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Die wunderbare Kraft der Rituale im Alltag

Die wunderbare Kraft der Rituale im Alltag
© Cretas/Thinkstock
Sie sind unsere Anker im Alltag - kleine Rituale wie der Kaffee am Morgen. Sie geben uns das Gefühl: Alles ist gut. Und sie können helfen, Krisen zu bewältigen und Veränderungen zu begrüßen.

Nach dem Eingriff aßen wir Pommes frites. Auf einer Autobahnraststätte. Natürlich hatte meine Tochter Hunger, denn sie hatte den ganzen Morgen noch nichts gegessen. Selbst auf ihren Geburtstagskuchen, den es traditionell zum Frühstück gab, hatte sie verzichten müssen. Gleich nach dem Aufstehen fuhren wir zu dem Termin in die ambulante Klinik, die uns Pro Familia empfohlen hatte.

Um die Wartezeit zu überbrücken, spazierten wir eine geteerte Straße in dem Gewerbegebiet entlang. Später gingen wir hinein, und dann saß ich im Wartezimmer, bis ich gerufen wurde. "Es ist so schön, dass du mich nicht allein gelassen hast", sagte meine Tochter, frisch aus der Narkose erwacht. Ich weiß noch genau, welches Nachthemd sie trug. Ich hebe es bis heute auf und auch die rosa Söckchen. Es war ihr 16. Geburtstag.

Heute weiß ich, dass wir diesen Tag, an dem ihr Leben sich zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit so radikal änderte, anders hätten begehen können als mit einem lapidaren Stopp auf der Autobahn und einer anschließenden Geburtstagsfeier, auf der das Thema sorgfältig vermieden wurde. Vielleicht mit Kerzen, Blumen, mit Momenten des Innehaltens. Wir hätten ihn nach dem Wunsch meiner Tochter gestalten können, wenn wir das Handwerkszeug dazu gehabt hätten. Doch wir hatten keine Ahnung, waren eingeschüchtert von der Bedeutung der Stunden, in denen ihre ungeplante Schwangerschaft, die wir mühsam akzeptiert hatten, doch unerwartet mit einer Fehlgeburt endete. Wir ahnten, dass erneut etwas Einschneidendes geschehen war, doch wir waren unfähig, es auszudrücken.

"Ich hatte das Bedürfnis nach irgendeiner Art von Abschied."

Geburtstagsfeiern und Hochzeiten, Konfirmation und Kommunion, Einschulung und Abschied vom Kindergarten, all das kannten wir. Doch bei diesem sehr emotionalen, tiefgehenden, auch befreienden und für uns beide verbindenden Erlebnis waren wir allein, ohne Rahmen. Ohne ein passendes Ritual.

Die Münchner Religionslehrerin Lore Galitz war in einer ähnlichen Situation besser gerüstet. Sie hatte sich mit schamanischen Lehren befasst und war deshalb offen für die nicht fassbaren Dinge zwischen Himmel und Erde. Und so kam sie damals nach einer Fehlgeburt auf die Idee, ein Abschiedsritual für ihre Tochter - sie war sicher, dass es eine war - zu begehen. "Ich hatte zuerst schon die Ärztin gebeten, mir das zu zeigen, was sie aus mir herausholt", erzählt Lore Galitz 13 Jahre später.

Doch dann machte ihr die Narkoseverwirrtheit einen Strich durch die Rechnung. "Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, obwohl mir die Ärztin versichert hat, es mir gezeigt und auch lange mit mir gesprochen zu haben", sagt sie. Wieder zu Hause fehlte der Lehrerin immer noch etwas. "Ich hatte einfach das Bedürfnis nach irgendeiner Art von Abschied", erzählt sie. Schließlich kam ihr die Idee: Sie kaufte zwei apricotfarbene Rosen, eine für sich und eine für ihren Mann. Zusammen gingen sie auf eine Brücke. Jeder von ihnen sagte seine eigenen Abschiedsworte zur ungeborenen Tochter und warf dann die Rose in den Fluss. Die Strömung trug sie langsam davon.

Die Vorstellung von einem Status quo ist eine wohltuende Illusion.

"Danach habe ich mich ruhiger gefühlt", weiß Lore Galitz noch genau. "In mir war wieder Frieden." Angeregt durch dieses Erlebnis begann die Lehrerin, die später auch eine Feng-Shui-Ausbildung machte, immer mehr Rituale für sich selbst und schließlich auch für andere zu entwickeln. Inzwischen hat sie das Buch "Zeit für Rituale - Impulse für ein erfülltes Leben" geschrieben.

