweben. Auch Laufen ist Freiheit. Sinnlos und wertvoll zugleich. Zeit für mich allein. Hape Kerkeling traf Hunderte von Leuten auf seinem Pilgerweg nach Santiago.

Hier, auf dem Mosel-Camino, treffe ich niemanden. Sobald es von der Straße auf einen Weg in den Wald oder durch Felder geht, bin ich mit meiner Labradorhündin Yuna allein. Meinen MP3-Player habe ich vergessen, aber komischerweise ist mir auch nicht nach Musik. Stört den Rhythmus. Den der Beine, den der Gedanken. Im kleinen Ort Lasserg verlaufe ich mich wieder, weil ich den Baumstamm mit der Muschel, an der ich abbiegen soll, nicht entdecke, ich muss ein Stück zurück. Dann Felder, der plätschernde Elzbach und eine unter Renovierungsplanen vermummte Burg Eltz. Seltsame Windungen macht der Weg. Mit dem Bus oder Taxi kommst du hier nie hin, denke ich. Auch eine Art von Exklusivität und damit ein Stück Luxus. 19 Kilometer habe ich geschafft, es ist 16 Uhr, als ich in Karden ankomme. Das erstbeste Weingut mit Gästebetten ist meins, garantiert.

3. Tag: Von Karden bis Bullay

Nutzt man die Zeit vielleicht besser, indem man sie mal nicht benutzt?

Meine Stunden haben nur einen Zweck: laufen. Dazu muss ich meine Beine an diesem Morgen allerdings erst mal wachrütteln, und meine Sohlen brauchen dringend Hirschtalgeinreibung gegen Blasen. Die ersten zwei Kilometer über die Moselbrücke nach Treis und über einen entzückenden Pfad an der Mühle vorbei fühlen sich mühsam an, aber dann groove ich mich ein. Zehn Kilometer bis Engelport, verheißt ein Wegweiser, vor einer Woche hätte mich allein die zweistellige Zahl völlig aus dem Tritt gebracht. Beim Aufstieg über den holprigen Weg komme ich ganz schön ins Schwitzen. "Selbstfindung und so?", hatten meine Freunde gefragt, als ich ihnen von meinem Pilgervorhaben erzählte. Blödsinn, hatte ich gelacht, nur weil ich durch die Gegend latsche, werde ich doch kein anderer Mensch, und nachdenken kann ich auch, ohne zu wandern.

Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Es denkt sich anders. Fremde Gedanken klopfen an. Die, die es sonst nicht ins Bewusstsein schaffen, weil keine Zeit ist oder zu viel Drumherum. Vier, fünf Stunden lang mit sich allein - und nichts und niemand hindert eine Überlegung daran, sich im Hirn kreuz und quer zu legen. Störungsfreie Zonen, ständig. Wer sich nach außen verschließt, öffnet sich nach innen. Ein guter Moment, den Weg mit dem Leben zu vergleichen: das Glücksgefühl nach einer Anstrengung; die Bedeutung der Langsamkeit. Und warum Zeit viel genutzter ist, wenn man sie eben nicht benutzt. "Unsere größten Erlebnisse sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden." Stand auf einer der Holzstelen, die den Weg zum Kloster Engelport im Flaumbachtal säumen. Abends denke ich darüber nach, nach 26 Kilometern Pilgerpensum, im Daunenbett einer Pension in Bullay. Und über etwas, was der Schriftsteller Paulo Coelho gesagt hat: "Es tut gut, etwas Langsames zu tun, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft."

4. Tag: Von Bullay bis Traben-Trarbach

Wer sich auf den Moment konzentriert, lebt intensiver.

Es nieselt, während ich hinter dem Ort Alf Richtung Prinzenkopf-Höhe durch ein Neubaugebiet mit lauter Pfützen tapse. "Sie pilgern?", fragt mich ungläubig ein alter Mann, während sein Schäferhund lüstern meiner Yuna nachstellt. "Müssen Sie da immer draußen schlafen?" Auf der Strecke nach Zell gibt es Wald, Wiesen, etwas Straße. Nichts Besonderes also.

Das, was zählt, spielt sich längst in mir selbst ab. Manchmal frage ich mich, was mir der Weg sagen will, was ein Stolpern bedeutet oder ein steiler Pfad, der mir den Atem nimmt. Wieso in die Gedanken an heute und gestern immer so viel morgen kriecht. Und warum manche Gedanken Widerhaken haben. Werde ich jetzt komisch? Am Moselufer in Zell erhebt sich ein Schwan drohend wie ein Racheengel über seinem Nest, als ich ihm zu nahe komme. Über Schiefer und faulige Blätter geht es in die Weinberge. Ein Streifen aus Sonnenlicht thront inzwischen über dem Hunsrück. Später, im Wald, sinken die Schritte tief ins Moos. An der kleinen Kirche von Enkirch geht es zum Rottenblick zwischen Wald und Weinbergen und Schrebergärtchen. Ein Stück Deutschland in den 50ern, weit weg von der Zeit.

