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Wir sind schön genug!

Von wegen, der Druck lässt irgendwann nach: Außer attraktiv sollen Frauen jeden Alters jetzt auch noch möglichst sexy aussehen. Stopp! Wir sind schön genug!

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Meine Freundin Katrin musste zum Frauenarzt. Ein paar Tage vor dem Termin erzählte sie mir am Telefon davon. Sie sagte: "Das steht mir total bevor, ich muss die ganze Zeit daran denken." O nein, dachte ich und fragte besorgt, was denn los sei. Katrin sagte: "Meine Schamhaare. Ich will sie mir nicht abrasieren, nur weil ich zum Frauenarzt gehe. Aber Schamhaare hat der doch seit Jahren nicht mehr gesehen. Bestimmt sind alle seine Patientinnen rasiert, nur ich nicht. Und dann lieg ich da mit diesen Haaren, und er findet mich alt und unzeitgemäß, und das ist mir einfach peinlich." Mit meiner Freundin Lisa verbrachte ich vergangenes Jahr im Spätsommer einen Tag am Nordseestrand. Wir saßen im Bikini auf unseren Handtüchern, wir redeten über Jobprobleme und Kinder und die Bücher, die wir gerade lasen, und zwischendurch blinzelten wir still in die Sonne. Plötzlich sagte Lisa: "Ich hätte schon gern einen konturierteren Körper." Ich sah an mir herunter und sagte, dass mir das auch so gehe, aber dass ein gut konturierter Körper sehr zeitintensiv in Anschaffung und Haltung sei, weswegen ich bis auf Weiteres darauf verzichten müsse.

Kürzlich saß ich mit einigen Kolleginnen in der Kantine, eine von ihnen hatte mattgrünen Lack auf den Fingernägeln, der allseits bewundert wurde, und die Kollegin lächelte erfreut und sagte: "Na ja, perfekt manikürte Hände sind heute ja eine Selbstverständlichkeit." Hört, hört, dachte ich spöttisch, aber als ich am nächsten Morgen in der S-Bahn saß, wollte ich es genauer wissen. Ich inspizierte sämtliche Frauenhände in meinem Blickfeld. Und tatsächlich: Von einem guten Dutzend Handpaaren waren nur zwei unmanikürt. Das eine gehörte einer halbwüchsigen Punkerin. Das andere gehörte mir. Und das war der Moment, als mir endgültig klar wurde, dass es in den vergangenen 20 Jahren nicht wirklich gut für uns gelaufen ist.

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Bin ich die Einzige mit unrasierten Füßen?

Als ich vor 25 Jahren in mein Erwachsenenleben startete, war ich eine normale junge Frau mit normaler Figur, rasierten Beinen und sauberen Fingernägeln. Ich war nicht gerade elektrisiert von meinem Aussehen, aber unterm Strich gab es nicht viel zu meckern. Inzwischen bin ich eine Mitvierzigerin mit normaler Figur, rasierten Beinen und sauberen Fingernägeln, aber gemessen an heutigen Standards bin ich ein haariger, ungepflegter Freak. Ich habe wirklich mal geglaubt, dass ich in Sachen Attraktivität mit zunehmendem Alter gelassener werden würde. Aber die Wahrheit ist: Es wird immer schlimmer. Wir müssen - oder zumindest sollen wir - uns heute einen Kopf machen um abstruse optische Details, über die vor ein, zwei, drei Jahrzehnten kein Mensch auch nur eine Sekunde nachgedacht hat. Nicht nur Attraktivität, auch Sexyness ist inzwischen zu einem Dauerauftrag geworden, und kaum eine Frau schafft es, sich den Anforderungen dieses Schmalspur-Schönheitsideals zu entziehen. "Wenn du nicht sexy bist, bist du wertlos. Und die Definition von Sexyness wird jedes Jahr enger - im wahrsten Sinne des Wortes", so beschrieb die 25-jährige britische Feministin und Autorin Laurie Penny ("Fleischmarkt") die Lage kürzlich in einem Interview.

Vor 25 Jahren war meine Mutter so alt wie ich heute. Wenn sie oder ihre Freundinnen sich zu dick fühlten, was vorkam, machten sie ein paar Wochen BRIGITTE- oder Atkins-Diät, und wenn sie drei Kilo weniger wogen, war die Welt wieder in Ordnung. Dass ein Frauenkörper außer schlank auch noch gut konturiert oder gar definiert sein könnte, war ihnen nicht bekannt.

