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Unser Leben ist Erinnerung

Je älter wir werden, desto mehr speichern wir in unserem inneren Tagebuch. Was davon im Gedächtnis bleibt und was wir bald vergessen, entscheiden unsere Gefühle.

Gefühle sind die Wächter der Erinnerung.

"Bist du es? Das ist ja wunderbar..." Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang auf Anhieb vertraut, und ich merkte, wie mein Herz schneller schlug. War das - Reinhard? Meine Liebe aus der Studienzeit? Wie lange war das her, 25 Jahre? Und nun die Stimme am Telefon, das angeraute, leicht atemlose Timbre. In seine Stimme hatte ich mich zuerst verliebt - und jetzt, am Telefon, war die Wirkung fast die gleiche. Kann es sein, dass jemand Jahrzehnte fast vergessen war - und kaum taucht er auf, ist jeder Moment wieder präsent, der zu diesem Menschen gehörte? Denn genau das passierte in den folgenden Tagen. Sogar Reinhards Geruch hatte ich wieder in der Nase, dazu Bilder, Worte, Stimmungen. Wie sich unsere Hände das erste Mal umfassten. Wie wir mit seinem klapprigen 2CV ans Meer gefahren waren und nachts auf dem Rückweg mit einer Reifenpanne liegen blieben. Viel Lachen, viel Freude, aber auch Tränen und Verzweiflung, denn Reinhard war liiert, konnte sich nicht entscheiden. Irgendwann war Schluss gewesen. War ein anderer Mann gekommen, eine neue Liebe. Und die Erinnerung an Reinhard war von Jahr zu Jahr mehr verblasst. Aber jetzt war er wieder spürbar, als sei das alles gestern gewesen: durch einen Hinweisreiz. Denn so nennen Psychologen den Auslöser - einen Geruch, ein Foto, einen Anruf -, der das Tor zu verschütteten Erinnerungen öffnet.

Manche Tage bleiben uns im Gedächtnis - andere versinken im Nebel

Den berühmtesten solcher Hinweisreize erlebte der Schriftsteller Marcel Proust. Duft und Geschmack eines in Lindenblütentee getauchten Gebäcks namens Petite Madeleine löste einen Schwall von Kindheitserinnerungen bei ihm aus und gab den Anstoß zu seiner literarischen "Suche nach der verlorenen Zeit". Die Rätsel der Erinnerung. Erstaunlich, wie viel wir uns merken können; erschreckend, was wir vergessen. Manche Tage bleiben uns von morgens bis abends im Gedächtnis, andere versinken im Nebel. Wir sagen uns: Diesen Moment will ich festhalten - ein paar Monate später ist er verschwunden. Oder ruht die Erinnerung nur irgendwo? "Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will", sagt der Schriftsteller Cees Nooteboom. Im Alter von drei Jahren beginnt der Mensch subjektiv Erlebtes abzuspeichern. Und je älter er wird, desto mehr trägt er in seinem Lebenskoffer mit sich herum. Kindheit und Jugend. Beruf und Familie. Abschied und Neubeginn. Namen, Orte, Bilder, Gesichter. Klar, dass das Gehirn ab und zu entrümpeln muss, damit wir nicht durcheinanderkommen. Und dann, plötzlich, sickert das eine oder andere aus der untersten Ablage zurück ins Bewusstsein. Etwa bei einem Klassentreffen: Man betritt den Saal und sieht lauter fremde Leute. Doch nach und nach, während wir miteinander reden, werden die Gesichter vertrauter, jünger, und wir sehen ihn wieder vor uns, den Mitschüler von damals. Weißt du noch?

