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Wer vergeben kann, fühlt das Leben intensiver

Vergeben klingt toll, ist aber alles andere als einfach. Ein besonderes Gespräch mit der Autorin und Ordensfrau Melanie Wolfers.
Melanie Wolfers
ist 46, stammt aus Norddeutschland, ist promovierte Theologin, war Hochschulseelsorgerin in Münschen und schloss sich vor fast zehn Jahren dem Orden der Salvatorianerinnen an. Sie lebt mit anderen Ordensfrauen in einer Wohngemeinschaft in Wien. Dort leitet sie eine Bildungsinitiative für junge Menschen, mit Pilgerwanderungen und Schweigewochen (www.impulsleben.at)
© Cathrine Stukhard

Wir wissen, wie groß unsere Sehnsucht nach Neuanfang ist und wie unüberwindbar dann doch immer wieder die Hindernisse sind. Dieser Widerspruch scheint so eine Art menschliches Grundproblem der Gegenwart zu sein, sattsam beschrieben und am Ende womöglich unlösbar. Aber manchmal erscheint ein Buch über ein altes Thema, das einen die Dinge plötzlich in neuem Licht sehen lässt.

Die Ordensfrau Melanie Wolfers hat ein Buch über "Die Kraft des Vergebens" geschrieben, mit dem Untertitel "Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden" (207 S., 14,99 Euro, Herder). Und bei der Lektüre stellt man fest: Ihr leidenschaftliches Plädoyer fürs Vergeben ist im Grunde eine Anleitung zum Neuanfang. Mit vielen Seitenwegen, auch in eine sehr lebensnahe Spiritualität. Was erst mal eine Herausforderung ist, wenn man meint, das Thema Glauben für sich erledigt zu haben. So, wie Vergeben eine Herausforderung ist, wenn man sich innerlich lieber an Rachefantasien labt.

BRIGITTE WOMAN: Mir fallen durchaus ein paar Leute ein, die mich schlecht behandelt und gekränkt haben. Das ärgert mich jetzt noch. Warum sollte ich diesen Menschen vergeben? Sie sind nicht verpflichtet zu vergeben. Aber es ist sinnvoll, denn Vergeben ist kreativ, schafft Neues und beschert einem Freiheit. Vergeben heißt, freier zu werden und das eigene Leben wieder gestalten zu können und dadurch mehr Leichtigkeit zu bekommen.

Was ist das für eine Freiheit? Zum einen die Freiheit von der Last des Nachtragens, von den dunklen Gefühlen, die einen gefangen halten. Aber auch die Freiheit davon, unser Leid und unser Gefangensein in der Kränkung an andere weiterzugeben. Ein verbitterter Mensch kann anderen das Leben ganz schön schwer machen. Darum muss ich mich fragen: Wie gehe ich mit Leid um, ohne dass ich selbst Schaden und Schmerz bei anderen verursache?

Eine Frage, die man sich tatsächlich eher selten stellt. Eben, das ist ja häufig ein relativ automatisches Reagieren: Es gibt einen Racheimpuls, und man will es dem anderen heimzahlen, etwa durch eine zynische Bemerkung. Man ist in einem Reaktionsmuster gefangen. Und ein anderer Punkt ist: Die Freiheit wofür? Wofür setze ich mich ein? Welche Werte, und Ziele verfolge ich? Vergebung macht uns freier, aus einer größeren Tiefe heraus Werte zu verwirklichen und etwas Sinnvolles und Konstruktives zu tun.

Wir leben in einem gesellschaftlichen Klima, das einen nicht gerade ermutigt, sich mit erlittenen Kränkungen und mit Vergebung auseinanderzusetzen. Ja. Wertgeschätzt wird: Du stehst über den Dingen und bist nicht verwundbar. Und wenn du verletzt bist, dann lass es dir wenigstens nicht anmerken. Dafür zahlen wir jedoch einen hohen Preis. Denn wenn alles an einem abprallt, dann kann man auch nicht mehr zärtlich gestreichelt werden. Wer in einer Rüstung lebt, ist nicht mehr berührbar, kann kein Mitgefühl mehr empfinden. Er oder sie kann nicht mehr erfahren, geliebt zu sein oder andere zu lieben. Wer sich unverwundbar gibt, riskiert eine brutale Einsamkeit. Für eine Ellenbogengesellschaft ist Verletzbarkeit kein Wert. Aber nur, wenn ich auch um meine Verletzlichkeit weiß und verwundbar bleibe, bin ich überhaupt erst beziehungsfähig. Wenn jemand immer nur cool ist, dann brennt er für nichts und niemanden. Ein armes Leben.

Inwiefern hindert uns erlittene Kränkung am Neuanfang? Wenn ich jemandem etwas auf Dauer nachtrage, dann trage ich schwer daran. Kaum wache ich morgens auf, denke ich schon wieder an die Person, die mich verletzt hat, und verwickle mich in innere Streitgespräche, beim Zähneputzen, beim Kaffee, in der U-Bahn. Und wenn man nüchtern schaut, merkt man: Boah, das kostet mich ganz viel. Vergebung befreit einen davon, an die Verletzung und an die Vergangenheit gebunden zu sein. Und sie befreit von der inneren Bindung an den Menschen, der mich verletzt hat und der damit eine Macht über mich ausübt, die ich ihm gar nicht geben möchte.

Das setzt ein konkretes Kränkungserlebnis voraus: Ich weiß, wer mich wie gekränkt hat. Aber wir neigen doch dazu, Kränkungen gründlich zu verdrängen, so dass uns nur dieses vage Gefühl bleibt, unser Leben irgendwie ändern zu müssen. Manchmal sind Kränkungen zwar ganz offenkundig, aber, ja: Was Sie beschreiben, ist eine ganz typische und häufige Erfahrung. Kränkungen wegzudrängen kann auch eine Zeit lang richtig sein, damit man wieder Boden unter den Füßen bekommt. Aber wenn dieses Verdrängen zu einer Dauerhaltung wird, dann führt es nur dazu, dass der Schmerz in den Untergrund abwandert.

Muss man sich selbst erforschen, um vergeben zu können und frei zu sein für Neues? Wie in so einer Art innerer Selbstreinigung? Ich glaube, dass es sich grundsätzlich lohnt, sich mal aus allem herauszunehmen und zu schauen: Was bewegt mich jetzt? Was kann ich, wo sind meine Grenzen, was ist die Geschichte meiner Krisen, wer ist mir wichtig, was ist mir wichtig? Ohne solches Innehalten sind wir eigentlich nur fremdgesteuert.

Wer vergeben kann, fühlt das Leben intensiver
© Cathrine Stukhard

Sie schreiben, dass Vergebung einem ermöglicht, "der eigenen Lebensspur zu folgen". Folgen wir denn einer festgelegten Spur? Nein, die Lebensspur entsteht, indem Sie Schritt für Schritt gehen. Durch Ihre Entscheidungen geben Sie sich im Laufe Ihres Lebens selbst Gestalt. Nach einer Kränkung kann allerdings das Gefühl auftauchen: Ich lebe gerade an mir vorbei. Etwas hindert mich, meiner eigenen Lebensspur zu folgen, ich lebe nicht, ich werde gelebt. Weil mich vielleicht die erlittene Kränkung nicht mehr loslässt. Ich liege im Streit mit meiner Vergangenheit.

Sie nennen das "Hoffen auf eine bessere Vergangenheit". Ja. Und wenn ich vergebe, höre ich auf, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen.

Sie sagen - und das finde ich vor allem im Zusammenhang mit Beziehungskonflikten sehr interessant -, dass man zum Vergeben den anderen gar nicht braucht. Natürlich ist es gut, in Beziehungen miteinander zu reden, weil es vielleicht nur ein Missverständnis gab. Und natürlich erhöht es die Bereitschaft, zu vergeben, wenn mich jemand leiden sieht und sich entschuldigt. Aber es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Vergeben und Versöhnung. Versöhnung ist ein zwischenmenschliches neues Anknüpfen, Vergebung ist ein innerseelischer Prozess. Es ist sehr hilfreich, mit dem anderen reden zu können, aber Vergebung ist etwas, was in mir geschieht.

Braucht man irgendeine Art von spirituellem Fundament, um wirklich vergeben zu können? Ich bin Christin, aber unabhängig davon - ich kenne keinen, der sich zufrieden auf die Schulter klopft und sagt: "Das habe ich allein mir zu verdanken, dass ich jetzt wirklich von ehrlichem Herzen vergeben kann." Gerade dort, wo jemand fähig ist, Schwerwiegendes zu verzeihen, erfährt diese Person es immer auch als ein Geschenk, dass es möglich geworden ist, freier zu werden. Man ist dankbar für den Frieden, für eine neue Leichtigkeit; oder dass Wunden heilen und man nachts nicht mehr mit Albträumen aufwacht.

