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Bin ich so? Oder doch ganz anders?

Wie andere uns sehen und unser Selbstbild – dazwischen liegen manchmal Welten. Warum ist das so? Und wie wird man die falschen Etiketten wieder los?

Erst war ich nur erstaunt, dann wütend. Ein alter Freund und ich hatten über das Leben, das nach 40 ja manchmal schon einen Rückblick erlaubt, gesprochen, und ich hatte zerknirscht einige Zweifel und Enttäuschungen zugegeben. Damit hatte er offenbar nicht gerechnet. "Wie? Du mit deinem dicken Selbstbewusstsein und beneidenswerten Optimismus hast doch selten Zweifel. Ich habe dich noch nie in einem schwachen Moment erlebt", bemerkte er lässig. Zack! Da hatte ich wieder ein Label verpasst gekriegt: Supergirl, die Teflon-Frau, an der alles abgleitet, die in allen Lebenslagen die Kontrolle behält. Wie konnte dieser Mann, der mich doch besser kennen müsste, ein so entstelltes Bild von mir haben!

So etwas hat wohl jede schon mal erlebt. Und jede kennt das Gefühl: Ich will diese Labels nicht mehr, sie werden mir nicht gerecht. Schon in der Kindheit kriegen wir solche Etiketten verpasst oder verpassen sie uns selbst – bis wir so voll geklebt sind wie ein altmodischer Koffer mit all den bunten Schildchen aus fremden Ländern. In jungen Jahren nehmen wir die Labels hin; manche helfen uns sogar, unsere Identität zu finden.

Das Selbstbild ist eine Mischung aus Wünschen und Projektionen

Doch irgendwann fangen wir an, über uns nachzudenken. Wir werden neugierig auf das komplexe, schillernde Wesen, das sich im Alltag verloren hat, wollen uns wiederentdecken und neu definieren – und müssen uns durch ein wahres Gestrüpp arbeiten: die Spielverderberin und die Überambitionierte, die Jammertante und das ewige Opfer, die Kritikerin und die Modesklavin, die Quasselstrippe und das Partygirl, die Hilfsbereite und die Zicke. . . Was haben diese Einheitsfiguren mit uns zu tun? Ganz unsinnig sind sie nicht, sagt die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Eva Wlodarek: "Natürlich kommen Labels von irgendwoher – meist aus der Kindheit –, und etwas daran stimmt immer. Ein scheues, sensibles Kind wird sicher nicht 'Die Wilde' genannt, und hinter dem Etikett 'Die Streberin' steckt bestimmt kein Mädchen, das immer die Hausaufgaben vergisst."

Besonders hartnäckig sind die Charakterisierungen der Eltern, die ihre Kinder – bewusst oder unbewusst – voneinander abgrenzen, Kontrolle ausüben wollen. Ich war erst der "Clown", dann das "schwierige Kind" und später das "schwarze Schaf"– klar, den Platz der "braven" älteren Tochter, die selten rebellierte, hatte meine Schwester schon besetzt. Und so folgte ein Etikett auf das andere; "renitenter Teenager", "unangepasste junge Frau" bis hin zum "Hippie". In dieser Schublade fühlte ich mich damals recht wohl. Labels sind natürlich kein Ergebnis ausführlicher Charakterstudien, sondern eher eine Art praktischer Code, der anderen stichwortartig signalisieren soll, wen sie vor sich haben. Und auch wir selbst orientieren uns daran. Für den Fall, dass man uns fragt: "Schnell, sag mir, wer und wie du bist, in einem Satz", haben wir eine Antwort parat, die eine Mischung aus alten Bildern, eigenen Wunschvorstellungen und Projektionen anderer Leute ist.

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Aber mit welchen davon identifizieren wir uns wirklich? Welche Kategorie ist uns am wichtigsten? Familie, Beruf, Talent, Charaktereigenschaften? "Ich bin eine gute Mutter" oder "Ich bin eine loyale Kollegin", sagt eine stolz. "Ich kann sehr schön zeichnen" oder "Ich bin wahrheitsliebend", erklärt jemand anderes. Solche Charakterisierungen sind immer mit Werten und Beurteilungen verbunden, die uns – meist noch von unseren Eltern her – wichtig sind, deshalb halten sie sich auch so lange. Und das gilt für die einmal geförderten "positiven" ebenso wie für die verachteten "negativen" Seiten, die in Bezeichnungen typisiert werden: der "Störenfried" oder auch das ewig kindliche "Sonnenscheinchen". Solche feststehenden Meinungen zu widerlegen fällt schwer, erklärt Eva Wlodarek. Wenn das "friedliebende Mädchen“ plötzlich unausstehlich wird, reagiert die Umgebung mit Entsetzen und Kritik; und wenn der aggressive Teenager auf einmal das Sensibelchen hervorkehrt, wird er ignoriert oder ausgelacht. Man glaubt ihm die neue Rolle nicht.

Das Selbstbild einer Kämpferin kann hilfreich sein

Vielen ist gar nicht klar, wie die Etiketten, die wir selbst und andere uns geben, unseren Lebensweg bestimmen. Wie viel Einfluss sie darauf haben, welchen Beruf wir uns aussuchen, wen wir heiraten und wie wir im Alltag agieren. "Mit positiven Labels setzen wir uns ja auch einen Maßstab, und es kommt dann eine selbsterfüllende Prophezeiung ins Spiel", sagt Eva Wlodarek. "Unser Glaube an ein Label, nicht das Label selbst, gibt ihm die Macht, unser Verhalten zu beeinflussen."