In den frühen 90er Jahren fing ich an zu arbeiten, ich machte ein Volontariat beim "Playboy". Entsprechend sah ich fast täglich Bilder von schönen nackten Frauen, und alle hatten sie Schamhaare. Eine Playmate mit unten ohne? Undenkbar. Eine normale Frau mit unten ohne? Kannte ich nicht. Wir hatten Haare, wir schnippelten ein bisschen dran rum, kein besonders spannendes Thema. Und heute? Achselhaare, Schamhaare, Beinhaare? Igitt, o Schreck, o Graus! Ich habe unlängst entdeckt, dass auf meinen großen Zehen je drei längere sehr dunkelblonde Haare wachsen, und seither hege ich den fürchterlichen Verdacht, dass ich die einzige deutsche Großstadtbewohnerin mit unrasierten Füßen bin. Vielleicht hat meine Generation, die das Projekt Emanzipation als weitgehend abgeschlossen übernommen hat, nicht so genau hingeschaut, aber was wir uns in den letzten zwei Jahrzehnten alles haben aufdrücken lassen, wäre schon eine mittelgroße Revolte wert: Waxingstudios und Schamlippenverkleinerung, Size zero und totgehungerte Laufsteg-Mädchen, Dinnerskipping und "Make-up-free Monday", "Germany's next Topmodel" und "The Biggest Loser". Augenbrauentransplantation und Liposuktion. Fettunterspritzung und Botox. Schlauchboot-Lippen und Hair-Extensions. Highheels als Daseinszweck und Shapeware für alle.

Das ist nur eine kleine, unvollständige Auswahl der Phänomene und Maßnahmen, die ich besonders bizarr finde. Aber was mich noch mehr empört, ist, dass diese Diktatur keine Schonräume mehr gewährt, dass es mittlerweile keine Altersgrenzen nach unten mehr gibt und keine nach oben. Die Schriftstellerin Sibylle Berg widmete sich vor ein paar Monaten in ihrer Kolumne auf "Spiegel Online" dem kürzlich erschienenen und laut beklatschten Bildband "Advanced Style", in dem reiche, gut aussehende Frauen über 70 ihren virtuosen Look zur Schau stellen. "Auch auf den letzten Metern, wenn man über- oder untergewichtig in Kittelschürzen über Veranden kullert, dürfen wir das nicht mit wohligem Grunzen. Sondern haben den Forderungen nach eleganter Stromlinienförmigkeit, Gefälligkeit und Sexyness zu genügen", ätzte Berg in ihrem Artikel. "Erneut scheint eine Nische, die des Alters, in der eine Frau ihre Ruhe haben könnte, durch den Kapitalismus und die ihn begleitende Medienwelt bedroht. Na gut, dann sterbe ich halt, denkt man sich, dann hab ich meine Ruhe."

Als letzten Sommer Horden von acht- bis 18-jährigen Mädchen in Hotpants die Straßen bevölkerten, wurde mir bei deren Anblick jedes Mal fast schlecht. Bei dem Gedanken an die gierigen Männerblicke, denen sie sich aussetzen, und bei dem Gedanken an ihre Altersgenossinnen, deren Beine nicht Hotpantstauglich sind, weswegen sie den Sommer im abgedunkelten Zimmer verbringen und ins Kissen weinen. Aber natürlich geht es auch noch jünger. "Die Susanne hat da keinen Fettschwabbel", sagte die fünfjährige Hanna und griff meiner Freundin Jutta beherzt in die Innenseiten ihrer Oberschenkel, als Mutter und Tochter zusammen in der Badewanne saßen. Die Susanne ist die Freundin von Juttas Ex-Mann. "Ich hab keine Ahnung, woher Hanna das Wort Fettschwabbel kennt, von mir jedenfalls nicht", stöhnte die fassungslose Jutta, als sie tropfnass zum Telefon griff und mich anrief. "Früher waren Stiefmütter böse. Heute sind sie dünn."