Auch Tiere können sich erinnern, Hunde, Ratten, Delfine. Elefanten sagt man ein fotografisches Gedächtnis nach. Aber nur beim Menschen gibt es ein Erinnern mit dem Bezug zu Raum und Zeit, mit dem Bewusstsein der eigenen Identität und der eigenen Vergänglichkeit. Diese komplexe Form des Erinnerns ist ein Privileg des Menschen, sagt Hans Joachim Markowitsch. Der Neurowissenschaftler und Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld forscht seit Jahren zum Gedächtnis. Er sieht im Erinnern die Basis unserer Identität und bringt es auf die Formel: "Wir sind, woran wir uns erinnern." Das sagt auch der berühmte Hirnforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel. Der Film "Auf der Suche nach dem Gedächtnis", in dem Petra Seeger sein Leben und seine Forschung nachzeichnet, läuft gerade in den Programmkinos.

Als ließe man Aufzeichnungen von einem unfolgsamen Schriftführer anfertigen.

Früher glaubte man, das Gedächtnis sei ein Endlos- Videoband, das unser Leben aufzeichnet, mal für kurze Zeit, mal für die Ewigkeit. Heute weiß man: Erinnerung besteht aus Bruchstücken. Aus losen Blättern, unsortiert dazu. Das Buch der Erinnerung ist auch ein Buch des Vergessens. "Es ist, als ließe man seine Aufzeichnungen von einem unfolgsamen Schriftführer anfertigen, der seinen eigenen Interessen nachgeht. Der minutiös festhält, was man lieber vergessen würde, und der während glorreicher Momente so tut, als würde er eifrig mitschreiben - dabei hat er schon längst heimlich die Kappe auf den Füller geschraubt." So bringt Douwe Draaisma, Dozent für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen, das Phänomen auf den Punkt. Er hat ein Buch dazu geschrieben, das sich spannend wie ein Krimi liest: "Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird".

Welche Regionen im Gehirn aktiv sind beim Speichern oder Abrufen eines Erlebnisses, kann man heute dank der bildgebenden Verfahren der Hirnforschung beobachten. Im Wesentlichen werden fünf Systeme im Langzeitgedächtnis unterschieden: Das prozedurale Gedächtnis steht für Fähigkeiten, die wir unbewusst handhaben wie Fahrradfahren. Ähnlich funktioniert das Priming-Gedächtnis, es steht für Prägung, wenn uns etwa zu einer Melodie ein Werbespot einfällt. Das perzeptuelle Gedächtnis befähigt befähigt uns, Objekte voneinander zu unterscheiden. Und das semantische Gedächtnis enthält Schulwissen: Paris ist die Hauptstadt von Frankreich. Das spannendste, unsere Identität prägende ist das fünfte, das episodische Gedächtnis: unser autobiografisches Lebens-Tagebuch.

Das episodische Gedächtnis: unser autobiografisches Lebens-Tagebuch

Inzwischen wissen wir es sicher: Dauerhaft bleiben darin nur wichtige und außergewöhnliche Erinnerungen gespeichert. Je mehr uns ein Ereignis berührt und beschäftigt, desto intensiver speichert es das Gehirn. "Die Gefühle sind die Wächter unserer Erinnerung", sagt Hans Joachim Markowitsch. Höchstes Glück und tiefe Trauer werden quasi eingebrannt. Aus einem einfachen Grund: Unser Erinnerungsvermögen wird vom Limbischen System bestimmt, dem Sitz unserer Gefühle. Dazu gehören der Hippocampus und der Mandelkern (Amygdala) sowie andere Strukturen in der Hirnmitte. Jede Information passiert das Limbische System, wird verglichen, bewertet und danach abgelegt auf den Hirnrindenebenen. Beide Hirnhälften arbeiten dabei zusammen, wobei die linke Hirnhälfte eher für Kategorisierung und Fakten zuständig ist, die rechte eher für alles Gefühls- und Bildhafte.