Aber vergeben zu können ist doch eine Leistung, die man sich selbst erarbeitet. Und sei's durch Therapie. Klar, das Vergeben fällt einem ja nicht in den Schoß, aber bei all dem eigenen Mühen wird man es auch als ein Geschenk erfahren. Und das ist für mich die spirituelle Grunderfahrung: Ich habe das nicht allein gemacht, sondern verbunden mit einer Wirklichkeit, die tiefer, größer ist als mein eigenes Ich. Das müssen nicht alle so erleben, aber wie gesagt, ich kenne niemanden, der sagt: "Ich verdanke es allein meiner eigenen Selbstoptimierung, dass ich vergeben kann." Von daher finde ich die Frage sehr wichtig: Gibt meine Weltanschauung etwas dafür her, wie ich mit Verletzungen und Kränkungen umgehe? Hilft sie mir, dass ich innerlich nicht auf Dauer krank werde und dass ich nicht neues Leid bei anderen produziere? Das ist eine gesellschaftlich hochrelevante Frage, da geht's um das Zusammenleben in einer Beziehung, in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft: Wie gehen wir mit Unrecht und Leid um, das wir erlitten haben?

Als jemand, der nicht in der Kirche und mit der christlichen Religion aufgewachsen ist, finde ich es sehr schwierig, einen Zugang zu dieser Art von Spiritualität zu finden. Kann Vergebung auf eine gewisse Weise so eine Art ein Portal zum Glauben sein? Ich denke, es ist etwas Wunderbares zu erleben, wenn es nach einer langen Nacht einen neuen Morgen gibt; wenn Wunden verheilt sind und quälende Erinnerungen mich nicht mehr umtreiben und mir den Schlaf rauben. Oder wenn ich mich wieder einem Menschen anvertrauen kann, obwohl ich dachte, ich öffne mich nie wieder. Da regt sich Dankbarkeit - und Dankbarkeit sucht einen Adressaten, ganz einfach. (lacht)

Ich glaube, ich bin in solchen Momenten einfach dem Leben dankbar. Ja, genau. Schauen Sie in die Bibel, dort werden für Gott ganz viele Bilder gebraucht: Von Gott wird gesagt, er ist das Leben, er ist der Arzt, der Friede, der Himmel. Und ich glaube, Vergebung ist eine wichtige Erfahrung, bei der ich merke, ich werde wieder heil. Ich bin mitten im Leben, und das ist dasselbe wie: Ich bin mitten in Gott.

Ich verstehe, was Sie meinen, aber sobald Sie das so formulieren, klingt es für mich wieder recht abstrakt. Ich glaube, ein Problem unserer Kirchen ist, dass das Wort Gott so abstrakt klingt, weil es irgendwie da oben zu hängen scheint. Daher kommt man überhaupt nicht auf die Idee, es könnte einen Bezug zur eigenen Lebensrealität haben. Aber wie zeigt sich denn göttliche Wirklichkeit? In der Erfahrung von Beziehungen, im Wachsen von Frieden und Gerechtigkeit, von Liebe. Gott ist die Liebe, das ist sozusagen der Spitzname für Gott in der Bibel. Ich brauche also nicht Gott zu suchen in irgendwelchen fremden Wallfahrtsorten, sondern muss nur meine Augen aufmachen für das Leben und für das, was geschieht.

Glauben ist Vertrauen

Und das ist Glauben? Ich vertraue darauf, dass es sinnvoll ist, sich dem Leben zu öffnen: Das ist Glauben. Glauben ist nichts anderes als Vertrauen. Und ich denke, der Glaube ermutigt auch, sich auf den schmerzhaften Prozess der Vergebung einzulassen, weil ich hoffen kann, dass ich nicht ganz allein bin mit meiner Angst und meinen dunklen Gefühlen. Was uns häufig so belastet, ist die Sorge, dass ich alles allein tragen muss. Es gibt ein sehr schönes Gedicht von Hilde Domin, ich kann das nicht ganz auswendig, aber ich liebe Gedichte (deklamiert): "Nicht müde werden, sondern dem Wunder wie einem Vogel leise die Hand hinhalten". Und dann heißt es: "Denn das Wunder geschieht, weil wir ohne das Wunder nicht leben können". Der Glaube ist Hoffnungskraft: nicht müde werden, dem Leben die Hand hinzuhalten. Damit du heiler werden kannst. Damit das Leben neu beginnen kann. Und noch ein letzter Punkt zu Ihrer Frage nach einem spirituellen Fundament von Vergebung, oder soll ich jetzt mal langsam aufhören?