Frauen dürfen sexy sein wollen, aber sie dürfen es nicht müssen

Über Freiwilligkeit müssen wir im Fall einer Fünfjährigen nicht reden, und überhaupt ist der Glaube an Freiheit im Zusammenhang mit dem großen Schönheitszirkus glatter Selbstbetrug, auch wenn das neofeministische Credo "Frauen dürfen sexy sein wollen, aber sie dürfen es nicht müssen" uns einen Entscheidungsspielraum vorgaukelt. Der durchschnittliche Medienkonsum in Deutschland liegt mittlerweile bei zehn Stunden am Tag, Tendenz steigend. Wir sind um die 3000 Werbebotschaften am Tag ausgesetzt und sehen damit mehr Werbung in einem Jahr als Menschen vor 50 Jahren in ihrem ganzen Leben. Wenn ein Rasierklingenhersteller einen dreistelligen Millionenbetrag für Marketingmaßnahmen in die Hand nimmt, um die Konkurrenz in Schach zu halten, kann es nur im Interesse der Rasierklingenfabrikanten dieser Welt liegen, dass Frauen aller Länder ihre Körperbehaarung auch künftig eklig finden. Aber das ist ja längst nicht alles: Zwischen fünf und zehn Millionen Frauen weltweit tragen inzwischen Silikonkissen unterm Busen. Der Markt der Fitness-DVDs wächst in den USA um elf Prozent pro Jahr. Jahr für Jahr wird ein erneutes Umsatzplus für das Segment Nagellack vermeldet, die Kosmetikbranche wird nicht müde, über den bunten Hype zu jubeln. Fast muss man sich wundern, dass es zu Beginn des neuen Jahrtausends diesen kleinen Platz am weiblichen Körper gab, der als Absatzmarkt noch nicht optimal genutzt war, aber da haben die Zuständigen inzwischen erfolgreich nachgearbeitet.

"Wenn alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachten und sich in ihren Körpern wohl und kraftvoll fühlten, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen", behauptet Laurie Penny in ihrem grandios renitenten Buch "Fleischmarkt", und sofort wird einem ganz schwindelig bei dem Gedanken, dass wir so machtlos, wie wir uns oft fühlen, gar nicht sind.

Wohl und kraftvoll - zwei wunderbare Worte. Aber leider auch: zwei ziemlich ehrgeizige Prämissen. Denn auf dem langen Weg zur antiästhetischen Weltrevolution lungern außer dem Kapitalismus noch ein paar Männer rum. Die sich daran gewöhnt haben, dass Frauen jeden Alters auch in der haarlosen, durchtrainierten, großbusigen Variante zu haben sind. Deren Vorstellung von Schönheit immer stärker durch die Plastikpuppen-Optik geprägt ist, die die Pornoindustrie vorgibt (jährlicher Umsatz allein in den USA: 14 Milliarden Dollar). Die laut der israelischen Soziologin Eva Illouz auf dem Markt der Paarungswilligen die Ansagen machen. Weil sie ja noch später im Leben Familien gründen können, deshalb weniger Bindungsdruck haben und somit von beziehungswilligen Frauen heftig umworben sind. Oder anders gesagt: mit allen erdenklichen optischen Ködern gejagt werden müssen.

Die britische Schauspielerin Charlotte Rampling sagte letztes Jahr im Gespräch mit BRIGITTE WOMAN, dass viele ihrer Kolleginnen an ihren Körpern herumdoktorn ließen, "angeblich, weil die Leinwand es verlangt. Ich denke, sie tun es vor allem, weil sie glauben, Männer wollen diese perfekten Brüste und den runden Hintern. Ja, stimmt. Sie wollen es. Weil viele Frauen es ihnen ja auch bieten. Aber wir sollten kühn sein und sagen: ,Fuck you! Ich bin so, wie ich bin.'"

Wir brauchen eine neue Körpersolidarität

Nachdem im September vergangenen Jahres in den Medien weltweit über die Gewichtszunahme der Pop-Ikone Lady Gaga gespottet wurde, rief diese genervt und kampfeslustig zur "Bodyrevolution 2013" auf. Über Facebook und Twitter ermutigte sie Frauen, zu ihren körperlichen Makeln zu stehen, sie als Teil ihrer Individualität zu feiern. Und ja, wir brauchen diese Individualität so dringend wie nie. Wir müssen unsere Sehnsucht nach Schönheit mit maximaler Vielfalt beantworten. Aber vor allem brauchen wir jetzt eins: Solidarität. Eine neue Körpersolidarität unter Frauen.

Für mich ist die Sache sonnenklar: Allein schafft es in diesen Zeiten keine Frau, sich gegen die Interessen von Medien und Märkten und Männern zu stellen. Wohl und kraftvoll werden wir uns auch nicht über Nacht fühlen, nur weil wir ahnen, dass es unser Leben angenehmer machen könnte. Aber die gute Nachricht ist: Wir brauchen keine öffentliche Push-up-BH-Verbrennung, um einen radikalen Anfang zu machen. Denn fürs Erste würde es völlig reichen, wenn wir Frauen freundlicher und wohlwollender miteinander umgingen. Und ein Bewusstsein dafür entwickelten, wie sich die kleinen und großen Entscheidungen unser Aussehen betreffend auf andere Frauen auswirken.