Manche Etiketten sind wie eine Wunde, andere werden als Pflaster benutzt. Wer wirklich denkt, dass er "zwei linke Hände" hat, wird keine Näharbeiten anfassen, und die "spießige" Bankerin keinen verrückten Künstler an Land ziehen wollen. "Andererseits können Labels wie 'Ich bin eine Kämpferin' hilfreich sein", so die Psychologin.

Ich bin vor 25 Jahren, ohne dort jemanden zu kennen und nur mit wenig Geld und einem Koffer in der Hand, nach New York gezogen. Und nur weil ich mich an das ziemlich anspruchsvolle Label "Ich bin eine Gewinnerin" geklammert habe wie eine Ertrinkende an den Rettungsring, wurden die Jahre dort spannend und relativ erfolgreich.

Wir sind natürlich alle erfindungsreiche Designer und schnippeln an unserem Image herum, bis es uns zusagt. Und natürlich werden Labels als Korsett, zur Selbstdarstellung und als Schutz benutzt – auch dazu sind sie schließlich da. So kenne ich ein nettes Ehepaar, das gern sein "soziales Engagement" hervorhebt – vielleicht, um von Angriffsflächen abzulenken. Und von dem Bekannten, der sich als "charmanter Casanova" durchs Leben schummelt, weiß ich, dass er im Grunde Frauen verachtet. Und selbst wenn die Erfinder und Träger solcher Labels ihre Umgebung gar nicht bewusst täuschen wollen – letztlich werden sie davon bis zur Unbeweglichkeit eingewickelt wie eine Mumie.

Es ist ja gut und schön, wenn man als angeblich Unkomplizierte wie mit Neonbuchstaben ausstrahlt "Mit mir kannst du Pferde stehlen", aber wer sieht dahinter die innovative Intellektuelle? Und überhaupt: Wieso kann eine tolle Mutter nicht gleichzeitig eine erotische Schönheit und eine Hobby-Fußballerin sein und die nervige Meckerliese nicht gleichzeitig Hiphop-Fan und eine Kämpferin für die Menschenrechte?

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Labels sind in Ordnung, wenn man sie nicht zu ernst nimmt, sondern nach Lust und Laune anlegt. Ein Luxus, den unsere Mütter und Großmütter übrigens kaum hatten. Die Frauen waren damals in das Schneiderkostüm der 50er Jahre eingezwängt, und sehr viele tippelten ausschließlich in der Rolle der Hausfrau durchs Leben. "Um bei der Mode-Analogie zu bleiben: Wir sind viel zu vielseitig und facettenreich, um nur in Einheitskleidung aufzutreten", sagt Eva Wlodarek. "Perfektion ist leicht langweilig. Genauso wie ein durchgestyltes Outfit von nur einem Designer, bei dem alles aufeinander abgestimmt ist und perfekt passt. Es ist viel origineller und spannender, verschiedene Stilelemente zu mixen, und dasselbe gilt auch für die Persönlichkeit."

Dieser spielerische Zugang hilft, Ängste vor dem Verlust eines vertrauten Image abzubauen. "Wir müssen Labels ja nicht gleich aufgeben", sagt Eva Wlodarek. "Das Kontrastprogramm ist wichtig, damit die anderen Seiten der Persönlichkeit auch gezeigt und ausgelebt werden können. Dabei sollte man sich nicht beirren lassen, selbst wenn man andere damit irritiert oder überrascht."

Und das passiert mit schönster Regelmäßigkeit. Denn nicht nur wir selbst hängen an den Labels fest, auch die Umwelt liebt sie. Wenn wir das "gute alte Selbst" oder zumindest das, was uns angeblich ausmacht, auffällig ändern, gibt es nur selten Lob – viel häufiger sind Schweigen, Ablehnung und Schelte. Selbst Freunde, Partner und Familie versperren uns mit dem Satz "Ich mochte dich vorher aber lieber!" immer wieder den Weg. Meist nicht, weil unsere Veränderungen tatsächlich schlecht wären, sondern weil die Saboteure selbst in einer Rolle erstarrt sind und panische Angst vor Veränderungen haben. "Man kann zu seinen Freunden ruhig sagen: Ich bediene zwar das Label, aber bitte guckt gelegentlich dahinter. Und auch man selbst sollte dahinter gucken", findet Eva Wlodarek.

Es gehört Mut dazu, das eigene Selbstbild hin und wieder in Frage zu stellen

Natürlich gehört Mut dazu, das Bild von sich selbst ab und zu in Frage zu stellen – vor allem, wenn es schmeichelhaft ist. Und von einem falschen Label trennen die meisten sich erst, wenn es ihnen zur Zwangsjacke geworden ist. Aber nicht alle suchen nach dem wahren Selbst und der authentischen Mitte. "Manche nehmen ihre Labels am Ende noch mit ins Grab", sagt Eva Wlodarek. Und das ist tragisch, denn das Spiel mit der eigenen Persönlichkeit kann man gewinnen. Wir können jede angeheftete Identität loslassen, ohne uns selbst zu verlieren. Und dieses Wissen gibt uns mehr Sicherheit als Geld, Macht oder Schönheit.

Text: Sabine Reichel Fotos: Jochen Schmadtke

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