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Ist das peinlich?

Frau schaut aufs Meer
© BABAROGA / Shutterstock
Ist Rührseeligkeit ein Ausdruck echter Gefühle oder peinlicher Kitsch? Unsere Autorin Regina Kramer über Sentimentalität, die mit dem Alter zuzunehmen scheint.

Am Himmel hing ein silberner Vollmond, im Garten feierten 49 Freunde, es war ein milder Sommerabend, ihr 50. Geburtstag. Dann legte jemand eine CD von den Beatles auf, und plötzlich wollte Dörte nur noch allein sein. Unbemerkt von den anderen lief sie ins Haus. Sie erinnerte sich an ihre Studentenzeit, an Reisen, an Liebhaber und an ihre Hochzeit, ganz in Rot. Sie hatte ein schönes Leben geführt, sie würde weiter ein schönes Leben haben, warum war ihr plötzlich so seltsam zumute? "Ich fühlte mich ganz weich und verletzlich, mein Herz war so schwer, ich hatte verrückte Lust auf Schokolade, aber noch lieber wollte ich weinen. Ich war immer schon ein bisschen rührselig, aber seit einiger Zeit scheint es mehr Gelegenheiten dafür zu geben. An diesem Abend jedenfalls warf ich mich auf die Couch und heulte, das tat so gut. Als würde ich mich selbst in den Arm nehmen. Ich wollte in dem Moment gar nicht so genau wissen, was los war, ich wollte mich diesem Gefühl einfach nur hingeben."

Die einen nennen es Gefühlsduselei, die anderen Sentimentalität. Manche sind sentimental, wenn sie noch jung sind. Bei anderen nimmt die Gefühlsseligkeit erst mit den Jahren zu. Wer begabt für Sentimentalität ist, muss über eine gewisse Neigung zu Traurigkeit verfügen. Männer geben es seltener zu, Frauen finden es oft ganz wunderbar. Und dennoch: Das Gefühl hat bei uns keinen guten Ruf, es erinnert zu sehr an Heimatfilm und vergilbte Liebesbriefe in rosa Bändchen. In Mittelmeerländern hat man weniger Hemmungen, sich sentimental rühren zu lassen. Auch die russische Seele ging schon immer ans Herz und jetzt noch die Filme aus Bollywood.

Es gibt immer eine Gelegenheit, um gefühlvoll zu werden. Wenn am Abend eine Sonne im Meer versinkt. Wenn im Radio ein Lied gespielt wird, das so alt, so wunderbar oder so tragisch ist wie die erste oder letzte Liebe. Wenn man ein Baby anschaut, das friedlich schläft, als sei die Welt ein harmloser Ort. Dann ist plötzlich alles zum Weinen schön. Sentimentalität - ein echtes Gefühl oder Kitsch? Platt, dumm, peinlich oder wichtig?

Sentimentalität ist ein Gefühl, das sich aus vielen Gefühlen hochschaukelt. Kinder sind nie sentimental, sie sind entweder froh oder traurig. Je älter man wird, desto mehr scheint man dazu zu neigen, Gefühle zu vermischen. Man liest eine romantische Geschichte, die Handlung trifft mitten ins Herz. Wir empfinden beim Lesen Glück, aber auch ein wenig Traurigkeit. Die Traurigkeit verwandelt sich sanft in Wehmut, und manchmal kommt noch Weltschmerz dazu. Aber warum macht einen traurig, was doch eigentlich schön ist? Je älter man wird, desto mehr sind alle intensiven Eindrücke mit Erinnerungen verbunden. So wie die Heldin des Romans habe ich auch mal gefühlt. An jenem Strand habe ich zum ersten Mal geküsst. Egal, ob die Erlebnisse schön oder traurig waren, sie kommen so, wie sie waren, nie wieder. Das ist ein Gefühl von Verlust und Bedauern. Das kennen wir alle. Aber sind denn auch alle in den gleichen Situationen gerührt? Und ist Sentimentalität nur aus Traurigkeit gemacht?

"Ich war während der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich", sagt Sabine. "Und zum ersten Mal erklärten mir die Franzosen, wie großartig die Deutschen seien. Einmal habe ich ein Spiel in einer rappelvollen Dorfkneipe angeschaut, und als die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, haben mir alle zugeprostet. Ich musste einfach heulen, so ergriffen war ich davon, auch mal naiv stolz auf mein Land sein zu dürfen."

"Ich hasse rührselige Gemeinschaftsgefühle", sagt Marie. "Wenn früher in linken Gruppen die ,Internationale' gesungen wurde und die Genossen feuchte Augen kriegten, war mir das unheimlich. Wahrscheinlich habe ich Angst, in Gefühle hineinzufallen, die eigentlich nicht meine sind. Diese inszenierten Wir-Gefühle finde ich so verlogen, dass ich sofort auf Distanz gehe."

"Ich bin sowieso nur gerührt, wenn es um private Gefühle geht", sagt Ulla. "Neulich habe ich mir wieder mal ,Vom Winde verweht' angeschaut. Und wenn Rhett Butler Scarlett O'Hara die Treppe hochträgt, dann kann ich mich nicht mehr halten. So eine Liebe hätte ich auch gern mal gehabt, so eine Liebe habe ich mal vermasselt, so eine Liebe kommt nie wieder. Ich schniefe, der Film geht weiter, und plötzlich merke ich, wie mein Mann schluckt. Aber nicht wegen tragischer Liebe. In einer Szene, als Scarlett vor ihrer vom Krieg zerstörten Baumwollplantage steht, sagt sie, dass sie nie wieder hungern will. Da fängt der doch tatsächlich an zu weinen. Obwohl mein Mann nie hungern musste."

