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Sich selbst lieben - wie schaffe ich das?

Sich selbst zu lieben, macht uns stark. Wie das funktioniert, erklärt die amerikanische Psychologin Kristin Neff.

BRIGITTE WOMAN: Wir alle kennen das: Mit anderen können wir wunderbar großzügig und nachsichtig sein, nur mit uns selbst sind wir streng und gnadenlos. Wie erklären Sie diesen Widerspruch? Kristin Neff: Wir glauben, dass wir uns selbst ständig antreiben müssen, damit wir unser Leben geregelt bekommen. Streng dich an! Bleib nicht stehen! Hol immer das Beste aus dir heraus! Das ist die Botschaft, die uns die Leistungsgesellschaft vermittelt. Unbewusst fürchten wir, dass unser Leben den Bach runtergehen könnte, wenn wir zu freundlich zu uns sind. Bei anderen haben wir diese Befürchtung nicht.

Warum nicht? Wenn eine Freundin eine Präsentation vermasselt hat und sich anschließend wüst beschimpft, fällt es mir leicht, sie zu trösten und zu sagen: Alles halb so schlimm. Und das meine ich tatsächlich so. Wenn mir hingegen eine Vorlesung misslingt, fühle ich mich bedroht. Sobald etwas Beängstigendes passiert, springt im Körper das Kampf-Flucht-Programm an. Dieses Überlebensprogramm stammt aus der Zeit, als wilde Tiere unsere größte Bedrohung waren. Es hat uns ermöglicht, blitzschnell wegzulaufen oder anzugreifen. Auf der emotionalen Ebene erleben wir einen kleinen Fehler ebenso dramatisch, als ginge es um Leben und Tod. Unser biologisches Überlebensprogramm signalisiert uns: Kämpfe oder fliehe. Wenn wir selbstkritisch sind, tun wir beides. Wir sind gleichzeitig Angreifer und Opfer.

Aber damit blockieren wir uns doch vollkommen. Weil unser System dadurch völlig verwirrt ist. Wir sind kaum noch in der Lage, einen Schritt beiseitezutreten und das größere Bild zu sehen. Wir versinken in dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, und können nicht aufhören, uns selbst dafür zu beschimpfen. Selbstkritik vermittelt uns das Gefühl, wieder Kontrolle über uns und die Situation zu gewinnen: Wenn ich mich noch mehr anstrenge und hart an mir arbeite, dann wird mir das nicht mehr passieren.

Was natürlich eine Illusion ist. Wir können eine Menge beeinflussen, aber nicht alles. Wir können nicht perfekt sein, und es fällt uns extrem schwer, das zu akzeptieren, auch wenn es uns vom Kopf her klar ist. Emotional ist es sehr beängstigend zuzugeben, dass wir keine vollständige Kontrolle über uns und unser Leben haben. Indem wir uns ständig erzählen: Ich müsste, ich sollte, ich werde, behalten wir die Illusion von Kontrolle.

"Wir finden es völlig normal, dass wir uns innerlich eine Ohrfeige verpassen."

Was ist die Alternative? Statt uns in diesem strengen Befehlston herumzukommandieren, können wir versuchen, liebevoll und aufmunternd mit uns zu sprechen. Doch das kommt uns komisch vor. Wir finden es völlig normal, dass wir uns innerlich eine Ohrfeige verpassen. Die Vorstellung, uns - bildlich gesprochen - in den Arm zu nehmen, erscheint uns hingegen absurd. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir unsere Schwächen und Versäumnisse verstehen, statt sie zu verdammen.