Die Bedeutung von Gefühlen für das Erinnerungsvermögen bestätigt auch eine Studie an über 60-Jährigen von Douwe Draaisma. Er fand heraus, dass Erlebnisse aus der Zeit des jungen Erwachsenseins am besten erinnert werden. In dieser Zeit war alles spannend, aufregend, neu: die erste Stelle, die Hochzeit, das erste Kind. Kein Wunder, dass wir uns Jahrzehnte später besser daran erinnern können als an den Gang in die Kantine am letzten Mittwoch. Denn Alltag und Routine verblassen. Und weil wir, wenn wir älter werden, vieles im Leben schon kennen oder gesehen haben, merken wir uns immer weniger. Die Folge: Die Jahre scheinen dahinzurasen. Auch Neutrales ist schwerer zu erinnern, etwa Vokabeln. Dann kann uns unser Körper tatsächlich im Schlaf helfen, indem er Eiweiße produziert, die wir zum Einlagern von Erinnerung brauchen. Kurz vorm Schlafen Vokabeln angucken macht deshalb Sinn.

Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Aber wie genau funktioniert das Abspeichern eines Erlebnisses als Erinnerung? Im Grunde ist es ein Verschalten von Nervenzellen. Jede Erinnerung gelangt in ein Netz verteilter Zellen. Die Erinnerung "Ein Tag am Meer" ist die Farbe Blau, ist Salzgeruch, das Streicheln des Winds auf der Haut, ist Sonne, Strand, freie Zeit, die Begleitperson und so fort. Dabei sind mehrere Hirnregionen aktiv.

Dazu kommt: Das Gehirn mit seinen fast 100 Milliarden Nervenzellen und synaptischen Verknüpfungen funktioniert dynamisch, bis ins Alter entstehen immer wieder neue Zellen und Verknüpfungen. Bei einer sehr intensiven Erfahrung wird diese Dynamik aktiviert wegen der Stärke der Gefühle und der dazugehörenden Hormonausschüttungen. Das Erlebnis wird bei jedem Daran-Denken erneut als Erinnerung verankert. Und hinterlässt so - im Wortsinn - einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Und diese Fähigkeit des Gehirns erklärt auch, warum es das kollektive Gedächtnis gibt - Erinnerungen, die alle Menschen teilen, etwa an den 11. September 2001: Das Erschrecken, die Erschütterung lösten Trauer, Wut, Angst und Entsetzen aus. Dazu kamen die ständig wiederholten TV-Bilder und Gespräche in den Wochen danach. Ein prägendes Erlebnis für wohl jeden Menschen, der es miterlebt hat. Allerdings bleibt ein subjektiver Faktor, weil das Ereignis in jedem Gedächtnis anders eingeordnet wird. Es gibt sozusagen ein objektives Ereignis, aber hundert Personen und hundert Erinnerungen. Das ist zum Beispiel wichtig für die Zeugenbefragung bei Gericht.

Bei traumatischen Erlebnissen formt das Gedächtnis das Erlebte um

Wenn sich ein Zeuge heute so erinnert und morgen anders, heißt das nicht automatisch, dass er lügt, sondern dass sein Gehirn aktiv ist. Speziell bei einem traumatischen Erlebnis - Gewaltverbrechen, Naturkatastrophe, Unfall - kann das Gedächtnis das Erlebte im Rückblick immer wieder umformen aufgrund der starken Emotionen. Oder das Geschehen wird komplett verdrängt, und der Mensch kann sich an nichts erinnern. Dafür aber sein Körper: Ein unbearbeitetes Trauma macht sich eines Tages fast immer als gesundheitliche Störung bemerkbar.

Aber diese dynamische Struktur des Gehirns ermöglicht glücklicherweise auch Heilung. Mit Gegengedanken und Gegenbildern lässt sich eine Trauma- Gedächtnisspur im Laufe einer Therapie erweitern und sogar verändern. Die schreckliche Erinnerung ist dann zwar noch da, wird aber gekoppelt mit neuen, nun auch positiven Gedanken und Gefühlen.