"Scheiden tut weh", das weiß der Volksmund schon immer. Doch es geht nicht nur um das Scheiden von anderen Menschen, sondern auch von Situationen, von Zuständen, von der Gegenwart, die schon im nächsten Moment Vergangenheit ist. Im Grunde von sich selbst. Denn wir verändern uns täglich, stündlich, minütlich.

Immer wieder sterben Zellen ab, neue entstehen, sogar im Gehirn wachsen täglich 1400 neue Nervenzellen, wie die Wissenschaft erst 2013 nachweisen konnte. Doch die stetige Veränderung ist auch unheimlich. Sie macht Angst. Wir möchten jung bleiben. Verliebt bleiben. Glücklich bleiben. Am liebsten unsterblich.

Die Vorstellung von einem Status quo ist eine wohltuende Illusion, die wir brauchen und lieben. Sie vermittelt uns das Gefühl von Kontrolle: Nichts Unvorhergesehenes kann geschehen, vor allem nichts Unerwünschtes. Das Bedürfnis, alles im Griff zu haben, unterstützen wir mit selbst gestalteten Alltagsritualen.

Mit kleinen Gewohnheiten wie der ersten Tasse Tee nach dem Duschen, dem Weißwein mit Freunden nach Feierabend beim Italiener um die Ecke. Die Tradition, jeden Sonntagmorgen Brötchen zu holen und mit Mann und Zeitung im Bett zu frühstücken.

Wiederholung gibt Sicherheit, bietet Halt und lässt uns die Wogen des Lebens, die ansonsten über uns schwappen, besser aushalten. "Dass alles so bleibt, wie es ist" ist nicht umsonst einer unserer liebsten Wünsche. Ein angenehmes Gefühl stellt sich ein, wenn wir jeden Morgen wieder in der Küche stehen und zuschauen, wie der Kaffee aus der Maschine blubbert. Vorgestern ist gestern ist heute. No news is good news.

Auch in einer Krise können Rituale helfen.

Mithilfe solcher kleinen Rituale können wir inmitten der schnellen Veränderungen kurz innehalten, uns besinnen und bewusst wahrnehmen, was ist. Uns daran erfreuen, dass alles nach Plan läuft. Es gibt aber auch Situationen, in denen die Kontrolle versagt. Wenn man sich trennt. Krank wird. Oder den Job verliert. Oder eben bei einer Fehlgeburt.

Während es leicht ist, sich schöne Besinnungsrituale zu schaffen und gute Momente zu zelebrieren, ist man in einer Krise überfordert. Die wenigsten von uns haben Erfahrung damit, wie sie sich in schmerzvollen, kritischen Momenten selbst unterstützen können. Man kann es sich aber aneignen. Etwas Neues ausprobieren.

Gewiss fühlt sich so was erst mal sehr fremd und komisch oder albern an: sich beispielsweise hinzusetzen auf einen Teppich oder eine Decke. Und eine dicke Kerze anzuzünden, die für das eigene innere Licht steht. Und dann für alle positiven und kraftspendenden Dinge in seinem Leben weitere Teelichter anzuzünden und sie im Kreis um sich herumzustellen, so dass man sich in einer Phase von Angst oder Schwäche vom Guten umgeben fühlt.

Wer genau hinschaut, wird deutlicher fühlen. Aber auch schneller verarbeiten.

In schwierigen Lebenslagen ein Ritual zu zelebrieren erfordert Mut. Denn es betäubt nicht, sondern macht bewusst. Wer genau hinschaut, wird deutlicher fühlen. Aber auch schneller verarbeiten. Indem wir auf das zugehen, was uns aus der Bahn zu werfen droht, gewinnen wir eine gewisse Macht darüber. Das hat sogar eine wissenschaftliche Studie bewiesen.

Zwei Forscher der Harvard Business School, Michael Norton und Francesca Gino, untersuchten die Reaktion von Menschen auf Verluste. 247 Personen sollten vom Tod eines geliebten Menschen oder vom Ende einer Liebesbeziehung berichten. Die Forscher fragten auch, ob nach diesen Erlebnissen irgendeine Art von Ritual zum Einsatz kam, und sei es nur, dass bestimmte Orte gemieden oder bestimmte Kleidungsstücke nicht mehr getragen wurden.

Das Ergebnis: Alle Befragten, die von einem Ritual berichten konnten, hatten den Verlust besser verarbeitet. Eine symbolische Handlung mache die Umstände erträglicher, weil sie "ein Gefühl von Kontrolle" teilweise wieder herstelle, so die Forscher. Wissenschaftler fanden aber auch heraus, dass Rituale nicht nur trösten, sondern Glücksgefühle verstärken können.

