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Zu alt für ein Kind?!

Zu alt für ein Kind? Viele Jahre schien es für unsere Autorin Sabine Reichel die allerbeste Idee, kinderlos zu sein, Freiheit und Spontaneität zu zelebrieren. Jetzt ist es zu spät für ein eigenes Kind.
Zu alt für ein Kind?!
© boerdi/photocase.com

Es war eine verheiratete Freundin, Ende 40, die mit ihrem vierten Kind schwanger war. Wir befreundeten Mütter und Nichtmütter fanden diese vielen Schwangerschaften "übertrieben" und haben auch kräftig gelästert. Bis sie mir bei einem letzten Treffen vor der Entbindung ganz direkt in die Augen blickte - es lag eine Spur Mitleid im Blick - und sagte: "Ich kann nicht verstehen, wieso man ein Leben ohne Kinder überhaupt wollen kann." Normalerweise empfand ich Mitleid mit Müttern in meinem Alter, besonders mit den nervösen und gestressten, die zu Hause öfter an mauligen, türenknallenden Teenagern verzweifelten und uns mit neidischen Augen zu betrachten schienen. Jetzt spürte ich eine Faust in der Magengrube und kam mir für einen Moment vor wie eine Falschspielerin, die mit gezinkten Karten erwischt wurde - zu alt für ein Kind.

Bin ich damals zu weit vorgeprescht, kläglich gescheitert?

Weil sie keine Kinder wollten, weil der passende Moment oder Mann fehlte, der mitmachen wollte, weil die Karriere wichtiger oder das Leben gerade so herrlich spontan und komplett ausgefüllt war - die Hauptgründe, warum viele Frauen zwischen 45 und 60 keine Kinder haben. Ja, und eines Tages war dann die biologische Uhr abgelaufen, ein letzter verzweifelter Babyversuch vielleicht noch bei einigen, aber für den Rest galt das Thema dann auch als abgehakt. Oder? Mich hatten nun späte Zweifel eingeholt. Woher kam die plötzliche Trauer über einen scheinbaren Verlust, den ich bisher nie so empfunden hatte? Bin ich vielleicht damals zu weit vorgeprescht und war letztendlich bei dem Versuch, dem typisch weiblichen Los der Mutterschaft ein Schnippchen zu schlagen, kläglich gescheitert? Und wo hatte sich der Kinderwunsch, sollte ich ihn denn heimlich gehabt haben, bloß versteckt, als ich jung war?

Rückblick 60er und 70er Jahre. Ja, sicher, eine Wahnsinnszeit, sexy, laut und frei. Aber sich als junge Frau in einer derart ungezügelten Epoche zurechtzufinden war gar nicht so einfach. Für alles gab es neue Rezepte, andere Fragestellungen, und viele in der neuen Frauen-Generation glaubten, ein Leben ohne Kinder sei revolutionärer und unabhängiger. Ich hatte damals keine eindeutigen Antworten auf die Frage, was Mutterschaft wohl bedeuten könnte. Pflicht, Zeitvertreib, Möglichkeit, Flucht oder Fluch? Oder sogar Glück? Nee, jedenfalls nicht für mich, denn so richtig glücklich sah das Konzept der Kleinfamilie ja nun wirklich nicht aus.

Ich hatte wie so viele von uns eine junge Mutter, deren Jugend stark von den Kriegsjahren, von Verzicht und Trauma geformt war. Nach dem Krieg explodierte die Geburtenrate; Kinder waren auch eine Chance zur emotionalen Heilung. Es gab keine Zeit für Fragen, nicht den Luxus der "Selbstfindung".

Jetzt ist es zu spät für ein Kind

Es gab nur Hoffnung: Es wird schon werden, wir haben den Krieg überstanden, wir haben die Städte aufgebaut, wir werden schon die Rolle der Mütter meistern. Töchter wie ich, die in diese Jahre hineingeboren wurden, hatten ängstliche, sich an Traditionen festklammernde Mütter, die brav in der Küche standen, ihren Mund hielten und Papis Hemden bügelten. Mich konnte meine Mutter trotz ihrer selbstlosen Bemühungen um die typische fröhliche Familienidylle der 50er Jahre nicht davon überzeugen, dass Unterwerfung und Verzicht zum Glück führen. Macholand war abgebrannt! Jetzt sollten die Themen Männer, Mutterschaft und Moneten neu aufgerollt werden. Wir wollten einfach diese machtlos machende Frauenrolle in unserem jugendlichen Ungestüm zerdeppern, hatten lange Haare und kurze Röcke, waren wild und idealistisch und gaben mehr der sexuellen Lust - mit Pille - als dem Fortpflanzungstrieb nach.

