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Vorfreude: Wann haben wir sie das letzte Mal genossen?

Geburtstag. Große Ferien. Wann haben wir uns zuletzt so richtig auf etwas gefreut? BRIGITTE WOMAN-Autorin Milena Moser will sich die Vorfreude zurückerobern. Jetzt!
Vorfreude: Wann haben wir sie das letzte Mal genossen?
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Bald werde ich 50. Ein großer Geburtstag. Ein wichtiger Geburtstag. Doch beim Gedanken, ihn zu feiern, empfinde ich - Müdigkeit. Sonst nichts. Das war früher anders. Mein Geburtstag fällt mitten in die Sommerferien, was bedeutete: keine Party oder erst, wenn der eigentliche Geburtstag längst vergessen war. Doch das hinderte mich nicht daran, mich Wochen im Voraus auf diesen Tag zu freuen. Jeden Sommer fuhren wir mit dem Auto nach Südfrankreich. Und obwohl ich mir jedes Jahr vornahm, am Abend vor der Abreise wach zu bleiben und zuzuschauen, wie der Kofferraum gepackt wurde, verschlief ich das Ereignis jedes Mal.

Doch auf der Fahrt wusste ich, irgendwo zwischen den Koffern und Taschen und Decken und Picknickkörben, zwischen meinem Bruder und dem großen Hund waren auch meine Geschenke versteckt. Weil im kleinen Dorfladen nicht alle Backzutaten zu bekommen waren, hatte meine Mutter manchmal den Kuchen schon daheim in der Schweiz gebacken. Der wurde so dick in Alufolie eingewickelt, dass ihn die Zöllner für Atommüll halten mussten, wenn sie ihn denn fanden. Aber leider fand ihn manchmal auch der Hund zuerst.

Es gibt hundert Gründe, sich zu freuen. Jeden Tag. Und je älter ich werde, desto kleiner die Gründe.

Vorfreude: Wann haben wir sie das letzte Mal genossen?
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Irgendwann, wenn keiner hinschaute, kletterte ich nach hinten und begann zu suchen. Da! Eine Schachtel, mit Zeitungspapier getarnt, zu groß, um in den Koffer zu passen! Ich konnte sie weder hervorziehen noch schütteln, um ihren Inhalt zu erraten. War es die lebensechte Puppe, die ich im Spielwarenkatalog angekreuzt hatte, weil meine Eltern sich weigerten, mir eine süße kleine Schwester als Ersatz für meinen vorlauten Bruder zu schenken? Waren es die gesammelten Bände der "Hanni und Nanni"-Reihe, nach der ich süchtig war? Zu Hause gab es leider nur vernünftige Bücher, die von wichtigen Themen und Problemen handelten. Oder hatten meine Eltern gar einen nie ausgesprochenen Wunsch nach einer eigenen kleinen Spielzeugküche erraten? Vor lauter Aufregung vergaß ich, dass mir beim Autofahren eigentlich schlecht wurde.

In der Nacht vor meinem Geburtstag konnte ich auch nicht schlafen. Ich starte ins Dunkle und versuchte mir vorzustellen, was es bedeutete, sieben zu sein oder elf. Wie es sich anfühlte. Kaum dämmerte vor dem Fenster der Tag, sprang ich aus dem Bett und weckte alle. "Ich habe Geburtstag!", schrie ich mit einer Begeisterung, die morgens um fünf niemand so recht teilen wollte. Doch meine Mutter hatte den Tisch schon vorbereitet. Da waren meine Geschenke! Mein Kuchen! Luftschlangen und Lampions! Die Puppe sah gar nicht aus wie ein echtes Baby. Die Bücher waren wieder vernünftige. Der Kuchen hatte die Reise diesmal nicht überlebt, stattdessen gab es sieben Madeleines, in denen je eine Kerze steckte. Das alles tat meinem Glück keinen Abbruch. Ich war nie enttäuscht. Die Vorfreude hatte mich gesättigt.

"Kinder sind die Meister der Vorfreude", sagt der Hamburger Diplom-Psychologe Oskar Holzberg. "Aber sie sind ja auch die Meister der Freude. In der kindlichen Vorfreude verschmelzen Fantasie und Realität noch zu einem unwiderstehlichen Glücksgefühl. Erwachsene dagegen unterscheiden genauer zwischen Realität und Fantasie. Das bremst die Vorfreude. Sie können sich der Illusion, die die Vorfreude anbietet, nicht mehr ungehemmt hingeben."