So ließ Kathleen Vohs von der Carlson School oft Management an der Universität von Minnesota hunderte von Probanden Schokolade essen. Sie fand heraus, dass diejenigen Versuchsteilnehmer, die angewiesen waren, sie zuerst in zwei Hälften zu zerbrechen und dann die erste Hälfte wiederum in einzelne Riegel, das Verspeisen der Süßigkeit mehr genießen konnten.

Hinschauen statt wegschauen, spüren statt verdrängen.

Auch wenn sie derart harmlos daherkommen wie im Fall der Schokolade, haben Rituale offensichtlich das Potenzial, Empfindungen zu intensivieren. Hinschauen statt wegschauen, spüren statt verdrängen. Einen solchen Umgang mit dem Leben können wir natürlich genauso pflegen, wenn es darum geht, die ganz alltägliche Veränderung nicht nur nebenbei wahrzunehmen, sondern feierlich zu begehen.

Einfach um mehr Bewusstheit zu erzeugen, öfter innezuhalten. Es gibt ja genügend "harmlose" Anlässe: Verreisen. Umziehen. Ein neuer Job. Die Kinder ziehen aus. Die Menopause ist da. Oder einfach die Jahreszeiten, die einem den Wandel vor Augen führen. Manche besonders. Der Herbst. Weihnachten. Silvester. Nicht nur ein Jahr geht dahin, auch die alte Tante ist gestorben, der Bruder kommt an Heiligabend nicht mehr nach Hause, und die Mutter kann die guten Plätzchen nicht mehr backen, weil sie das Rezept wegen ihrer Alzheimer-Erkrankung vergessen hat.

Aber auch: Die Tochter bringt zum ersten Mal ihren Freund mit, der Sohn schmückt jetzt den Baum. In vielen Familien kommen in den Weihnachtstagen ohnehin lieb gewonnene Rituale zum Einsatz. Und vielleicht hätten ja alle Familienmitglieder Freude daran, mal ein neues auszuprobieren. Und sei es nur, dass jeder an Heiligabend eine Kerze am Baum anzündet und dabei einen Wunsch formuliert für sich oder jemand anderen.

Vielleicht können wir unserem Unterbewusstsein Aufträge erteilen, die es dann erfüllt.

Die Angst vor dem Unbekannten können wir durch unsere Wünsche und Visionen tatsächlich leichter bannen. Und vielleicht können wir unserem Unterbewusstsein wirklich Aufträge erteilen, die es dann erfüllt. So wie Lore Galitz und ihr Mann dem Abschied von ihrem ungeborenen Kind Raum gaben, indem sie die Rosen davonschwimmen ließen.

Das erste wirklich friedvolle und erfüllte Silvester meines Lebens erlebte ich 2012. Ich kann behaupten, dass ich vorher alle nur möglichen Varianten einer Silvesterfeier ausprobiert habe. Allein, mit Freunden, mit Arbeit. In den Bergen, auf Partys, bei festlichen Essen. Im Luxus, in der Kneipe um die Ecke. Doch immer blieb eine Leere, ging das Ereignis über mich hinweg, ich war einfach nicht richtig beteiligt.

Im letzten Jahr war es völlig anders, obwohl es äußerlich so unspektakulär, sogar fast ein bisschen peinlich war. Noch vor dem aufregenden Jahreswechsel um Mitternacht haben wir uns auf einer Feier bei Lore Galitz mit dem Neuen, das 2013 auf uns zukommen wird, beschäftigt. Wir haben auf Zettel geschrieben, was wir gern loswerden möchten, und diese dann feierlich im Kreis um ein Feuer stehend verbrannt. Jeder hat zuvor laut seinen Namen gesagt und "Ich möchte Altes loswerden und Neues begrüßen". Danach hat jeder seine eigene Collage für das neue Jahr erstellt.

Aus Zeitschriften haben wir Buchstaben, Worte und Bilder ausgeschnitten und auf eine Pappe geklebt. Ein bisschen fühlten wir uns wie im Kindergarten, aber eben auch genauso geborgen. Zum ersten Mal hatte ich das befriedigende Gefühl, dass ich vorausgeschaut und mir meine eigene Zeit auf eine Weise angeeignet habe. Und ich empfand eine Gestaltungsmacht am eigenen Leben, die ich bis dahin vermisst hatte. Die übliche Silvester- und Neujahrstraurigkeit blieb aus. Wo auch immer ich in diesem Jahre feiere: Meinen Zettel werde ich wieder verbrennen. Und wenn es im Blumentopf auf dem Balkon ist.

Text: Claudia Wessel Ein Artikel aus BRIGITTE woman 12/2013

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