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Schlechtes Gewissen: Die Schuld ist immer dabei

Schlechtes Gewissen: Frau schaut nach oben
© eldar nurkovic / Shutterstock
Unser schlechtes Gewissen ist wie New York. Es schläft nie und hält uns in Dauerschuld gegenüber unserem Partner, unseren Kindern und unserem Chef. Wie schaffen wir es, uns vom schlechten Gewissen nicht tyrannisieren zu lassen?

"Was ist nur mit dir los? Du hast ja schon wieder Gabys Geburtstag vergessen! Wie unzuverlässig! Bald wird sie nichts mehr von dir wissen wollen!" Diese Stimme kennt jeder. Sie gehört unserem Gewissen. Willkommen im Land der lähmenden Schuldgefühle. Denn unser schlechtes Gewissen ist kein angenehmer Gesprächspartner. Es macht uns nicht freundlich darauf aufmerksam, dass wir den Geburtstag unserer Freundin vergessen haben. Nein, es ist anmaßend und vorwurfsvoll. Unser Zentralorgan für richtiges Verhalten ist wie New York. Es schläft nie.

Wenn wir unseren Nachbarn versehentlich mit dem Rennrad über den Haufen gefahren haben oder den Nachmittag mit unserem Ex im Hotelzimmer verbringen, ist ein schlechtes Gewissen absolut berechtigt. Wir fühlen uns mies, damit wir wiedergutmachen, was wir angerichtet haben.

Das Gewissen hält uns den Spiegel vor.

Aber zum Glück begehen wir große Schandtaten eher selten. Trotzdem hadern wir ständig mit unserem Alltagsgewissen, das uns wie ein strenger Lebenscoach bis in die hintersten Windungen unseres Gehirns hinein überwacht. Und uns in Dauerschuld hält. Gegenüber dem Liebsten, weil wir gerade keine Lust auf Sex haben. Gegenüber den Kindern, weil ohnehin nie genug Zeit für sie bleibt, und gegenüber dem Chef, weil der Entwurf immer noch nicht fertig ist. Und sogar der Umwelt gegenüber fühlen wir uns schuldig, weil unsere alte Kiste völlig ungrüne dreizehn Liter schluckt. Und doch: So quälend und penetrant wir es auch manchmal erleben mögen, im Grunde ist das Gewissen ein großartiger Teil unserer Psyche. Es sorgt vorausschauend dafür, dass unsere Mitmenschen uns auch weiterhin mögen und wertschätzen. Und es beweist, dass wir uns unserer Schwächen wenigstens bewusst sind. Es hält uns den Spiegel vor und hilft uns, Fehler zu erkennen und wieder glatt zu bügeln.

Das schlechte Gewissen lernt dazu

Das Gewissen ist angeboren. Im Laufe unseres Lebens füllt es sich mit den Regeln und Werten unserer Kultur. Solange wir klein sind, ist unser Gewissen ziemlich barbarisch. Es kennt nur Gut oder Böse. Erst allmählich lernen wir, dass wir ein guter Mensch bleiben, auch wenn wir Omas Lieblingsvase zerdeppert haben. Und dass es einen Unterschied macht, ob wir etwas mit Absicht tun oder aus Unwissen.

Ein reifes Gewissen entwickeln wir, wenn wir lernen, moralische Konflikte zu lösen, indem wir die Schwächen unseres eigenen Denkens aufdecken und uns in andere einfühlen können.

In unserer Lebensmitte werden die Gewissensbisse seltener. Einerseits haben wir festere Wertvorstellungen entwickelt, andererseits sind wir unabhängiger und können sie ignorieren, wenn es uns sinnvoll erscheint. Unser Alltagsgewissen ist inzwischen unser leitender innerer Angestellter geworden, der uns daran erinnert, unsere alte Tante anzurufen und auf Ökostrom umzusteigen.

Männern fällt dieser lockere Umgang mit dem inneren Richter leichter. Weil sie sich mehr Aggressivität gegen andere erlauben, suchen sie die Schuld erst einmal nicht bei sich. Bei Frauen orientiert sich das Gewissen eher an Fürsorge. Und damit an der Frage: "Was hätte ich tun können?" Sie richten ihre Vorwürfe gegen sich selbst, auch weil sie häufig nicht gelernt haben, Wut und Ärger gegen andere auszuleben. Ein Mann kommt freudestrahlend eine halbe Stunde später zu einer Verabredung. Er flucht über den Verkehr, und damit ist die Sache erledigt. Ganz anders die Frau, die auf ihn gewartet hat. Sie schafft es sogar, sich selbst die Schuld für seine Unpünktlichkeit zu geben. Weil sie ihm Druck gemacht hat, weil sie sich anstellt, ja vielleicht sogar, weil sie plötzlich denkt, dass sie ihm nicht deutlich genug gesagt hat, dass er rechtzeitig da sein soll.

Ein schlechtes Gewissen kann man auch gegen andere einsetzen

Weil wir wissen, wie ein Gewissen wirkt, können wir es auch unbewusst oder absichtlich gegen andere einsetzen, als emotionale Erpressung. Mütter, die Ersten, die unser Gewissen mit Regeln auffüllen, sind wahre Meisterinnen darin. "Wie schön, dass du mich endlich auch mal wieder anrufst. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen!" Um diesen Schuldattacken zu entgehen, ruft die Tochter dann pflichtbewusst und zähneknirschend einmal wöchentlich bei Mama an. Doch emotionale Erpressung bringt niemals das gewünschte Resultat. Schuld macht unfrei. Und Liebe existiert nur in Freiheit. Die Beziehung ist belastet, und niemand fühlt sich wirklich wohl.

Wer mit ständigen Gewissensbissen versucht, die Anforderungen der anderen zu erfüllen, ist immer zum Scheitern verurteilt. Wir können es sowieso niemandem recht machen. Und sollten es erst gar nicht versuchen. Also, die Schuld nie stillschweigend akzeptieren, lieber direkt ansprechen: "Mama, ich werde dich anrufen, wenn ich Lust und Zeit habe." Klare Abgrenzung ist das beste Heilmittel gegen Schuldgefühle.

Es gibt eine einfache Formel, um mit seinem Gewissen klarzukommen. Das Gewissen darf uns kritisieren, aber nicht fertig machen. Wir erkennen an, dass es uns beschützt, uns warnt und Probleme aufzeigt. Das Gewissen ist unser Helfer, nicht unser Boss. Betrachten wir unser Gewissen als unseren Freund. Leicht ist das nicht, aber es lohnt jeden Versuch.

Text: Oskar Holzberg Foto: Getty Images

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