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Hauptsache Harmonie?

Harmoniesucht: Paar umarmt sich innig
© Matthew Nigel / Shutterstock
Immer lächeln, immer nicken: Unsere Autorin Milena Moser ist chronische Konfliktvermeiderin und Opfer ihrer Harmoniesucht. Aber sie arbeitet an sich.

Man erkennt sie von Weitem. Ihr Kopf ist leicht geneigt, er nickt sanft wie der eines Plastikhündchens auf der Heckablage eines alten Opel. Ihr Lächeln ist nicht zu breit und wirkt doch seltsam festgeklebt. Wenn man näher kommt, hört man die bestätigenden Laute aus ihrem Mund. "M-hm. Genau. Find ich auch. Ganz richtig." Dabei streicht sie ihrem Gegenüber zur Bestätigung sanft über die Schulter. Wenn es diese Fernsehsendung noch gäbe, in der man mittels Gesten seine berufliche Tätigkeit andeutet, dann würde sie da sitzen und lächeln und nicken, und das Rateteam würde durcheinanderrufen:

"Sie sind . . . eine Jasagerin?" "Eine Harmoniesüchtige!" "Ja, harmoniesüchtig, harmoniesüchtig!" "Nein, ich weiß, Sie sind eine chronische Konfliktvermeiderin!" Eine Frau wie viele andere also. Nicht nett, was ich da schreibe. Darf ich das schreiben, oder ärgern Sie sich jetzt über mich? Soll ich was anderes schreiben? Mögen Sie mich dann wieder? Sagen Sie's nur. M-hm. Genau. Find ich auch.

Harmoniesucht ist eine Frauenkrankheit

Es ist leider was dran an der These, dass es meist Frauen sind, die noch zwei Stunden lang mit dem Köpfchen nicken, wenn man sie einmal angestupst hat. Warum ist das so? "The disease to please", nennt es die amerikanische Talkshow-Königin Oprah Winfrey. Die Um-jeden-Preis-gefallen-wollen-Krankheit. Ein mehrheitlich weibliches Phänomen. Die genaue Zahl der Betroffenen ist nicht bekannt. Aber man kann mit gutem Gewissen behaupten, sie sei weit verbreitet. Das ist die schlechte Nachricht. Die Gute: Sie ist heilbar.

"Mama, warum sagen Mädchen nie, was sie wirklich wollen?" Mein Sohn war ungefähr neun Jahre alt, als er mir diese Schicksalsfrage stellte. Nach einem offenbar für ihn nervenaufreibenden Nachmittag mit einer kleinen Freundin. "Was sollen wir spielen?" "Weiß nicht. Sag du!" "Was magst du denn gern?" "Weiß nicht. Sag du." "Fußball?" "Ja, klar, super."

Und nun stand der Junge vor mir, mit verschränkten Armen. Unbestimmt frustriert. Leider konnte ich meinem Sohn auch keine wirklich schlüssige Antwort geben. Denn zu meiner Schande musste ich mir - und ihm - eingestehen: Ich bin ja selbst so eine. Jasagerin, Bestätigerin, Mitläuferin. Ich habe noch jeden Mann zur Verzweiflung getrieben, der mit mir essen gehen wollte.

"Wo sollen wir denn hingehen?" "Weiß nicht, sag du." "Was magst du denn gern?" "Weiß nicht, sag du." "Indisch?" "Ja, klar, super."

Dieses konfliktscheue - und durchaus ziemlich bequeme - Wischiwaschi-Verhalten legen Frauen keineswegs nur an den Tag, wenn sie gerade mit Männern reden. Nein, Frauen untereinander agieren oft genauso. Typisches Beispiel: Irene und Sabina sind ein Team. Doch jede meint, sie trage die ganze Last des gemeinsamen Projekts auf ihren Schultern, während die andere nur die Lorbeeren einheimse. Ein ganz typischer Arbeitskonfl ikt also. Wenn da nicht noch Regine wäre, die in der Kaffeeküche erst Irene, dann Sabina anhört und jeder Klage mit geneigtem Kopf und beruhigenden Lauten zustimmt. Vielleicht hilft sie so sogar, die Situation zu entspannen, bis diese eines Tages während eines Meetings eben doch eskaliert. Irene springt auf und zeigt auf Regine: "Sag doch was! Du sagst doch auch immer, dass Sabina ihren Teil nicht beiträgt!" "Was?", ruft Sabina. "Du? Du findest doch auch, dass Irene nur im Delegieren gut ist!" Interessanterweise haben sich Irene und Sabina aber schließlich doch noch zusammengerauft und ihr Projekt zu einem guten Abschluss gebracht. Keine der beiden Kolleginnen würde sich weiterhin Regine anvertrauen. Und Regine? Die macht eher einen weiten Bogen um die Kaffeeküche, seit sie einen Satz hörte, der sie mitten ins Herz traf: "Bei der weiß man nie, woran man ist." Immerhin ist Regine nicht im Krankenhaus gelandet wie Marianne, die es als Ärztin eigentlich besser wissen müsste. Aber wenn ihr Mann sich zum Fünfzigsten so sehnlichst einen Tauchgang wünscht, kann sie den doch nicht absagen? Nur wegen eines seltsamen Ziehens im linken Arm? (Ziehen im linken Arm! Sogar ich weiß, was jetzt kommt!) Ein Herzinfarkt ist nie ein Spaß, und 20 Meter unter der Wasseroberfläche schon gar nicht. Vor allem, wenn man den Arm nicht mehr heben kann, um im Notfall die verabredeten SOS-Zeichen zu geben. Sagen wir es so: Mariannes oberstes Ziel, ihrem geliebten Gatten den Geburtstag nicht zu verderben, wurde definitiv nicht erreicht.

