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Einfach mal Nein sagen

Alles machen, alles haben, alles können, alles wissen - lange war das der Anspruch, den wir an uns und an das Leben hatten. Inzwischen sind wir klüger. Und können Nein sagen.

Ich sage Nein zum Nachschlag, zu einem letzten Glas Rotwein, Nein zu noch einem schwarzen Pullover, einem weißen Hemd, Nein zum Kaffeetrinken im Stehen, Nein zu Einladungen und Anfragen - sogar Bitten schlage ich manchmal aus. Nein, ich komme nicht mehr mit. Nein, das kann ich nicht machen. Nein, geht nicht, nein, will nicht!

Nein sagen: Bin ich vernünftig geworden? Keinesfalls. Nur älter.

Das Leben ist zu kurz, um Bücher zu lesen, die man gelesen haben 'muss'.

Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken - ein Grundsatz, der sich beliebig variieren lässt: Das Leben ist zu kurz, um schlechten Sex zu haben oder um den Teller leer zu essen, auch wenn man längst satt ist. Um Kleider zu tragen, die nach zwei Wochen auseinanderfallen, oder Schuhe, die schon beim Anziehen weh tun. Das Leben ist zu kurz, um in einer Beziehung auszuharren, in der man sich einsamer fühlt, als wenn man allein wäre. Um aneinander vorbeizureden, um Bücher zu lesen, die man gelesen haben "muss", um das Telefon abzunehmen, nur weil es klingelt, um mit einem Mann ins Bett zu gehen, nur weil er das vielleicht erwartet. Eine Alterserscheinung, mit der niemand gerechnet hat: Quickie geht nicht mehr. Die Devise "lieber schnell zwischendurch als gar nicht" ist ein Privileg der Jugend. Ebenso wie "lieber ganz viele billige Fähnchen als zwei gute Stücke" kaufen. Die Party als Letzte verlassen, sitzen bleiben, bis das letzte Wort gesagt, der letzte Gast gegangen ist. Im Kino sogar noch den Abspann abwarten, auch wenn man sich nach zehn Minuten schon zu langweilen begonnen hat. Lächeln, bis einem der Kiefer einfriert, Smalltalk: Alles Dinge, die man nur tut, solange man sich noch der Illuusion hingeben kann, man habe Zeit. Unendlich Zeit. Zeit, sich ablenken zu lassen, Zeit für einen Umweg. Zeit, sich zu verirren, zu langweilen, zu ärgern: Egal. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Morgen ist immer noch Zeit, sich den Film anzuschauen, den man eigentlich sehen wollte, den Beruf zu lernen, den man wirklich ausüben will, und wer weiß, jemanden kennen zu lernen, der wirklich zu einem passt.

Wenn nicht morgen, dann übermorgen. Kommst du noch...? Sollen wir nicht...? Wer noch Zeit hat, sagt Ja.

"Zeit? Das hat doch nichts mit Zeit zu tun", sagt eine junge Frau. "Ich habe keine Zeit. Ich habe Angst!" Sie sitzt vor einem dieser amerikanischen Kaffeegetränke, die eher an einen Eisbecher erinnern. Sie ist 22 Jahre alt, bildschön, intelligent, finanziell abgesichert. Interessantes Studium, schöne Wohnung, von den Eltern bezahlt, lange Beine in kunstvoll durchlöcherten Jeans. Wovor hat so jemand Angst? Glänzende Strähnen fallen ihr ins Gesicht, während sie emotionslos an den Fingern aufzählt: "Angst, etwas zu verpassen. Angst, nichts zu werden, niemand zu sein. Angst, dass das Leben an mir vorbeigeht. Angst, nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, Angst vor dem Sterben. Angst davor, alt zu werden, nicht gelebt zu haben." Sie zeigt mir ihr Handy, die Textnachrichten von Freundinnen und Freunden, die alle darum kreisen, was man jetzt noch tun, wo man noch hingehen könnte, man bleibt nicht lange an einem Ort, man verpflichtet sich nicht, hält sich erst mal alle Optionen offen, man jagt der Vorstellung nach, irgendwo ganz in der Nähe könnte ES stattfinden. Das Leben.

"Life is what happens to you while you are busy making other plans..."

...heißt es in dem Lennon-Song "Beautiful Boy". Aber kann man einer 22-Jährigen mit John Lennon kommen?

Ein paar Tage später denke ich an die junge Frau. Ich sitze auf einem unbequemen Designerstuhl, versuche, unauffällig mit der Gabel ein paar Sesamsamen aufzuspießen, weil das rohe Stück Thunfisch, das sie umhüllten, viel zu klein gewesen war, weil mein Magen immer noch knurrt. Am langen Tisch sitzen lauter interessante, wichtige Menschen mit angespannten Gesichtern. Solche Tischrunden werden mit Hintergedanken zusammengeführt: Der könnte sich doch in die verlieben, diese könnte jener beruflich weiterhelfen, und der da könnte allen anderen mal vorführen, wie wichtig ich wirklich bin. Das Essen ist meist aufwändig zubereitet, dafür zu wenig, die Gespräche gleichen tastenden Tanzschritten, einen vor und zwei zurück, wer bist du, was machst du, was kannst du für mich tun?

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Mich interessiert vieles. Eigentlich fast alles. Nur nicht die Frage, wie "wichtig" jemand ist. Ich kippe auf dem Stuhl zurück, um den Herren links und rechts von mir (einem Regisseur und einem Schauspieler) Platz zum Reden zu geben. Ich langweile mich. Ich habe Hunger. Und dann, vielleicht, weil ich den Stuhl schon vom Tisch weggeschoben habe oder weil mir plötzlich die verunsicherte junge Frau aus dem Kaffeehaus einfällt, stehe ich auf und gehe zur Tür.

"Aber... wolltest du nicht mit dem Regisseur... der doch vielleicht dein Buch verfilmen...", stammelt die Gastgeberin. Ich winke ab.

Früher wäre ich sitzen geblieben. Hätte gewartet, bis sich der Regisseur endlich mir zuwendet. Hätte vielleicht sogar selbst von meinem Buch angefangen, im falschen Moment. Vielleicht wäre etwas daraus geworden, vielleicht aber auch nicht. Heute gehe ich lieber nach Hause. Das Leben ist zu kurz, selbst um guten Wein zu trinken, wenn man sich dabei von Herzen langweilt.

"Der letzte Zug...", sage ich entschuldigend, meine präferierte Entschuldigung, seit ich auf dem Land lebe.

Ich löse einen Zuschlag für die erste Klasse. Ich kaufe mir eine Bratwurst und ein Klatschmagazin der untersten Schublade. Sitze allein im Abteil, tunke die Wurst in den scharfen Senf, kichere über unvorteilhafte Bikinibilder. Ein perfekter Moment von absoluter Sinnlosigkeit.

Als eine Gruppe Mitreisender das Abteil betritt, widerstehe ich der Versuchung, die niveaulose Zeitschrift in der Handtasche verschwinden zu lassen und stattdessen die Literaturbeilage der "New York Times" hervorziehen, die seit Wochen dort ungelesen zerknittert.

Ich muss nicht mehr alles wissen. Ich muss nicht mehr überall mitreden können.

"Ich weiß nicht", sage ich stattdessen oft. "Keine Ahnung, damit hab ich mich noch nicht befasst. Ich habe da einfach keine Meinung." Manchmal bekomme ich dann eine Erklärung, von der ich etwas lerne. Sehr oft gibt das Gegenüber aber erleichtert zu, dass es ihm genauso geht. Dass er/sie nur wiederholt, was er/sie in der "Tagesschau" gehört hat. "Tagesschau"? Auch die muss man nicht, nur weil es der Name suggeriert, jeden Tag schauen. Meine Freundin Pia geht sogar noch einen Schritt weiter: "Ich muss nicht mehr alles sagen, was ich denke", meint sie, die regelmäßig vier Studenten an ihrem Küchentisch sitzen hat, ihren Diskussionen zuhört und natürlich merkt, dass vieles vor 30, 40 Jahren schon diskutiert wurde, in einer anderen Küche, an einem anderen Tisch. Statt nun belehrend einzugreifen, hört sie zu und freut sich. Die alten Argumente neu formuliert, die alten Fragen neu beantwortet zu hören. "Ich muss mich nicht mehr profilieren."

Dass mir ausgerechnet in diesem Moment im Zug, mit diesem billigen Druckerzeugnis in der Hand, der überstrapazierte Begriff "quality time" einfällt, ist nur scheinbar ein Widerspruch.

Qualität ist durchaus teuer erkauft, aber nicht immer mit Geld.

Wenn das Bedürfnis nach Qualität, nach Echtheit, nach Beständigkeit größer wird als der Wunsch, es allen recht zu machen, dann trifft man auch mal Entscheidungen, die unbequem sind, dann eckt man schon mal an. Steigt das Bedürfnis nach Qualität mit dem Alter? Nach Qualität in allen Dingen, in Kleidernähten, Gesprächen und Getränken?

Freiwilliger Verzicht ist in sich eine Form von Luxus.

"Durchaus", sagt meine Nachbarin Erika, die einen unverhofften kleinen Geldsegen in - einen Haufen Kies investiert hat. Nicht irgendeinen Kies - kleine, runde, regelmäßig geschliffene Steine, die sich unter nackten Füßen herrlich anfühlen. Damit hat sie von ihrer ebenerdigen Wohnung bis zum Briefkasten einen schmalen Weg angelegt, auf dem sie jeden Morgen früh die Zeitung holen geht, barfuß. "Früher hätte ich mir etwas Pompöseres geleistet", sagt sie. "Ein teures Kleid, einen Städteurlaub, etwas, was andere wahrnehmen und als Luxus erkennen. Heute...", sie überlegt kurz, "investiere ich in meine Fußsohlen. Den Teil von mir, den niemand sieht."

Eine andere hat den Garten ganz aufgegeben. Ist in eine kleine Wohnung gezogen. "Vermisst du ihn nicht?", wird sie oft gefragt. Nein. Sie spaziert fast jeden Tag daran vorbei, freut sich an der Blütenpracht fremder Gärten, winkt ihrer Nachmieterin fröhlich zu, die mit Gummistiefeln verschwitzt in den Beeten kniet, und denkt: Lieber du als ich. Sie geht stattdessen ins Kino. Mitten am sonnigen Nachmittag. Für so was hat sie jetzt Zeit.

Nicht mehr alles haben zu müssen ist natürlich nicht dasselbe, wie nicht alles haben zu können oder zu dürfen. Freiwilliger Verzicht ist in sich eine Form von Luxus. Ist ein Gefallen, den man sich tut, wenn man die Bürde erkannt hat, die Besitz oft bedeutet. Als ich vor bald 20 Jahren meine Hälfte des geliebten Südfrankreichhauses, in dem ich die schönsten Momente meiner Kindheit erlebt hatte, meinem Bruder überließ, verstand das niemand. "Wie kannst du nur!", "Du hättest doch kämpfen müssen!" Vielleicht. Der Verlust tat weh, doch ich merkte bald, dass die Erinnerungen blieben. Ich lernte, an anderen Orten Ferien zu machen, ich zog endlich ganz weg. Mein Bruder schimpft unterdessen über die Vorschriften der französischen Bürokratie.

Wir entwickeln einen Hang zum Unsichtbaren. Eine schöne Vorstellung. Zur Stille auch. Eine Art Wertewandel findet statt: Wir schätzen Dinge, die wir früher bürgerlich oder langweilig gefunden hätten. Gutes Handwerk, saubere Verarbeitung. Sicherheit. Verlässlichkeit. Dass jemand einfach mal nett ist, und sei es die Frau am Bankschalter, an der Supermarktkasse. Authentizität, Echtheit, im Denken, im Reden. Und das führt keineswegs dazu, dass man stecken bleibt, verharrt, sich nichts mehr traut, Wichtiges sein lässt. Ganz im Gegenteil. Auf "quality time" besteht, wer nicht mehr endlos "quantity time" zur Verfügung hat.

Mit derselben Radikalität, mit der man Nein sagt, kann man auch Ja sagen.

Dieses Bewusstsein führt durchaus zu einer gewissen Radikalität. Im Kleinen wie im Großen.

Die Großmutter einer Bekannten hat ihren Mann nach 60 Jahren Ehe verlassen. Sie weigerte sich schlicht, ins selbe Altersheim zu ziehen wie er. Warum? Es war eine gute Ehe gewesen oder wenigstens keine schlechte. Doch am Ende ihres Lebens wollte sie keine Kompromisse mehr eingehen. Sie wollte die Schlager hören, die sie so liebte und die er immer mit sarkastischen Kommentaren unterbrach. Sie wollte das Mittagessen ausfallen lassen und stattdessen Kuchen essen. Sie wollte sie selbst sein. Dafür nahm sie die schockierten Reaktionen von Nachbarn und Familienmitgliedern in Kauf. Ihr Mann hingegen verstand. Er war in seinem Heim bald Hahn im Korb, sie schmolz beim Klang von Michael Holms Stimme dahin. Jeden Tag telefonierten sie, sie waren sich nicht gram. Tränen lügen nicht.

Mit derselben Radikalität, mit der man Nein sagt, kann man natürlich auch Ja sagen. Wochen nach der angestrengten Dinnerparty sitze ich auf einer Dachterrasse und esse selbst geräucherte Wurst - es ist genug davon da. Ich lerne neue Leute kennen, mit denen ich nach fünf Minuten wie mit alten Freunden rede. Ich vergesse die Zeit. Bis plötzlich jemand ruft: "Musst du nicht den letzten Zug erwischen?"

Nein. Mein letzter Zug fährt jeden Tag zu einer anderen Zeit.

Buchtipp

"Möchtegern" heißt das neue Buch von der Schweizerin Milena Moser. Hauptfigur ist eine bekannte Schriftstellerin, Mimosa Mein, die sich lange dem Medienbetrieb entzogen hat. Als sie zusagt, in der Jury der TV-Sendung "Die Schweiz sucht den SchreibStar" mitzuwirken, riskiert sie einiges, um den "Wannabes", den "Möchtegerns", zum Erfolg zu verhelfen. (464 S., 19,90 Eeuro, Nagel & Kimche)

Text: Milena Moser Fotos: Corbis (Teaser), Fotolia (Content)

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