Anzeige

Neu anfangen: So geht's

Rettungsring an Reling gelehnt
© DeymosHR / Shutterstock
Viel erlebt, viel erreicht - doch viel Schönes könnte auch noch vor uns liegen. Neu anfangen: Drei Frauen erzählen ihre Geschichte und woher sie die Kraft dazu genommen haben.

Neu anfangen: Christiane Wehrmann hat es getan

Mit 24 hatte sie einen Ehemann, ein Häuschen auf dem Land, ihren Traumjob als Buchhändlerin. Und sie dachte nicht eine Sekunde daran, dass sie etwas verändern wollte: "Ich weiß noch, wie ich jeden Morgen in den Buchladen fuhr. Ich war so begeistert", sagt Christiane Wehrmann rückblickend, "so sicher, am Ziel aller Träume zu sein."

Heute weiß sie, dass sie erst am Anfang war. Denn in den mehr als 30 Jahren, die zwischen damals und heute liegen, ist sie Wege gegangen, von deren Existenz sie mit Mitte 20 nicht einmal etwas ahnte. Schritt für Schritt bildete sie sich weiter, studierte an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, dann an der Universität.

Seit 14 Jahren ist die diplomierte Soziologin jetzt die Gleichstellungsbeauftragte ihrer norddeutschen Heimatstadt Elmshorn. Und dort fachlich so anerkannt, dass auch Kollegen in der Verwaltung, die früher über "Frauenfragen" lächelten, sie oft und gern zu Rate ziehen. Auch in ihrem Privatleben hat sich über die Jahre viel getan: Die erste Ehe scheiterte; mit Ehemann Nummer zwei, ihrer großen Liebe Dieter, war sie lange glücklich, baute ein neues Haus - doch dann durchkreuzte der tragische Krebstod ihres Mannes alle Pläne.

Seitdem lebt Christiane Wehrmann allein. Doch was anfangs eine schmerzhafte Umstellung war, empfindet sie heute als eine Wohnform, die sie bewusst genießen kann. Nach wie vor gehören die langen Leseabende zu ihrem Leben - ein Luxus, sagt sie. Und zugleich liebt sie den regen Austausch, verbringt viel Zeit mit Freunden. Und mit Johanna und Jan, den Kindern ihres Bruders; mit ihrer jetzt 15-jährigen Nichte erkundete sie im letzten Sommer Berlin: "Es war wunderbar, wir haben so viel gesehen und erlebt. Johanna ist für mich eine Seelenverwandte; das war schon so, als sie noch ganz klein war."

Obwohl sie einschneidende Schicksalsschläge verkraften musste, hat sich Christiane Wehrmann ihre Begeisterung für das Leben bewahrt. "Die Konfrontation mit Krankheit und Tod hat mir bewusst gemacht, wie kostbar die schönen Momente sind. Und ich erlebe so viele!" Vor allem und immer wieder im Beruf, wenn sie für "ihre Herzensthemen" kämpfen kann: "Das ist jedes Mal ein tolles Gefühl, wenn eine Beratung wirklich hilft. Wenn ich einer Frau in einer Notlage zur Seite stehen kann, etwa weil der Mann sie bedroht. Oder wenn ich eine Klientin überzeugen kann, zur Krebsvorsorge zu gehen."

Neu anfangen: Es gibt viele Chancen

"Wir wissen nicht, was wir vermissen, bevor es uns nicht begegnet ist", lautet ein Sprichwort, das uns sagt: Es gibt in unserem Leben nicht nur einen Weg, sondern mehrere. Nicht nur eine Chance, sondern viele. Mit 20 zählen andere Prioritäten als mit 30, 40, 50. Das merkte auch Christiane Wehrmann. Nach zehn Jahren im Buchhandel spürte sie, dass weitere Seiten in ihr stecken, und fing an, sich neu zu orientieren.

"Ich glaube, mein Motor war seit jeher, dass ich die Welt verstehen will", sagt sie. "Und ich hatte Glück. Ich traf Menschen, die mich ermutigten. Ganz früher meine Eltern und ein Lehrer; dann mein Mann Dieter, der mich während der Studienjahre unterstützte. Und an der Uni fand ich auch wieder die richtigen Begleiter, zum Beispiel eine sehr engagierte Professorin." Andererseits gibt es Dinge, das weiß sie, die sie nie ausprobiert hat. "Ich bin nie in eine andere Region gezogen oder ins Ausland. Den Wunsch hatte ich nicht. Wer weiß, wie mein Leben dann verlaufen wäre." Sie lacht: "Na, kann ja noch kommen. . . "

Warum auch nicht? Viele von uns erleben eines Tages, wie das Leben unverhofft eine neue Richtung annimmt, eine bisher unbekannte Perspektive. Jahrelang lief alles in vertrauten Bahnen, Familie, Alltag, Job. Wir fühlen uns geborgen zu Hause und bei Freunden, ernten Erfolg im Beruf, spüren, wie wir gelassener werden. Und wenn wir abends schlafen gehen, wünschen wir uns, alles möge so bleiben.