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Genau darum möchte ich meinen Geburtstag am liebsten ungefeiert verstreichen lassen. Und das Schlimmste daran: Alle verstehen das. "Das ist ein unglaublicher Stress", sagen meine Freundinnen, "so ein Fest macht man für die anderen." Es folgen Erzählungen von fürchterlich langweiligen oder protzigen Feiern, von missglückten Einladungen, von unüberblickbaren Kosten. Endlose Listen werden aufgezählt von Dingen, die es zu berücksichtigen, und anderen, die es zu vermeiden gilt. "Kinder können sich Vorfreude leisten, weil sie keine Verantwortung dafür tragen, dass die Ferien und Feiern gelingen. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen", sagt meine Freundin Kathrin, die vier Kinder hat. Sie selbst tut alles dafür, dass sie diese Vorfreude ausgiebig auskosten dürfen. Sie schürt sie regelrecht: Lässt Prospekte herumliegen, legt kleine Erinnerungen auf den Frühstückstisch, Plastikpferdchen, einen Eiffelturm in der Schneekugel, ein Mini-Flugzeug. Sie spielt italienische Schlager oder amerikanischen Country ab, je nachdem. Sie selbst stellt unterdessen Packlisten zusammen, wäscht, bügelt und flickt, sie besorgt eine homöopathische Reiseapotheke, schließt Versicherungen ab, und zuletzt putzt sie noch das ganze Haus. Von oben bis unten und selbst hinter den Büchern. "Was, wenn das Flugzeug abstürzt?" ist ihre Begründung. Ich selbst stelle mir den Tod eigentlich gnädiger vor, als eine Art Erlösung von allem, also auch von diesem Perfektionswahn. Wenn ich mir auch noch im Angesicht des Todes Gedanken über den Staub hinter meinen Büchern mache, dann will ich lieber gar nicht sterben!

"Die Betriebsamkeit unseres Lebens gibt wenig Raum für Vorfreude, die ja ein Tagtraum ist. Wenn wir unsere Vorfreude erleben wollen, dann müssen wir uns Zeit geben, um wirklich an das zu Erwartende zu denken, uns die Zukunft auszumalen, uns unserer Fantasie hinzugeben. Und wir können die negativen, trübenden Gedanken von der Vorfreude fernhalten. Wie wir für ein Brainstorming die Einwände stoppen können und nur die Ideen sammeln. So können wir für die Vorfreude die schönen Gedanken von den Bedenken und Befürchtungen trennen. Über die Vorfreude können wir erkennen, was uns wichtig ist."

"Was ist mit Tom?", frage ich Kathrin. Tom ist Kathrins Mann. Und der freut sich zusammen mit seinen Kindern. Abends legt er die Karte auf dem Tisch aus und fährt mit dem Fingernagel Radrouten nach. Die Kinder lachen ihn aus und laden ihm eine App für sein Handy herunter. In diesem Moment ist es egal, ob man für alle diese Touren genügend Zeit haben wird. "Die Radausrüstung passt aber nicht in den Koffer!", ruft Kathrin aus der Küche. Prompt ist sie wieder die Böse. Dabei will sie nur das Beste. Nudelfertig wird sie die Reise antreten. Und dann wird der Flug verschoben, das Hotel entspricht nicht den Bildern auf dem Internet, und das Wetter spielt auch nicht mit. Doch die Einzige, die sich darüber aufregt, ist Kathrin, die noch erschöpfter nach Hause kommt, als sie abgeflogen ist. Die anderen hat die Vorfreude gelassen gemacht.

Vorfreude: Wann haben wir sie das letzte Mal genossen?
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"Die Vorfreude entsteht als ausgeformte Fantasie, in der wir unsere Wünsche und Sehnsüchte aufleben lassen. Das kann auch Angst machen. Weil wir uns öffnen, ungeschützt geben, nicht kontrolliert sind. Vorfreude bedroht den Ängstlichen mit Enttäuschung, den Kontrollierten mit Kontrollverlust."