Mein Bauch gehört mir!

Die große Freiheit, die so prickelnd und wunderbar abenteuerlich vor mir leuchtete, sollte nicht von der Fessel Kind kaputt gemacht werden. Aber Pionierin wird man nicht über Nacht, und die Rolle war oft für uns Frauen auch eine Belastung. Wir waren blutige, wenn auch mutige Amateurinnen, die sich ohne vertraute Fußspuren und ohne Vorbilder auf den Weg zu einem ziemlich unbekannten Planeten machten. Es ging zuweilen ein bisschen sehr ideologisch und humorlos zu. Von Gebärzwang war die Rede und Sprüche wie "Mein Bauch gehört mir" wurden trotzig herumerzählt. Na ja, und wenn der leer blieb, war das ja auch wunderbar. Für viele Frauen aus der Generation ging diese Rechnung sogar auf.

Meine Freundin Melanie, 63, ist Malerin und lebt seit 30 Jahren mit einem heute 65-jährigen Schriftsteller zusammen. Beide wollten keine Kinder, "weil ein Künstlerhaushalt keine Kinder verträgt. Und ich wollte nicht zurücktreten", so Melanie. Sie ist ihren Prinzipien treu geblieben: "Ich finde die Panikmache wegen 'fehlender' Kinder absurd. Ist Menschenproduktion der Gesellschaft ein wichtigeres Anliegen als Menschenliebe? Die Welt muss verändert, nicht vermehrt werden."

Bittersüßes Erwachen aus dem Peace-und-Love-Traum

Aber die Welt tat, was sie will. Das Erwachen aus dem Peace-und-Love-Traum war denn auch bittersüß. Es wurde einiges bewegt und wichtige Änderungen eingeleitet, aber die bahnbrechenden Lebensentwürfe erwiesen sich als unrealistisch. Niemand wurde von Grund auf umerzogen. Die Hippie-Mütter und -Väter ließen antiautoritär verstörte Kinder ohne Orientierung zurück, und auch die angeblich tolle Alternative der alleinerziehenden Mutter erwies sich als gesellschaftlich unbelohnte Schwerstarbeit. Und es gibt durchaus Mütter, die nur halb scherzhaft sagen: "Hätte ich gewusst, wie hart das ist, dann hätte ich es mir noch mal überlegt." Das hätte Barbara, 59, die Fotografin ist, auch getan, aber aus umgekehrten Gründen. "Ich habe es viele Jahre sehr, sehr bedauert, dass ich keine Kinder habe. Mein damaliger Mann war viel älter als ich, geschieden, hatte zwei erwachsene Kinder und wollte keine mehr, und ich fand meinen Verzicht aus Liebe völlig in Ordnung damals. Jetzt sind wir geschieden, ich bin alt und träume heimlich von Adoptivkindern. Man soll nie aus Vernunftgründen auf etwas so Elementares wie Kinder verzichten."

Kinderkriegen ist keine Notwendigkeit, sondern eine Möglichkeit.

Oder zu lange darüber nachdenken. Die Metapher von abgefahrenen Zügen und verpassten Schiffen ist sehr interessant. Bei Verkehrsmitteln kommt eigentlich immer noch mal die Chance, wieder aufzuspringen, aber wir Menschen können unserer Biologie nicht entfliehen. Bei Kindern ist nun mal im Normalfall die Natur der große Regulator - auch wenn es uns gelegentlich gelingt, sie mit großem medizinischem Aufwand auszutricksen. Vera, 50, Bankerin, zum zweiten Mal verheiratet, sagt dazu: "Es ist fast tragisch. Jetzt endlich habe ich die Reife und die Lust, eine richtig gute Mutter zu sein, habe dazu einen tollen, kinderlieben Mann, der auch noch jünger ist, und nun streiken meine Eierstöcke. Warum ist das so ungerecht? Hoffentlich hält meine Ehe das aus."