Aber irgendwann merken wir, dass etwas Neues in der Luft liegt: Die Kinder werde flügge, die Eltern gebrechlich, manche Paare stellen fest, dass sie sich auseinandergelebt haben. Zuweilen genügt auch ein unspektakulärer Anstoß von außen: eine Sendung im Fernsehen, eine zufällige Begegnung auf einer Zugfahrt. Und plötzlich tauchen diese Fragen auf: Wo stehe ich? Was will ich noch ausprobieren und erleben? Und wann?

Neu anfangen: eine eigene Firma

Wie bei Daniela Gogel-Schasler. Die dunkelhaarige, temperamentvolle Berlinerin hat Germanistik und Kunst studiert, in Architektur- und Kunstbüros gearbeitet. Doch eigene Kinder zu haben war ihr innigster Wunsch. Mit Ende 20 heiratet sie und bekommt zwei Söhne. Ein paar Jahre später wird Töchterchen Antonia geboren. Danielas Glück scheint perfekt - und dauert noch ganze zehn Tage. Dann sagt ihr Mann, dass er sie verlassen wird. Kurz darauf zieht er aus.

Den Schock und die Verletzung zu verarbeiten hat Jahre gebraucht. Doch heute kann sie sogar Gutes darin sehen: "Im Grunde war es überfällig, dass meine Illusionen zerbrachen. Zu lange habe ich an eine Liebe geglaubt, die nur noch einseitig war, und die Defizite der Beziehung nicht wahrhaben wollen." Ihr Rettungsanker sind erst mal die Kinder: "Vor allem meine Tochter brauchte mich ja." Aber gleichzeitig denkt sie nach, womit sie ihren Lebensunterhalt finanzieren soll. Eines Tages fragen Bekannte bei der Hobbyköchin an, ob sie Lust hätte, für eine größere Feier zu kochen. Da ist sie, die Geschäftsidee: ein Privatkoch- und Catering-Service.

Doch wie kann das langfristig funktionieren? Daniela sammelt Informationen, erzählt überall, was sie vorhat, hilft in der Küche eines renommierten Restaurants, um weiteres Rüstzeug zu erhalten. Und der Service kommt ins Laufen, über Mund-zu-Mund- Propaganda wird sie zunehmend bekannt in ihrem Stadtteil Zehlendorf. Nach nur fünf Jahren ist die heute 47-Jährige so gut im Geschäft, dass sie kürzlich in ihrem Haus eine Profiküche einbauen ließ; nun kann sie für bis zu hundert Leute kochen. "Denn das hat jetzt Vorrang: meine Existenz sichern - mit dem, was mir Spaß bringt", sagt sie strahlend. Und: "Ich habe wirklich meinen Traumberuf gefunden. Beim Duft frischer Kräuter oder eines noch warmen Kuchens kann ich alles andere um mich herum vergessen. Das Kochen ist eine so kreative, sinnliche Tätigkeit."

Ist uns erst einmal bewusst geworden, dass wir in eine neue Lebensphase wechseln, erleben wir oft Erstaunliches. Zum Beispiel fallen uns Träume von früher wieder ein. Daniela Gogel-Schasler hatte schon als Teenager ihr Faible fürs Kochen und Backen entdeckt - aber erst 30 Jahre später wurde ihr Beruf daraus.

Zwei bis drei Leitmotive

Lebenslaufforscher gehen davon aus, dass jeder Mensch in der Regel zwei, drei Leitmotiven folgt, die er schon sehr früh entwickelt. Diese Leitmotive verdanken sich vielem: genetischen und familiären Einflüssen, persönlichen Erfahrungen. Wer als Kind Talent zum Malen zeigt und gefördert wird, macht daraus vielleicht Beruf und Berufung. Aber nicht jeder kann und will das; anderen ist die sichere Position in einem Unternehmen wichtiger, und sie betreiben die Malerei nebenher als Hobby - auch in Ordnung.

Wichtig ist nur, dass wir uns von Zeit zu Zeit fragen: Leben wir das Leben, das uns gefällt und zu uns passt? Dazu gehört durchaus, auch mal einen Umweg zu gehen - wenn wir unsere inneren Leitmotive kennen, macht das nichts. Für Christiane Wehrmann war es das Wichtigste, viel über Menschen und die Welt zu lernen. Für Daniela Gogel-Schasler der Wunsch, Mutter zu sein - bis sich herausstellte, dass das nicht reicht. Und für Gitta Melfsen war es das Bestreben, eine sinnvolle soziale Aufgabe zu haben.

Nach 25 Jahren im Beruf entschied die gelernte Erzieherin, ihr Know-how nicht länger in der Kindertagesstätte, sondern privat einzubringen. Sie und ihr Mann Bernd, ein Zahnarzt, nahmen zwei Heimkinder zur Pflege auf: erst die kleine Jenny; zwei Jahre darauf Jasmin. Beide Mädchen stammen aus schwachen sozialen Verhältnissen; sie sind verstört, verschüchtert, haben mit knapp vier Jahren den Wortschatz von Zweijährigen. Ihr Vertrauen zu gewinnen ist eine harte Herausforderung für Gitta Melfsen.