Nein, gar nicht, ich höre Ihnen gebannt zu. Was schmerzt besonders an einer Kränkung? Die Verletzung unseres Selbstwertgefühls. Jemand fühlt sich gekränkt, wenn er sich als Person infrage gestellt oder abgelehnt fühlt. (zögert) Ich finde es nicht so leicht, das zu beschreiben oder Bilder dafür zu finden, aber ich denke: Wer sich auf einen spirituellen Erfahrungsweg einlässt, der öffnet sich einer Dimension, in der man tiefere Wurzeln schlagen kann als etwa in der Frage: Werde ich jetzt abgelehnt oder nicht? Habe ich Erfolg, oder versage ich? Wer spirituell verwurzelt ist, für den ist die Anerkennung durch andere oder Erfolg nicht die tiefste Basis für den Selbstwert. Und umgekehrt wird man durch känkende Kritik oder Ablehnung nicht völlig zu Boden geworfen.

Aber wir sind doch alle immer wieder auf der Suche nach dieser Anerkennung. Ja, aber wer sagt uns ganz grundsätzlich: Es ist gut, dass es dich gibt? Das können wir schlecht uns selbst sagen, das ist nicht so glaubwürdig, doch: Diese Stimme ist in uns. Und diese Stimme kann man göttlichen Geist nennen. Auf diese Stimme zu vertrauen macht mich freier davon, mir mein Selbstbewusstsein erarbeiten oder aus der Anerkennung anderer gewinnen zu müssen. Letztlich wurzelt die Freiheit in diesem Vertrauen in Gott. Die größte Freiheit hat ihren Grund darin, wenn man sagen und wirklich glauben kann: Ich bin ich, und ich darf so sein, und es ist gut.

Aber Religion wird einem als Kind nicht als eine Form von Freiheit präsentiert, sondern als etwas, was man lernen muss und was man richtig oder falsch machen kann. Völlig richtig. Ich finde es auch wirklich schlimm, dass es den Kirchen nicht gelungen ist, Glauben als Freiheitsstimulanz zu vermitteln. Sondern als eine Zwangsjacke, als moralisches Korsett. Das ist sehr traurig. Und Jesus war ein ganz und gar freier Mensch: Mit welcher Unabhänigkeit ist er seiner Spur gefolgt! Und Jesus war so frei, dass er sogar sein Leben für andere lassen konnte. Gibt es eine größere Freiheit? Daher glaube ich, dass Freiheit im Letzten auch immer Freiheit von der Angst um das eigene Ich ist. Weil ich glaube, dass ich getragen bin.

Wir haben eingangs darüber gesprochen, dass wir nicht in einem gesellschaftlichen Klima leben, das die Vergebung begünstigt. Weil sie mit Schwäche in Verbindung gebracht wird. Ja. Dabei ist sie ein Zeichen von Stärke.

Das würde bedeuten, dass wir eine neue Definition von Stärke brauchen. Eine, die über Coolness und Unnachgiebigkeit hinausgeht. Stärke zeigt sich dort, wo jemand sich mit seinen Gaben und Grenzen gut kennt und den Mut hat, sich der eigenen Realität zu stellen. Einer Realität, die Größe umfasst, aber auch das Gefühl, klein und ohnmächtig zu sein. Stark ist für mich jemand, der die Fähigkeit hat, diese Spannung auszuhalten und sich dabei selbst zu bejahen. Ein solcher Mensch ist freier geworden oder vielleicht sogar ganz frei von der bangen Sorge, ob er Erfolg hat oder versagt, ob er kritisiert wird oder gelobt. Wer in dieser Freiheit wächst, wird in einer neuen Tiefe tragfähige und erfüllende Beziehungen leben können.

Interview: Till Raether Fotos: Cathrine Stukhard BRIGITTE woman 01/2014

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