Checkliste für Harmoniesüchtige

So lautet einer der Sätze auf der Checkliste, die Martha Beck, amerikanische Bestseller-Autorin und Oprahs Hoftherapeutin, für deren Show ausgearbeitet hat, um die Harmoniesüchtigen, die am Disease- to-please-Erkrankten zu erkennen. Denn klar, obwohl wir aus unserem Konfliktvermeidungsverhalten einen vorübergehenden Gewinn ziehen - wir werden gebraucht, wir werden gemocht -, hoffen wir doch im tiefsten Innersten, es würde jemand erkennen, wie es wirklich in uns aussieht. Würde die Gedanken hinter den Worten erkennen - im Fall von Regine zum Beispiel: "Verlangt doch nicht von mir, dass ich da Stellung beziehe, ich muss schließlich mit euch beiden zusammenarbeiten." Das laut auszusprechen, traut sie sich nicht. Was, wenn sie die anderen damit vor den Kopf stoßen würde? Deshalb stimmt sie so lange allen zu, bis sie am Ende von niemandem mehr gemocht wird. Tja, Regine, niemand kann wissen, was wir denken oder wie wir uns fühlen, wenn wir es nicht aussprechen.

"Es ist doch alles schon kompliziert genug", sagt meine Freundin Connie, auch sie eine Rekonvaleszentin des Disease-to-please. "Beziehungen, Gefühle, all das. Wenn wir nicht mal sagen, was wir wirklich denken, haben wir doch keine Chance!"

Hier ein paar weitere Sätze auf der Liste von Martha Beck, die sie respektlos - und offenbar ohne Angst, dafür nicht gemocht zu werden - unter dem Thema "Sind Sie ein Fußabtreter?" abhandelt:

Sie empfinden Panik bei dem Gedanken, jemand könnte Sie ablehnen. Sie fühlen sich tugendhaft, wenn Sie die Bedürfnisse anderer über Ihre eigenen stellen. Wenn diese anderen abwesend sind, beklagen Sie sich aber über deren Ansprüche.

Jane Fonda bekennt sich in allen Punkten schuldig. Die Schauspielerin, die mit ihren Protesten gegen den Vietnamkrieg immerhin ihr halbes Heimatland gegen sich aufgebracht hat, eine Fußmatte? "Ich habe immer getan, was die Männer in meinem Leben glücklich machte. Mein Vater wollte mich dünn, mein erster Ehemann sexy, mein zweiter politisch aktiv. . . ", so die mittlerweile 70-Jährige. Ihr letzter, der Medien-Magnat Ted Turner, hat sie unter anderem deshalb verlassen, weil sie die Frechheit hatte, sich mit 60 noch weiter zu entwickeln. "In unserem Alter ändert man sich nicht mehr!", soll der erboste Mann gegrollt haben.

Und was hat sich verändert? "Früher habe ich einen Raum betreten und mich gefragt: Bin ich schön genug, interessant genug, wichtig genug für diese Leute? Werden sie mich mögen? Heute frage ich mich: Will ich in diesem Raum sein, mit diesen Leuten?", so der Hollywood-Star.

Und das ist die gute Nachricht: Harmoniesucht ist heilbar. Man könnte auch sagen, sie wächst sich aus. Vergleichbar mit einer Kinderkrankheit, die es ja genau genommen ist.

Wie bereits gestanden, ich gehöre selbst zu denen. Den Wischiwaschi-Waschlappenpuppen. Doch mit der Zeit scheinen mir immer mehr Knochen zu wachsen. Bald hab ich schon so was wie Rückgrat. Es gehört zu den unzähligen und meist unerwarteten Vorzügen des Älterwerdens, dass man weiß, was man will. Und was man nicht will. Obwohl, wenn ich ehrlich bin: Gewusst hab ich's immer schon. Nur nicht dringend genug gewollt. Was ist schon ein vertaner Abend, was ist schon ein Essen, das man nicht mag, ein Film, den man nicht versteht, eine Meinung, die einem fremd ist? Morgen ist ja auch noch ein Tag. Ich hab ja Zeit.

So muss ich mir das gedacht haben. Ich hab ja noch endlos Zeit, um die Filme zu sehen, die mir wirklich gefallen, das Essen zu essen, das mir schmeckt, die wirklich richtigen Freundinnen zu finden, die Meinung zu vertreten, die ich nun mal habe.

Irgendwann habe auch ich (schweren Herzens, geb ich ja zu) akzeptiert, dass mich nicht jeder und jede mögen kann. Immerhin gilt das umgekehrt genauso. Ich verstehe tatsächlich nicht alles, was mir andere erzählen. Und dann frage ich nach. Dazu halte ich den Kopf meist gerade, denn Zuhören kann ich auch so. Ewiges Nicken nützt die Nackenwirbel ab. Wie befreiend ist es dagegen, den Kopf zu schütteln, bis die Haare fliegen. Oder mit dem Fuß aufzustampfen und laut und deutlich "Nein!" zu rufen.

Das Bewusstsein, dass die eigene Zeit endlich ist, ist das große Privileg der zweiten Lebenshälfte und verhilft zu vielen wunderbaren Ein- und Aussichten. Wie zum Beispiel dieser: "Das Leben ist zu kurz, um im falschen Film zu sitzen." Und wenn wir schon beim Film sind: Jane Fonda dreht auch wieder.

Text: Milena Moser

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