Klingt wunderbar, aber wie geht das? Indem wir eine bewusste Entscheidung treffen, etwas Neues zu versuchen. Die wenigsten haben von ihren Eltern gelernt, wie sie sich selbst Mitgefühl schenken können. Wenn wir es als Kinder nicht gelernt haben, müssen wir das als Erwachsene nachholen. Am Anfang fühlt es sich vielleicht so an, als würden wir eine Fremdsprache lernen. Ich kann mir zum Beispiel sagen: Was ich jetzt brauche, ist Freundlichkeit und liebevolle Zuwendung. Ich bin diejenige, die am besten dafür sorgen kann, denn ich bin immer da. Zum Glück haben wir auch andere Menschen, die es gut mit uns meinen, aber sie sind nicht immer verfügbar oder gerade nicht in der Stimmung, uns aufzumuntern.

Und selbst wenn sie es tun - manchmal lassen wir die Unterstützung ja gar nicht an uns ran. Jemand macht uns ein Kompliment für das tolle Kleid oder den Vortrag, und wir sagen: Aber mein Bauch sieht darin viel zu fett aus. Oder: Der Vortrag war zwar ganz okay, aber der Einstieg war total daneben. Wir müssen erkennen, wie viel Leid wir uns mit unserem Hang zur Selbstverurteilung zufügen, und uns für einen anderen Weg entscheiden. Und dann immer wieder üben.

Aber ist es nicht manchmal wichtig, dass ich mein Verhalten kritisch anschaue? Wenn ich immer zu allem Ja und Amen sage, mache ich mir dann nicht was vor? Selbstmitgefühl ist keine Lizenz, sich gehen zu lassen, und es ist auch kein Selbstverwöhnprogramm. Mitfühlende Eltern ermuntern ihre Kinder, Obst und Gemüse zu essen und rechtzeitig ins Bett zu gehen. Sie verbieten die dritte Kugel Eis. Zum Mitgefühl gehört, Grenzen zu setzen. Und das gilt auch für den Umgang mit uns selbst. Wenn wir gut für uns sorgen wollen, müssen wir uns fragen: Ist das, was ich jetzt möchte, heilsam für mich? Wenn eine Verhaltensweise auf lange Sicht schädlich ist, hat sie mit Selbstmitgefühl nichts zu tun. Selbstmitgefühl ist auch kein Egotrip, wie viele fälschlicherweise annehmen. Selbstkritik hingegen ist sehr egozentrisch. Wenn ich mir ständig aufzähle, was ich alles nicht gut mache und wie schrecklich das ist, kreise ich nur um mich und habe die anderen überhaupt nicht im Blick.

Frauen haben eine natürliche Begabung für Mitgefühl

Wir neigen dann zum Drama. Wir nehmen uns viel zu ernst. Unsere Wahrnehmung verengt sich, und wir sind nur noch fixiert auf die ungeschickte Bemerkung, die uns herausgerutscht ist, oder die zwei Kilo, die wir zu viel haben. Wir identifizieren uns vollständig mit unserem Problem, unser ganzes Selbstbild wird davon bestimmt, das macht uns nicht gerade sympathisch. Drama ist ein wesentliches Element von Selbstkritik. Selbstmitgefühl ist wesentlich unspektakulärer und dafür umso effektiver. In einem inneren Zustand von Akzeptanz und Ermutigung ist es leichter, gute Entscheidungen zu treffen und eine intelligente Lösung für ein Problem zu finden, zumindest ist das meine Erfahrung.

Eigentlich müssten Frauen doch prädestiniert sein für Mitgefühl. Schließlich verbringen wir einen großen Teil unseres Lebens damit, uns um andere zu kümmern. Tatsächlich haben Frauen eine natürliche Begabung für Mitgefühl. Sie wissen, wie man freundlich, unterstützend und nährend sein kann. Was uns noch fehlt, ist die Erlaubnis, uns diese Qualitäten auch selbst zu schenken. Frauen wurde beigebracht, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen sollen.

Es gilt als egoistisch, sich um sich selbst zu kümmern. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Je achtsamer wir mit uns selbst umgehen, je besser wir uns selbst nähren, desto mehr innere Ressourcen haben wir, unsere Arbeit gut zu machen und uns um andere zu kümmern. Und noch etwas: Die Tatsache, dass wir uns selbst viel schlechter behandeln als andere, schafft ein Gefühl von Trennung. Wenn ich mich hingegen selbst in den Kreislauf des Mitgefühls und der Fürsorge miteinbeziehe, entsteht ein Gefühl von Verbundenheit. Dann erkenne ich an, dass ich genauso ein menschliches Wesen mit Fehlern und Unvollkommenheiten bin wie alle anderen. Ohne Verbundenheit kann Selbstmitgefühl tatsächlich in Egozentrik oder Selbstmitleid abrutschen.

Was ist der Unterschied zwischen Selbstmitgefühl und Selbstmitleid? Ich kann es an einem Beispiel erklären. Ich habe einen autistischen Sohn, der als Kind oft geschrien hat. Als er auf dem Spielplatz einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam und alle mich anstarrten, war ich drauf und dran, in Selbstmitleid zu versinken. Warum haben alle anderen Mütter süße, perfekte kleine Kinder, die friedlich im Sand spielen, nur ich nicht? Warum habe ich es so schwer? Warum ist das Leben so ungerecht? Doch dann habe ich mich daran erinnert, dass die anderen Mütter wahrscheinlich auch in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken, vielleicht Geldsorgen haben oder gesundheitliche Probleme. Dieser Perspektiv-wechsel hat Wunder bewirkt. Ich habe sofort aufgehört, mich selbst zu bemitleiden. Stattdessen habe ich mir gesagt: Mutter sein bedeutet, Schwierigkeiten zu meistern. Ich habe einen autistischen Sohn, andere haben andere Herausforderungen. Dadurch entstand ein Gefühl von Verbundenheit mit den anderen Müttern, vorher war ich isoliert.

"Selbstmitgefühl ist ein guter Freund, der dich nie verlässt."

Sie schreiben in Ihrem Buch: "Selbstmitgefühl springt genau in dem Moment in die Bresche, in dem das Selbstwertgefühl uns im Stich lässt, wenn man gerade am Kämpfen ist und Hilfe braucht." Man könnte sagen, Selbstmitgefühl ist ein guter Freund, der dich nie verlässt. Selbstwertgefühl hingegen ist ein Schön-Wetter-Freund, der nur in guten Zeiten präsent ist. Doch gerade, wenn wir in Schwierigkeiten stecken, brauchen wir verlässliche Unterstützung. Selbstmitgefühl steht uns immer zur Verfügung. Es ist keine Kopfsache, sondern mehr eine Herzensqualität.

Und wie kann ich die in einer schwierigen Situation aktivieren? Wenn ich mir zum Beispiel Sorgen mache oder aufgeregt bin, und ich lege meine Hände auf mein Herz und sage mir innerlich ein paar nette Worte, fühle ich mich sofort sehr viel besser. Wenn ich allein bin, kann ich meinen Arm oder mein Gesicht streicheln oder den Körper sanft wiegen. Im Büro kann ich die Arme auf unverfängliche Weise verschränken und mich sanft drücken.

Ist das etwa alles? So einfach funktioniert es? Es ist tatsächlich erstaunlich leicht, mit kleinen Gesten das Oxytocin-System im Gehirn zu aktivieren, das für Gefühle von Wärme und Geborgenheit zuständig ist. Das Schöne ist: Es muss niemand bemerken. Wir können uns innerhalb von Sekunden von einem angespannten in einen guten Zustand bringen.

Wenn ich aber schon angefangen habe, mich zu beschimpfen, statt mich zu umsorgen? Das macht nichts. Entscheidend ist, dass wir überhaupt bemerken, was wir tun. Deshalb ist Achtsamkeit ein wichtiger Bestandteil von Selbstmitgefühl. Wenn wir den Mechanismus verstehen und erkennen, können wir uns sagen: Aha, ich fühle mich gerade bedroht, mein Überlebensprogramm startet, aber ich kann die Stopptaste drücken und mein inneres Selbstfürsorgesystem aktivieren. Dann habe ich viel mehr Möglichkeiten zu agieren. Hänge ich im Überlebensmodus fest, bleibt mir nur kämpfen, fliehen oder mich tot stellen.

Mein Eindruck ist, dass die Sehnsucht nach einem liebevolleren Umgang mit uns selbst mit zunehmendem Alter größer wird. Müssen wir erst älter werden, um Raum und Zeit für Selbstmitgefühl zu haben? Letztlich ist Selbstmitgefühl keine Zeitfrage, denn liebevolle Zuwendung kostet nicht mehr Zeit als Selbstbeschimpfung. Und doch wird der Raum für Mitgefühl größer, wenn wir älter werden. Solange wir kleine Kinder haben, sind wir mit unserer Aufmerksamkeit mehr bei ihnen als bei uns selbst. Irgendwann erlauben wir uns, auch auf uns selbst zu achten. Im besten Fall werden wir weiser und reifer und merken, dass das Selbstkritikprogramm uns unglücklich gemacht hat. Lange denken wir, wenn ich diesen Karriereschritt geschafft habe, fünf Kilo abgenommen und meine Kindheit aufgearbeitet habe, dann ist endlich alles gut, und irgendwann dämmert uns, dass uns diese ständige Selbstoptimierung nicht dahin bringt, wo wir hinwollen. Es ist sicher kein Zufall, dass 70 Prozent unserer Workshopteilnehmer Frauen über 40 sind.

Gleichzeitig brauchen wir Selbstmitgefühl dringender als vorher, weil wir mit vielen Verlusten fertig werden müssen. Wir werden regelrecht gezwungen, Selbstmitgefühl zu üben, weil es sonst bitter wird. Ich bin jetzt 46, es ist klar, dass ich wahrscheinlich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir habe. Das ist auch mit Schmerz verbunden. Auf der anderen Seite fühle ich mich heute viel erfüllter als mit Anfang 20, als ich versucht habe, mir eine Karriere aufzubauen und endlich eine glückliche Liebesbeziehung zu finden. Bis Mitte 30 geht es vor allem um Herausforderungen, die mit dem Selbstwert verbunden sind. Bin ich attraktiv genug? Bin ich gut genug im Job? Schaffe ich es, eine Karriere zu machen?

Und ab 40? Wir definieren uns dann nicht mehr ausschließlich über Erfolg und Attraktivität. Tatsächlich brauchen wir auch Mitgefühl, um gut mit unseren Falten und Pfunden leben zu können. Aber wir haben gleichzeitig auch mehr innere Ressourcen dafür, weil das Leben sich runder und reicher anfühlt. Frauen über 40 arbeiten sich weniger an den Konventionen ab und haben mehr Mut, ihren eigenen Weg zu verfolgen. Wir wissen, dass wir im Zweifels-fall keine neue Handtasche brauchen, sondern mehr Zuwendung oder die innere Erlaubnis, mehr Pausen zu machen.

Was ist Ihre größte Hürde, wenn Sie versuchen, Selbstmitgefühl zu praktizieren? Ich kann ziemlich ungehalten und wütend werden, wenn ich unter Stress gerate. Damit umzugehen ist für mich immer wieder ein Kampf. Ich kann noch so viel Selbstmitgefühl praktizieren, dieses Muster scheint einfach unverwüstlich. Wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es einen Teil in mir, der denkt, wenn ich immer schön Selbstmitgefühl praktiziere, werde ich eines Tages doch noch eine Heilige. Liebevoll, freundlich, ausgeglichen, weise. Aber Selbstmitgefühl ist keine weitere Form von Selbstverbesserung. Denn wenn wir hoffen, damit endlich perfekt zu werden, spielen wir das alte Spiel unter neuem Namen. Doch es geht um radikale Selbstakzeptanz.

Zum Weiterlesen "Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden" von Kristin Neff (384 S., 19,99 Euro, Kailash)

Interview: Birgit Schönberger BRIGITTE woman 11/13

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