Für viele aus der jüngeren Generation stellen sich solche Fragen - noch? - nicht. Anne, 36, Architektin und Tochter einer Freundin, hat sich entschieden. "Ich will keine! Endlich hat man wirklich die Wahl! Kinderkriegen ist keine Notwendigkeit, sondern eine Möglichkeit, die genauso sorgfältig geprüft werden soll wie jede andere Lebensentscheidung. Es gibt begabte und unbegabte Mütter. Letztere sollten nicht auf die Menschheit losgelassen werden. Ich bin ungeeignet für die dazu nötigen Opfer."

Aber es gibt auch ganz viele Unentschlossene. Besonders quälend ist heute für viele Frauen um die 40 die Frage, ob sie als Mutter dann Kind und Karriere perfekt unter einen Hut kriegen würden. In einem Moment, in dem gerade beruflich alle Türen weit offen stehen.

Filmproduzentin Johanna, die in Los Angeles wohnt, sagt: "Ich bin schon über 40 und kann nachts vor Grübeln kaum schlafen. Soll ich oder soll ich nicht? Was passiert dann mit mir? Diese Fragen rasen in meinem Kopf herum wie eine Rakete, und der Konflikt zerreißt mich! Mein Freund möchte gern ein Kind, aber ich habe fürchterlichen Horror, alles aufzugeben, wofür ich so lange gearbeitet habe."

In der dunkelsten Höhle unserer Psyche kämpfen das Ja und das Nein.

Es ist wohl eine überwältigende Angst vor Selbstaufgabe und auch Versagen, die viele Frauen so fest im Griff hält. Irgendwo ganz unten in der dunkelsten Höhle unserer Psyche kämpft das stumme Nein mit der Sehnsucht nach dem Ja. Bei mir war es eben das Nein, das mich in eine schwere Depressionsphase puschte. Keine Töchter und Söhne, also auch keine Enkelkinder, weder für meine Eltern noch für mich. Zu den Verlustgefühlen kamen noch Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber hoch. Ich habe sie manchmal mit leuchtenden Augen schnalzende Babys und vergnügt tobende Kinder betrachten und mich mit einem fragenden Blick streifen sehen. Ich hatte ihnen kein Baby zum Knuddeln, Spielen, Lieben und Aufpassen geliefert. Mir aber auch nicht. Nun würde keiner die schöne Nase, die perfekten Beine und den alles schmelzenden Charme meiner Mutter erben und niemand den Witz, das Musiktalent und die schlaksige Scheu meines Vaters.

Nur weil man die Welt auf den Kopf stellen wollte

Ich vermisse die Herausforderung, junges, provozierendes Leben um sich zu haben. Das Schlimmste aber ist wohl, dass man sich ohne Kinder um die größte und haltbarste Liebesgeschichte seines Lebens bringt. Und so ist es mehr das Gesamterlebnis "Abenteuer Kind", das ich am meisten vermisse, die echte Chance hinter dem narzisstischen Wunsch, durch seine Kinder in der Welt ein wenig weiter mitmischen zu können.

Jeder weiß, es gibt keinen absoluten Schutz vor Verlust, Einsamkeit und Angst, weder mit noch ohne Kinder. Für manche Frauen bietet dieses Erkenntnis wenig Trost. Andrea, 53, eine Möbeldesignerin, gesteht: "Das Wissen, dass kein Kind an meinem Grab stehen wird, bringt mich schon jetzt um."

Ich finde noch einen anderen Verzicht bedauernswert. Immer wenn ich meine Mutter besuche, wartet sie schon an der Tür auf mich, und ihre Augen leuchten mit so viel Freude, dass ich nur denke: "Ich habe keine Tochter, auf die ich mich so freuen kann", gefolgt von dem Gedanken: "Schade auch, dass mich niemand zur Mutter hat."

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Text: Sabine ReichelFoto: Photocase

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