Das Unbekannte, das uns als Kinder so gereizt, das unsere Fantasie zu den verrücktesten Höhenflügen angeregt hat, dieses Unbekannte fürchten wir heute. Wir versuchen es zu bändigen und zu kontrollieren. Unbeirrbar halten wir an der Vorstellung fest, es sei möglich: die perfekten Ferien zu organisieren, das rauschende Fest zu feiern, die ganze Familie an einem Tisch zu vereinen. Obwohl uns das Leben immer wieder das Gegenteil beweist. Und uns bestraft, indem es uns die Freude nimmt, die nicht umsonst die schönste genannt wird. Die Vorfreude verkriecht sich verschreckt vor so viel Anspruch, so viel Planung. Die einzige Möglichkeit, sie wieder hervorzulocken, ist wohl, auf diesen Anspruch auf Perfektion zu verzichten. Die Planung lockerer anzugehen. Wie oft müssen wir noch erleben, dass das Leben sich ohnehin nicht nach unserer Organisation richtet?

"Die Vorfreude verliert an Ekstase im Lauf des Lebens. Wir werden realistischer, wir wissen, dass es keine Sonne ohne Schatten gibt. Aber dafür wächst dann mit der Reife im Leben, mit der Erfahrung darüber, was uns wirklich guttut, die Vorfreude auf das Gute, was uns mit Sicherheit erwartet. Die Vorfreude wird stiller, aber gewisser."

Vom Sommer ist noch nichts zu spüren. Ein eisiger Wind hat meine aufgestapelten Balkonstühle umgeweht. Fröstelnd trete ich hinaus, stelle sie wieder aufeinander, schaue in den grauen Himmel - und plötzlich ist sie da. Unbändige Vorfreude: auf den blauen Himmel, wärmende Sonnenstrahlen nach einem schier endlos scheinenden Winter. Auf die langen Abende, an denen ich auf genau diesen Stühlen sitzen werde, an einem langen blauen Tisch. Auf die Lampionkette, die ich am Geländer befestige und die ein schmeichelhaftes Licht auf meine Gäste wirft. Auf die Musik von den Nachbarbalkonen, die sich zum Soundtrack des Sommers mischt. Während ich hier in der Kälte stehe, fangen die tiefgefroren geglaubten Heckenrosen an zu blühen, die Glyzinie wuchert im Zeitraffer die Seitenwand hinauf, und von irgendwo her dringt der unverwechselbare Grillgeruch in meine Nase, Holzkohle und Rauch. Mein Magen knurrt. Im Kühlschrank liegt noch ein Stück Schokoladentorte, das ich von einem Fest mitgebracht habe. Das werde ich jetzt zum Frühstück essen, im Pyjama auf meinem winterlichen Balkon stehend, den Sommer ahnend. Es gibt hundert Gründe, sich zu freuen. Jeden Tag. Und je älter ich werde, desto kleiner werden die Gründe.

Der Sommer. Doch der eigentliche Anlass ist unwichtig, denke ich. Er ist nur der Nagel, an den ich die ersten Fäden knüpfe, für das Netz meiner Fantasie spanne. In dem sich die Bilder und Träume verfangen, die Freude. Und ich denke wieder an meinen Geburtstag. Ich werde auf einem weißen Pferd über die Golden Gate Bridge und zum Strand hinunterreiten. Dort ist schon ein langer Tisch aufgebaut, an dem alle meine Lieben sitzen. Die Möwen werden uns das Essen von den Tellern klauen, und Chris Isaak wird mit seiner Gitarre vorbeikommen, barfuß, und zufällig "Happy Birthday" spielen, ich kann es nicht erwarten!

Zur Person

Milena Moser hat von 1998 bis 2006 in San Francisco gelebt. Heute wohnt sie mit ihrem jüngeren Sohn im Schweizer Kanon Aargau. Ihr letzter Roman "Montagsmenschen" verknüpft vier ungewöhnliche Lebensgeschichten miteinander (400 S., 19,90 Euro, Nagel & Kimche). Auf ihr neues Buch mit dem Titel "Das wahre Leben" freuen wir uns schon jetzt. Es wird im Herbst erscheinen.

Text: Milena Moser Fotos: like.eis.in.the.sunshine/photocase.com, pollography/photocase.com, ovokuro/photocase.com, .marqs/photocase.com BRIGITTE woman 08/13

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