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Ich will nicht mehr brav sein!

Warum möchten sich viele Frauen verändern, wenn sie die wichtigsten Lebensziele gerade erreicht haben? Weil sie nicht mehr brav sein wollen, sagt BRIGITTE WOMAN-Autorin Milena Moser.

"Mal nicht so brav", sagt Verena und rückt ihre dünnrandige Brille zurecht. Das neue Gestell ist rot, unterscheidet sich sonst aber nicht von ihrem alten. Ehrlich gesagt, es wirkt genauso brav. Die ganze Frau wirkt brav. Ordentlich. Unauffällig. Aber ich kenne sie schon zu lange und zu gut, um mich von ihrem Äußeren täuschen zu lassen. Brav ist das Letzte, was mir zu ihr einfällt. Brav. Was heißt das überhaupt? Angepasst? Konventionell? Konservativ? Vorsichtig? Der Duden meint: 1: (von Kindern) sich so verhaltend, wie es die Erwachsenen erwarten oder wünschen; gehorsam, artig; 2a: (verhaltend) von rechtschaffener, biederer Wesensart, 2b: bieder, hausbacken.

Nach dieser Definition bin ich die Bravere von uns beiden, obwohl ich ein scheinbar weniger konventionelles Leben führe als meine Freundin Verena. Doch dieser Schein trügt. Die ganze Verwirrung meiner Generation steckt in dieser Definition: sich so verhalten, wie es die Erwachsenen erwarten oder wünschen. Wir wurden in den späten 50er und frühen 60er Jahren geboren, als Töchter der ersten Frauengeneration, die sich aus den Fesseln der klassischen Rollenverteilung befreit, das Korsett des vorgeschriebenen Lebensentwurfes gesprengt, sich im wörtlichen Sinn emanzipiert hat. Je nachdem, wie alt wir damals waren, schauten wir unseren Müttern nachsichtig oder empört dabei zu, wie sie den Staubsauger ausstöpselten und stattdessen zum Malpinsel griffen. Wie sie ein kaltes Abendbrot servierten, statt zu kochen, und anschließend zum Treffen ihrer Selbsthilfegruppe gingen. Und meist auch, wie sie ihre Männer, unsere Väter, verließen.

If you want to sing out, sing out! And if you want to be free, be free...

Dieser Song von Cat Stevens (auch er hat sich gehäutet: Seit er Ende der 70er Jahre zum Islam konvertiert ist, nennt er sich Yusuf Islam), eine Hymne an die Selbstverwirklichung, an die persönliche Freiheit, war der Soundtrack zum Kultfilm der 70er Jahre "Harold and Maude" - und zum neuen Lebensgefühl unserer Mütter. Unsere Mütter wollten nicht mehr brav sein. Und erst recht nicht wollten sie ihre Töchter zu braven Mädchen erziehen. Wir sollten den direkten Weg zu uns selbst gehen können. Sie schenkten uns Fingerfarben, damit wir uns kreativ austobten. Nur brave Mädchen kolorieren innerhalb vorgedruckter Linien! Wir durften nicht mit Barbiepuppen spielen und unsere ersten Achselhaare nicht rasieren, denn wir sollten uns keinem Schönheitsideal unterwerfen. Uns nicht festlegen, nicht auf einen Mann, nicht auf eine Rolle. Wir sollten uns selbst verwirklichen. Die Welt stand uns offen. Alles war möglich. Das glaubten wir natürlich gern. Wir probierten alles aus. Und waren also, laut Duden, genau deshalb brav: Wir verhielten uns so, wie unsere Mütter es von uns erwarteten. Wohin hat uns das geführt?

And if you want to live high, live high. And if you want to live low, live low

"Eine noch", sagt Verena und nimmt sich eine neue Bücherkiste vor, "dann gehen wir was essen." Wir sitzen auf halb ausgepackten Umzugskisten. Meinen Umzugskisten. Vier Wände umgeben mich, ein einziges Zimmer. Eben lebte ich noch in einem Haus. Einem Traumhaus mit sieben Zimmern und zwei Bädern. Mit einem Garten und einer Waschküche. Und viel Stauraum. Doch alles, was wirklich mir gehört, findet Platz in diesen vier Wänden. "Schau mal, wie passend!" Kichernd hält Verena ein Buch hoch. Ein Zimmer für sich allein – das hat Virginia Woolf schon vor 80 Jahren gefordert. Als Grundrecht jeder Frau, als Symbol der Unabhängigkeit und Grundvoraussetzung ihrer schöpferischen Kraft. Warum habe ich es nicht fertiggebracht, eines der sieben Traumzimmer zu meinem zu machen?