Natürlich gehöre auch ich zu den Frauen, die mehrmals täglich abfällig und gedankenlos über andere Frauen sprechen und urteilen. "Die trägt ein Kleid, das schon vor fünf Jahren unmodisch war. Die war auch mal dünner, und der Haarschnitt geht gar nicht. Und die - ganz schön faltig geworden." Was für eine grauenhafte, würdelose Endlosschleife! Könnten wir doch genauso gut lassen. "Interessanterweise wird auch das eigene Körpergefühl viel positiver, wenn man sich nicht den ganzen Tag damit beschäftigt, bei anderen Menschen Fehler zu finden", schreibt die Bloggerin und Autorin Anke Gröner in ihrem Buch "Nudeldicke Deern". "Wenn man nämlich stattdessen versucht, bei jedem Menschen etwas zu finden, was schön ist, merkt man erstens, dass man immer etwas findet. Und zweitens, wie okay man selbst eigentlich ist."

Wenn eine Kollegin beim Mittagessen erzählt, dass sie nunmehr ernsthaft über Botox nachdenkt (und spätestens ab 50 nimmt die Anzahl der Ernsthaft-darüber-Nachdenkerinnen rapide zu), wäre es doch durchaus möglich, sie nicht nur an die gesundheitlichen und optischen Risiken zu erinnern, sondern zu sagen: "Was soll das? Wenn du demnächst mit einem babyarschglatten Gesicht rumläufst, geraten wir doch alle nur noch mehr unter Druck."

Als eine Freundin kürzlich zum ersten Mal mit einem frisch eroberten Mann in die Kissen fiel, lästerte der nach vollzogenem Beischlaf, sie könne sich unten rum auch mal etwas großflächiger rasieren. Sie gelobte Besserung, schrecklich, dabei gibt es in so einer Situation nur eine angemessene Reaktion: heimschicken, den Idioten. Nicht nur aus Selbstachtung, sondern für die Sache. Damit er im Bett der nächsten Frau ein eleganteres Benehmen an den Tag legt.

Wir müssen anfangen, uns den Rücken zu stärken, uns zu unterstützen und gemeinsam zu wehren. Uns gegenseitig von Diäten abhalten und vom Kauf absurd enger Röhrenjeans. Wenn wir es schafften, zu Komplizinnen zu werden, was wäre das für eine Freiheit, was für ein Spaß. Wir könnten uns Pralinen schenken und uns gegenseitig mit Sahnesoßen bekochen. Wir würden uns in luftig-rasante Kleider werfen und ein Highheel-Verbot aussprechen, bevor wir miteinander ausgehen, und dann bis morgens um vier in Turnschuhen tanzen.

Vielleicht wäre das sogar der größte Gewinn, den wir einfahren könnten, wenn wir dem Schönheitswahn den Stinkefinger zeigten: Zeit. Jede Stunde, die wir nicht im Fitness-Studio schwitzen, können wir mit Menschen verbringen, die wir lieben. Mit unseren Freundinnen, mit unseren Kindern, gern auch mit netten Männern. Oder wir können in dieser Zeit großartige Bücher lesen und statt unserer Muskeln unser Gehirn trainieren. Und, noch besser: unseren Töchtern Vorbild sein, denn es wird Spuren hinterlassen, wenn sie uns öfter mit klugen Freundinnen am Küchentisch lachen sehen als einsam bei der Maniküre oder der Lektüre von Low-Carb-Diätbüchern. Und falls es uns an langen Winterabenden doch mal ein bisschen öde wird, könnten wir aus unserer Shapeware pummelige, fleischfarbene Stoffpuppen nähen und sie unseren Töchtern ins Barbie-Haus setzen... Ja, schon gut, ich weiß: Wir wären nicht die erste Frauen-Generation, die an diesem speziellen Projekt scheitert. Aber man kann's ja mal wieder versuchen.

Zum Weiterlesen

Laurie Penny: "Fleischmarkt: Weibliche Körper im Kapitalismus" (128 S., 9,90 Euro, Edition Nautilus) • Eva Illouz: "Warum Liebe weh tut: Eine soziologische Erklärung" (467 S., 14 Euro, Suhrkamp Taschenbuch) • Anke Gröner: "Nudeldicke Deern: Free your mind and your fat ass will follow" (240 S., 14,95 Euro, Wunderlich)

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Text: Christine Hohwieler Foto: CSA Images/Getty ImagesBRIGITTE woman 02/13

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