Abends sitze ich mit Winzertochter Ulrike Böcking beim kalten Riesling vor der alten Lateinschule in Traben-Trarbach, die die 63-Jährige zur Pilgerherberge ausbauen ließ. Sie erzählt von einem alten Trarbacher Pilgerpaar, das in Spanien in der Kirche hockte, als der Organist plötzlich ihr Hochzeitslied spielte. Und von der Neuseeländerin Susan, die am 138. Tag ihrer Pilgertour von Trondheim nach Santiago bei Ulrike Böcking einkehrte, weil ein Freund von ihr just beim Telefonat mit ihr ein Jahr zuvor genau hier stand. "Wer pilgert, erlebt oft seltsame Dinge", ist Böcking überzeugt. Weil Kleines groß wird, Zufälle Bedeutungen bekommen. Vielleicht.

5. Tag: Von Traben-Trarbach bis Klausen

Warum habe ich im Leben bisher eigentlich jeden Tag danach beurteilt, was er mir geboten hat? Oder: Was habe ich mir selbst eigentlich geboten?

Alte, in Blech gestanzte Wegweiser, braune Kühe auf dem Weg nach Bernkastel. Almenromantik irgendwie, ein Heimatfilm. Wild windet sich die Mosel über Kröv, der Blick stürzt von abenteuerlichen Weinberg-Steillagen in die Tiefe. In Bernkastel-Kues pflücke ich Yuna Zecken aus dem Fell, bevor wir auf den Höhenweg über Lieser wandern. Es riecht nach Waldmeister, und der Kuckuck schreit. Weiter über Monzel, dann erreiche ich den Marien-Wallfahrtsort Klausen. 100 000 Pilger pro Jahr fallen hier ein. Heute bin ich die Einzige. Ich schnuppere mich durch den Kräutergarten, den der Pfarrer hinter der Kirche angelegt hat, setze mich ins Gras. Hundemüde bin ich. 30 Tageskilometer ziehen an mir vorüber. Zerlegt in Tausende von einzigartigen Einzelbildern.

6. Tag: Von Klausen bis Schweich

Wer das Schweigen aushält, kommt mit sich selbst ins Gespräch.

Der Schmerz in mir ist laut, meine Füße schreien. Die Stille des Waldes nervt plötzlich, der weite Blick langweilt, und ein Gewitter zieht auf. Gedanken, die ich nicht will, greifen an, düstere Erinnerungen, triefende Traurigkeit. Irgendwann weine ich, kann nicht aufhören. Ich schimpfe über mich selbst. Die tiefen Erkenntnisse, der Durchbruch zur Seele? Quatsch. Aber am Pilgern liegt es vielleicht doch. Weil es erschöpft, weil es dünnhäutiger macht, weil Monotonie den eigenen Panzer bricht. Man hält trotzdem nicht an, läuft durch die Schwierigkeit mit dem Ich. Hoch und runter. Unter einer lärmigen Autobahnbrücke hindurch, hinein nach Schweich. In die Zufriedenheit am Abend mischen sich jedoch versöhnende Gedanken. Endlich.

7. Tag: Von Schweich bis Trier

Man muss eine Weile gehen, um zu sich selbst zu kommen.

Ich laufe wie in Trance. Und danke jeder Minute, jedem Meter. Für eine Erfahrung, die großartig ist. Pilgern. Nichts für einen Tag, nicht mal für ein Wochenende. Weil Langeweile dazugehört und von mir aus auch ein paar Schmerzen. Beim Marsch über die Römerbrücke in Trier stolziere ich dem Apostelgrab des heiligen Matthias in der Benediktinerabtei entgegen. Aufrecht, zufrieden. Nicht mal der Stadtlärm besiegt die Ruhe in mir. Ich habe eine Menge Langsames getan. Wenn Paul Coelho recht hat, könnte ich jetzt eigentlich eine wichtige Entscheidung treffen. Sich öfter mal auf völlig wahnsinnige Ideen einzulassen vielleicht. Mach ich nie? Mach ich doch!

Reise-Infos Pilgern

Der Mosel-Camino von Koblenz-Stolzenfels nach Trier ist 180 Kilometer lang.

Übernachtungen. Über mögliche Privatquartiere, die Pilger kostenfrei oder gegen geringes Entgelt aufnehmen, kann man sich bei den jeweiligen Pfarrämtern erkundigen, ansonsten gibt es überall Hotels und Pensionen jeder Preiskategorie. Ein paar besonders schöne Unterkünfte:

Koblenz-Stolzenfels: Jugendherberge Festung Ehrenbreitstein, U/F ab 26,50 Euro (Tel. 02 61/97 28 70, www.jugendherberge.de).

Traben-Trarbach: Die Herberge "Alte Lateinschule", tolles Frühstück mit selbst gemachten Marmeladen, gemütlicher Schlafsaal mit acht Betten, 18 Euro inkl. Frühstück (Kirchgasse 25, Tel. 065 41/58 51 oder mobil 0171/384 36 01, www.altelateinschule.com).

Hinkommen. Mit Bahn oder Pkw bis Koblenz-Hbf., dann mit dem Bus rund 10 Minuten bis Stolzenfels.

Zur Planung. Der leichtgewichtige Pilgerführer "Outdoor Mosel-Camino" (Conrad Verlag, 9,90 Euro). Gut für den Überblick: "Jakobswege in Deutschland - Unterwegs auf 10 berühmten Pilgerwegen" (Bruckmann Verlag, 29,95 Euro). Infos über die verschiedenen Jakobswege auch unter www.jakobsweg.de

BRIGITTE woman 07/12

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