Immerhin bin ich eine gestandene Schriftstellerin, ich zitiere Virginia Woolf im Schlaf, ich war mit einem Künstler verheiratet. Wir hatten den Anspruch, die Ehe neu zu definieren, und sind dann doch an uralten Mustern gescheitert. Wie alle Töchter wollte ich es anders, besser machen als meine Mutter, die nach ihrer Scheidung allein geblieben ist (wenn auch freiwillig und gern). Ich wollte mich verwirklichen und eine große Liebe leben. Ich wollte alles – das hatte man mir schließlich versprochen. Und ich arbeitete hart dafür. Du kannst alles machen – dieses Versprechen meiner Jugend verwandelte sich zunehmend in eine Drohung: Du musst auch alles machen! Und zwar selbst! Das tat ich, mit immer fester zusammengebissenen Zähnen, bis meine Lippen bluteten. Bis ich gehen musste. Ich zog aus, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorbereitung, ohne Absicherung. Und hier sitze ich nun, allein, in einem Zimmer voller Bücher, aber ohne Regale. Und fange wieder einmal ganz von vorn an.

You can do what you want. The opportunity's on. And if you find a new way, you can do it today

Verena hingegen ist seit 27 Jahren mit ihrem Mann verheiratet, mit dem sie vier Söhne großgezogen hat und (zum Glück für mich) ein Umzugsunternehmen führt. Von außen sieht das ganz bürgerlich aus. Doch Verena lässt sich selbstverständlich für ihre Arbeit im Geschäft bezahlen und leistet sich seit Jahren ein Zimmer für sich allein. Mehr noch, eine richtige kleine Wohnung in der nächstgrößeren Stadt. Sie hat sie liebevoll eingerichtet und verbringt dort ein bis zwei Nächte pro Woche. "Ich kann mein Leben nur so leben, wie ich es lebe, wenn ich es auch mitbestimme", sagt sie mit ihrer klaren Stimme. "Wenn ich darin meine Freiräume habe." Verena hat in ihrer langen Ehe immer wieder auf dem Eigenen bestanden. Im Kleinen wie im Großen. Verena geht einen Weg, der ganz gerade erscheint, der aber, wenn man genau hinschaut, auf eine verschlungene Weise mäandert, die ihr entspricht. Dieser Weg ist ihrer, und den geht sie unbeirrbar und ruhig. Aber keinesfalls brav.

Sie muss nicht ausbrechen, kein Geschirr zerschlagen. Ich hingegen habe meinen selbst gewählten Weg Jahr für Jahr mit weiteren Ansprüchen geteert, ich habe ihn – aus Erschöpfung oder Feigheit – so lange begradigt und verflacht, bis er gar nicht mehr meiner war. Bis mir nichts anderes mehr möglich schien, als mit Gewalt auszubrechen. "Klar musst du Kompromisse machen", sagt Verena. "Aber nur, solange du dich nicht verbiegst." Kann man das? Sich treu bleiben, sein eigenes Leben leben und doch Teil der Gemeinschaft sein? Man kann es, wenn man wie Verena weiß, wer man ist und was man braucht, und das ganz selbstverständlich als im System vorgesehen annimmt. Doch was zum Teufel heißt das für mich? Wer bin "ich selbst"? Müsste ich das, mit fast 50, nicht langsam wissen?

And if you want to be me, be me. And if you want to be you, be you

Wir räumen die letzten Bücher aus und gehen dann essen. Gleich um die Ecke meiner neuen Wohnung befindet sich eines unserer Lieblingslokale, ein altmodischer Gasthof mit einer traditionellen Karte und einem Stammtisch, an dem die immer gleichen vier alten Männer sitzen. Oldies auch im Radio, und dann wird dieses Lied gespielt aus dem Film „Harold and Maude“. Eines meiner Lieblingslieder. Als ich es zum ersten Mal hörte, war ich jung und arrogant und dachte: Ja, logisch, was denn sonst? Natürlich kannst du alles machen, alles sein. Weiß ich doch! 20 oder 30 Jahre später sitze ich hier und heule in meine Rösti mit Spiegelei. Weil ich so viele Jahre verloren, weil ich das Einfachste, Grundlegendste vergessen habe: Ich kann sein, wer ich bin.

"Das Leben ist eine Perlenkette", behauptet Verena plötzlich und ganz uncharakteristisch, denn tragen würde sie so etwas nie. Vermutlich will sie mich nur trösten. "Eine Reihe glänzender Höhepunkte!" - "Ach, Quatsch!" Ich suche nach einem Gegenbild, einen Kranz wilder Rosen will ich mir um den Hals legen, wenn ich mich nur nicht daran verletzen würde - da mischt sich Yolanda ein. Sie ist eine dieser Kellnerinnen, die man sich in keinem anderen Beruf, in keinem anderen Lokal vorstellen könnte. Sie gehört zur Einrichtung, die seit 30 Jahren unverändert ist, ebenso wie ihre Frisur. Sie hat schon alles gesehen und alles gehört, und sie denkt sich ihren Teil. "Perlenkette", sagt Yolanda, "von mir aus. Du darfst nur die Knoten nicht vergessen!" Dann bringt Yolanda noch eine Flasche Landwein, und wir stoßen an. "Was immer kommen mag", sagt Verena. Und ich denke: Ich bin gar nicht vom rechten Weg abgekommen. Ich habe mich nicht verirrt. Ich bin auf dem verschlungenen, irreführenden, mühseligen, überraschenden, abenteuerlichen, steilen, beglückenden Weg zurück zu mir selbst. And if you want to be you, be you. Cause there's a million things to do. You know that there are...

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