Neu anfangen: soziale Aufgabe

Doch die schlanke, sportliche Frau hält auch Krisen und Rückfälle durch. Heute kann sie stolz auf sich sein: Beide Mädchen, inzwischen 13 und 15, haben sich toll entwickelt, kommen in der Schule klar, sind bei anderen Kindern beliebt. "Ich habe mich damals ja schon länger gefragt, was ich noch will", erinnert sich ihre Pflegemutter. Die Luft im Job war raus, für eigene Kinder war es zu spät, da kam die Idee mit den Pflegekindern - "die beste Entscheidung meines Lebens". Ein paar Jahre zuvor hätte sie kaum an so etwas gedacht. Doch dann traf sie Bernd, mit dem sie - erstmalig - an Familiengründung dachte. Immerhin war sie schon 40; doch zuvor, sagt sie, war halt der passende Mann nie da gewesen.

Sind wir um die 40 oder 50 und fühlen uns wohl, können wir davon ausgehen, dass unser bisheriges Leben für uns stimmt. Dass es keine Verkettung von Zufällen war, sondern bewusst von uns gewählt, mit allen Entscheidungen, die wir treffen mussten, beruflich und privat. Gleichwohl kann es auch in einem erfüllten Leben unentdeckte Seiten, nie gelebte Wünsche geben. Vielleicht kommt uns erst morgen die Idee, die die künftigen Jahre prägen wird? Alle drei Frauen suchten neue Antworten und fanden sie. Und lernten dabei auch, dass Projekte und Ziele nicht ewig gelten, sondern für eine bestimmte Lebensphase, weil das Leben immer im Fluss bleibt.

Dem klassisch weiblichen Lebenslauf, wie es ihn früher gab - Schule, Heirat, Familienleben, Reife, Alter -, steht heute eine große Auswahl an Möglichkeiten gegenüber. 40-Jährige gönnen sich ein Sabbatjahr oder bekommen ihr erstes Kind. 50-Jährige wechseln den Beruf oder wagen den Schritt in die Selbständigkeit. 60-Jährige fangen ein Studium an oder gründen eine Wohngemeinschaft. 70-Jährige machen eine Weltreise oder verlieben sich neu.

Christiane Wehrmann ist heute in einem Beruf glücklich, den es vor 35 Jahren überhaupt nicht gab. Und sieht dabei allmählich dem Zeitpunkt entgegen, an dem sie das Berufsleben verlassen wird. Ungewohnt für eine aktive Frau wie sie, aber sie freut sich drauf: "Dann möchte ich noch viel reisen. Allein, mit einer Freundin, mit Nichte und Neffe - oder, falls es sich ergeben sollte, vielleicht noch mal mit einem Lebensgefährten an meiner Seite."

Wo will ich hin?

"Wenn du etwas haben willst, was du noch nie gehabt hast, musst du etwas tun, was du noch nie getan hast", sagt der Psychotherapeut Nossrat Peseschkian. Nur: Was ist es, das ich haben will? Was fehlt mir noch: ein Hobby, eine Aufgabe, noch einmal eine Liebe? Und: Wie kann ich das herausfinden? Eine Möglichkeit besteht darin, sich ein wenig in die Zukunft zu träumen. Also: Wie, wo, mit wem lebe ich in fünf Jahren? Soll alles so bleiben, eingespielt, vertraut - soll es neu und aufregend sein? Was möchte ich unbedingt noch erleben?

Wenn wir uns ab und zu Zeit nehmen für solche Fragen, machen wir uns nicht nur unsere Stärken und Vorlieben, sondern auch unsere inneren Leitmotive wieder ein Stück bewusster. Das hilft, auf dem Basar erträumter Möglichkeiten jene auszuwählen, die wirklich zu uns passen. Das kann noch einmal etwas richtig Großes sein wie ein Berufswechsel; es kann aber auch etwas eher Unspektakuläres sein wie der Wunsch, einmal im Jahr mit unserem Paten- oder Enkelkind zu verreisen.

Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, sagt Nossrat Peseschkian - aber dem Tag mehr Leben.

Bücher zum Weiterlesen

  • Hildegard Ressel: "Was ich wirklich will. Wie man den eigenen Wünschen und Fähigkeiten nicht länger im Weg steht" (192 S., 7,90 Euro, Fischer)
  • Gerti Samel: "Verwirkliche deinen Traum. Lebensvisionen erkennen und umsetzen" (251 S., 9,90 Euro, Rowohlt)
  • Lukas Niederberger: "Am liebsten beides. Entscheidungen sinnvoll treffen" 304 S., 15,90 Euro, Scherz)
  • Nossrat Peseschkian: "Psychotherapie des Alltagslebens. Konfliktlösung und Selbsthilfe" (253 S., 8,95 Euro, Fischer)
  • Nossrat Peseschkian: "Das Leben ist ein Paradies, zu dem wir den Schlüssel finden können" (191 S., 6 Euro, Herder)
Text: Frauke Döhring Fotos: Andreas Bock, Fotolia

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel