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Genuss statt Frust

Die zehn Gebote sind nichts gegen die Regeln, denen wir uns heute freiwillig unterwerfen. Sie machen unser Leben langweilig und ohne Lebensfreude. Damit ist nun Schluss.

Es war eine harmlose Flasche Mineralwasser, die das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte. "Mineralwasser?", kommentierte meine Freundin etwas spitz. "Macht das dein Magen denn mit?" Und auf meinen verständnislosen Blick hin: "Kohlensäure gleich Säure im Magen gleich Magensäure. Na, alles klar?" In diesem bemüht geduldigen Ton, den ich noch nie leiden konnte. Mineralwasser, dachte ich. Was kommt als Nächstes? Dabei sind unsere regelmäßigen kleinen Mittagessen ohnehin kaum je in Richtung genüssliches Gelage gerutscht. Der traditionelle "Three-Martini-Lunch" findet sowieso nur noch in Wiederholungen von Dallas statt, und auch wir "ladies who lunch" verzichten meist auf ein Glas Weißwein zum Krabbensalat. Wir schieben den Brotkorb zur Seite, als sei sein Inhalt anstößig, und die Nachtisch-Karte würdigen wir keines Blickes. Kaffee wird selbstverständlich nur ohne Koffein geschlürft und dabei diskutiert, ob Milch im Gebräu dieses schädlicher oder weniger schädlich mache.

Sagte ich Milch? Entschuldigung. Ich meinte natürlich Sojamilch. Ich habe längst den Überblick verloren, denn sowohl die schlanke Linie wie auch die Gesundheit stellen so widersprüchliche und schnell wechselnde Forderungen wie zwei alternde Diven, die sich einen Scherz daraus machen, ihre Assistenten zum Wahnsinn zu treiben: Rohen Fisch! Nein, nur Gemüse! Nein, doch lieber ein Steak! Aber gut durch!

Wer soll da noch mitkommen?

Heute dreht sich alles um Schlacken statt um Lebensfreude

Immerhin ist klar, dass die Vorstellung, sich nach dem Essen eine Zigarette anzuzünden, noch abwegiger ist als die, eine Pistole aus der Handtasche zu ziehen und auf die Kellner zu schießen. Stattdessen nesteln wir schon vor dem Essen formschöne Döschen hervor, in denen wir stilvoll unsere Vitamine und anderen Mittelchen verbergen. Schlucken zeremoniell dies und das, und garantiert sagt dann eine: "Kalzium und Kaffee, das geht aber gar nicht." "Vitamin E sollte man ja nicht mit ... " "Von raffiniertem Zucker bekomme ich ... " "Ich esse seit einer Woche gar keinen Weizen mehr und meine Verdauung ... "

Wann sind wir so unerträglich langweilig, so vorsichtig, umsichtig, so - bringe ich es über die Lippen - VERNÜNFTIG geworden? Seit wann sind unsere Körperfunktionen so ein Thema? Wann haben wir aufgehört, über Dinge wie gestohlene Küsse und durchgemachte Nächte zu diskutieren, wilde Pläne zu schmieden, wie wir zum Beispiel die Straßen unserer Heimatstadt mit Kunst überfluten wollten. Heute hingegen dreht sich alles um Schlacken. Ja, Schlacken. Diese übel riechenden schwarzen Ablagerungen unserer Sünden. Von denen wir, auch wenn wir "sonst" nicht katholisch sind, Absolution erhoffen. Indem wir nur noch reine Gedanken zulassen. Ich meine natürlich: reine Nahrung. Schlackenfreie Kost. Garantiert ablagerungsfrei.

Als ob es so was gäbe. Mal ehrlich. Überhaupt nimmt der Zeitgeist langsam, aber sicher religiöse Formen an: Der Zwang, an sich zu arbeiten, sich ständig zu verbessern, hat schon etwas missionarisch Beseeltes. Die zehn Gebote sind nichts gegen die Regeln, denen wir uns heute - freiwillig? - unterwerfen. Du sollst nicht genießen, damit fängt es meist an. Du sollst dich nicht gehen lassen. Du sollst nicht alt werden. Oder wenn, dann lass es dir gefälligst nicht ansehen. Du sollst nicht aus dem Leim gehen. Du sollst nicht nachlassen. Du sollst dich selbst übertreffen, immer wieder. Du sollst deinen Körper bezwingen. Du sollst stärker sein. Als das Leben. Als der Tod.

Wer meint, wir leben in einer Anything-goes-Gesellschaft, hat sich länger nicht umgeschaut - zum Beispiel in einer Buchhandlung. Die Selbsthilfe-Abteilungen nehmen immer größere Flächen ein. Hier knien wir nieder und geloben Besserung. Ja, ich gelobe es. Ich werde die "sieben Wege zur Effektivität" gehen und die "fünf Sprachen der Liebe" lernen. Ich werde "nachdenken und reich werden", außerdem "schön wie ein Topmodell". Nicht zu vergessen "beliebt und einflussreich". Ich werde "sorgenfrei in Minuten", und warum nicht gleich mich "neu erschaffen"? Wenn wir schon dabei sind.

Ferien? Nein! Jede freie Minute sollte genutzt werden, um an sich zu arbeiten

Ach, ist das alles anstrengend! Immer muss alles sinnvoll sein! In jeder freien Minute soll ich an mir arbeiten. Selbst am Wochenende und in den Ferien - ich meine natürlich: im Seminar, im Workshop und im Retreat. Wir bezwingen hohe Berge und verarbeiten frühkindliche Traumata - vorzugsweise gleichzeitig. Schnell, wer kann am längsten still sitzen? Lerne, mit Stöcken zu gehen, wer weiß, wozu es gut ist. Nutze deine Zeit, sie dauert nicht ewig!

Dabei träume ich von einem politisch vollkommen verwerflichen Urlaub mit hohen Palmen und weißem Strand, blauem Himmel. Erinnert sich noch jemand daran? In der Sonne rösten (Falten! Hautkrebs!), Eis essen (Kalorien! Salmonellen! Laktose-Unverträglichkeit!) und mindestens tausend Seiten Kleenex-Literaur (geistige Verarmung!) lesen. Allerdings stehe ich mit dieser speziellen Art der Nostalgie einigermaßen allein da. Oder wenigstens fühlt es sich so an: Rundherum wird mit unermüdlicher Begeisterung das Selbst entwickelt und ständig verbessert, mit missionarischem Eifer den zickigen Diven Schlankheit und Gesundheit gehuldigt. Während ich mir im Studiokino alte französische Filme reinziehe, über schlechte Dauerwellen und Plateauschuhe ebenso gerührt seufze wie über das unbeschwerte Kippen und Küssen, das ganz ohne Suchtprävention und Krisenintervention stattfinden durfte.

Warum fällt es mir nur so schwer, mit der Zeit zu gehen? Warum hänge ich so an meinen alten, erwiesenermaßen schlechten Gewohnheiten? Würde Sherlock Holmes sich heute noch unverfroren Kokain spritzen? Wohl kaum.

Wie meine Oma, die sich partout nicht ans Tastentelefon gewöhnen wollte, hat auch mich der Zeitgeist abgehängt. Und manchmal fühle ich mich uralt. Wenn ich in einer Bar Wein trinken statt Sauerstoff aus Schläuchen saugen will. Wenn ich bei Hanf nicht als Erstes an ökofreundliche Mode denke. Wenn alles, was mir schmeckt, auf der Liste auszurottender Sünden steht. Wenn ich auf der faulen Haut liege. Wenn ich weder meine Freundinnen noch mich selbst so wahnsinnig verbesserungsbedürftig finde. Wenn mir immer öfter der Stoßeufzer entfährt: "Ach ja! Früher, als ich noch jung war. . . Was haben wir da . . . Kinder, Kinder! Das waren noch Zeiten!"

Sehnsucht nach den wilden Exzessen und Unbeschwertheit der Jugend

Wie meine Oma, ich sag es ja. Was war denn eigentlich früher so viel besser? Was vermisse ich genau? Sehne ich mich nach den Exzessen meiner wilden Jugend zurück? Kaum, denn, mal ganz unter uns gesagt, so wild war die nun auch wieder nicht. Nein. Ich vermisse die Unbekümmertheit, mit der man sich eine Zigarette ansteckte, ohne an die Folgen (Lungenkrebs! Falten!) zu denken. Mit der man zu Männern ins Bett kletterte (Aids! etc.!), einfach, weil sie da waren. Ich sehne mich danach, ohne schlechtes Gewissen zu baden (Wasservorräte! Klimaerwärmung!) und mich mit einer luxuriösen Creme (Tierversuche!) einzuschmieren. Kurz, ich vermisse die Unbeschwertheit nicht nur meiner Jugend, sondern überhaupt dieser glücklichen Zeit. Als wir ganz einfach noch nicht wussten, was wir heute wissen. Nicht wussten, was wir taten. Diese verlorene Unschuld. Diese Zeiten, die unwiderruflich vorbei sind. Wissen kann man nicht löschen, Augen nicht verschließen, Unbekümmertheit nicht imitieren.

Schon klar. Aber das mit dem Mineralwasser, das ging dann doch zu weit.

"Wie du meinst", sagte ich zu meiner Freundin. Ich ließ das Wasser zurückgehen und bestellte mir stattdessen einen Irish Coffee (Koffein! Alkohol! Zucker! Tierische Fette!) zu meinen gegrillten Krebsschwänzen (Stilbruch! Stilbruch!). Meiner Freundin verschlug es die Sprache. Das ganze Lokal schaute zu mir rüber, oder wenigstens bildete ich mir das ein. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wieder wie mit fünfzehn, als ich im Pyjama zur Schule ging und das als politisches Statement verstand. Unvernünftig. Über mich selbst erschrocken. Und geradezu flirrend lebendig. Einen Augenblick lang war es still. Dann zeigte von einem Nebentisch eine Frau auf mich und sagte: "Ich nehme dasselbe wie sie!"

Mehr über BRIGITE WOMAN-Autorin Milena Moser und ihr soeben erschienenes Buch "Stutenbiss" (17,95 Euro, Blessing) unter www.milenamoser.com

Text: Milena Moser Foto: Getty Images

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