Sentimentalität nimmt es nicht so genau mit den Tatsachen. Man muss nicht selbst unterdrückt, arm oder mutterseelenallein sein, um ergriffen zu sein, wenn es melodramatisch wird. Dass das Schicksal zuschlagen kann, wissen wir alle und haben es auch schon erlebt. Wer das Fühlen noch nicht verlernt hat, entwickelt Mitleid. Das ist menschlich, aber nicht sentimental. Sentimental wird es erst, wenn man das Schicksal eines anderen zum Anlass nimmt, um in Selbstmitleid um sich selbst zu kreisen. Dann badet man in Gefühlen und taucht ein in die wunderbare Welt der Melancholie und Schwärmerei.

Moment mal. Sind wir nicht die Frauen, die sich alle Mühe gegeben haben, tüchtig, kritisch, aufgeklärt und auch noch erfolgreich zu sein? Und jetzt, wo wir wirklich erwachsen sind und das Gröbste hinter uns haben, kann es plötzlich passieren, dass wir "wunderbar traurig" ein heimeliges Gefühl finden? Wer über 40 ist, ist in einem Klima groß geworden, in dem viele theoretische Diskussionen eine Rolle spielten. Alles war immer wichtig: die Frauengruppe, die Umweltinitiative, die Friedensbewegung. Undenkbar, öffentlich zu sagen: Heute habe ich keine Zeit für die Amnesty-International-Demo, heute ziehe ich mir nämlich eine Schnulze rein.

Vielleicht haben gerade wir es früher verpasst, den Gefühlen genug Platz zu geben? Oder überrollen uns heute die kleinen "kitschigen" Gefühle, weil sie leichter auszuhalten sind als die "großen"?

Dörte sagt: "Mir kommen die Tränen, wenn ich kleine Kinder beobachte. Es rührt mich so, dass sie einfach nur einen Käfer oder einen Stein anschauen können und glücklich dabei sind. Aber sonst heule ich kaum noch. Nicht, wenn mich jemand schlecht behandelt, und auch nicht, wenn ich von immer neuen Katastrophen in der Welt erfahre. Manchmal komme ich mir schon richtig abgebrüht vor."

Wer sentimental ist, darf traurig sein, ohne dass es das Herz zerreißt. Wer sentimental ist, macht mit seinen Gefühlen einen kleinen Umweg, damit er nicht in die Abgründe von wirklicher Trauer oder Verzweiflung fällt. Das ist gelegentlich eine weise Entscheidung. Immerhin sind die Gründe, die einen mit zunehmendem Alter wehmütig machen, von ziemlich heftigem Kaliber.

Junge Frauen mögen es schluchzend bedauern, dass es nicht mit Märchenprinzen, Traumkarrieren oder dem ultimativen Lottogewinn geklappt hat. Aber im Laufe der Zeit gesteht man sich ein, dass es Dinge gibt, die einem verwehrt waren. Man hatte nicht die Kindheit, die man sich gewünscht hätte. Man war nicht der mutige oder kreative Mensch, der man immer sein wollte. Man kennt seine eigenen Grenzen und weiß, dass sie nicht mehr veränderbar sind. Der attraktivste Mann und die wunderbarste Frau der Welt könnten kommen, aber man wäre nicht mehr fähig, ohne Vorbehalte und voller Vertrauen ein neues Leben zu beginnen.

Kein Mensch wird ohne Beschädigungen älter. Wenn das kein Grund zum Heulen ist. Also weint man ein bisschen. Über alles und nichts. Und danach geht das Leben weiter, was soll es auch sonst tun? Bis zum nächsten Anfall von Wehmut. Das Schöne an der Sentimentalität ist, dass sie Traurigkeiten behutsam "abbaut". Das noch Schönere ist, dass sie einem das befriedigende Gefühl gibt, sehr sensibel zu sein. Das Dumme an der Sentimentalität ist: Die vermeintliche Empfindsamkeit ist eine kleine Täuschung.

Es gibt Menschen, die heulen im Konzert oder vor dem Fernseher Großpackungen von Taschentüchern voll, aber wenn ein Nachbar in Not ist, schauen sie weg. Mitgefühl äußert sich in Handlungen, in praktischer Hilfe zum Beispiel. Rührseligkeit auf dem Sofa dagegen ist nur für die eigene Stimmungslage gut. "Sentimentalität ist das Alibi der Hartherzigen", hat Arthur Schnitzler gesagt.

So möchte niemand sein. Und ist es dennoch manchmal. So viele Gefühle hat jeder von uns schon in 40, 50 Jahren erlebt! Die Gefühle sind mit durch unser Leben gelaufen und haben stellenweise Hornhaut angesetzt. Und dann passiert es doch wieder: Man ist gerührt. Und auf einmal kann man schwärmen wie früher und träumen und sogar ein bisschen weinen.

Die Sentimentalität? Sie ist wie Geschenkpapier mit kitschigen Blumen. Vielleicht ein bisschen peinlich und ein bisschen übertrieben. Aber wenn man die Verpackung mal beiseitelegt, dann ist das eigentliche Geschenk darunter die Gewissheit: Ich fühle, also bin ich.

Text: Regina Kramer

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