Denn es gibt ja auch wunderschöne Erinnerungen. "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können", schrieb schon Jean Paul. Und lauter schöne Erinnerungen packt Benjamin Biolay, der in seiner Heimat Frankreich seit einigen Jahren als Erneuerer des Chansons gilt, in sein Lied "De beaux souvenirs". Er zählt sie einfach auf: "...un ferry sur la manche, ....une jolie fille qui s'épanche, ...la derniere séance, ....1, 2, 3-0 pour la France..." Übersetzt: eine Fähre auf dem Ärmelkanal, ein hübsches Mädchen, das sein Herz ausschüttet, die letzte Vorstellung im Kino, 1, 2, 3 zu 0 für Frankreich. Damit meint Biolay das Endspiel der Fußball-WM 1998. Frankreich besiegte Favorit Brasilien, war Weltmeister, Zinédine Zidane Held der Nation. 1, 2, 3-0 pour la France: sieben kleine Wörter - und das Gedächtnis startet den Suchlauf, der Film im Kopf beginnt. Was war da los, wo war ich in diesem Moment, wer war mit dabei? Biolays Song ist nicht nur ein gelungener Pop-Ohrwurm, sondern aus neurologischer Sicht ein kleines Meisterwerk. Das Lied macht sein Thema direkt erlebbar, denn es führt vor, wie Erinnern funktioniert: als Ansturm der Assoziationen, Bilder, Gerüche.

Wir können schöne Erinnerungen sammeln.

Apropos: Riechen wir nach Jahren einen uns bekannten Geruch, etwa ein Sonnenöl oder wie Proust das Gebäck, ruft das zunächst eine bestimmte Stimmung wach und erst später die konkrete Erinnerung. Gerüche werden nämlich an der Sprache vorbeigespeichert. Es gibt eine direkte Nervenbahn von der Nase zum Limbischen System, dem Sitz der Gefühle. Ein Überbleibsel aus der Evolutionsgeschichte. Unsere Vorfahren entschieden mit der Nase, ob etwas essbar war und mit welchem Partner sie gesunde Kinder zeugen konnten. Ein Relikt, das unsere Partnersuche bis heute prägt.

Und warum merken wir uns eigentlich nicht nur alles Gute? Schön wär's - geht aber nicht. Immerhin können wir dafür sorgen, dass wir genügend schöne Erinnerungen sammeln. "Creating memories" heißt das Verfahren. Es geht darum, sich selbst immer wieder besondere Erlebnisse zu schenken. Eine Traumreise, ein Wochenende mit Freunden, ein großes Fest. Denn wenn die Glückshormone kullern, merken wir uns diese Tage wie von selbst. Foto und Video, Notiz- und Tagebücher oder musikalische Untermalung können zusätzlich als Gedächtnisstützen helfen. So entsteht ein Vorrat von Erinnerungen, auf den wir im Alter gezielt zurückgreifen können. Dann, wenn die reale Welt sich immer mehr verengen wird, können wir uns aus Erinnerungen eine farbenfrohe innere Welt bauen. Das gilt auch für Trauerphasen. Wer je einen geliebten Menschen verlor, weiß, dass die Erinnerung an den Toten nach dem ersten Schock geradezu körperlich spürbar bleibt. "Erinnern schmerzt und tröstet", schreibt der Psychologe Roland Kachler in seinem sehr persönlichen Buch "Meine Trauer wird dich finden". Er schrieb es nach dem Unfalltod seines Sohnes. "Erinnerungen sind die unmittelbarste Weise, den geliebten Menschen nahe kommen zu lassen", sagt der verwaiste Vater. "In der Erinnerung bleibt der Verstorbene noch bei uns: Wir sehen ihn, wir reden mit ihm, berühren ihn. Deshalb sind Erinnerungen einer der sichersten Orte für den Verstorbenen." Der Psychologe rät Trauernden zu kleinen Ritualen: "Denken Sie an eine Situation, ein Fest, einen Ausflug, intensivieren Sie dann die Farben, das Licht, Töne, Klänge, Gerüche. Schreiben Sie die Erinnerungen in ein Heft. So entsteht ein Erinnerungsschatz, den Sie jederzeit aufsuchen können."

Auch in Uganda übt man das Erinnern an die Toten mit dem von der Kinderhilfsorganisation Plan International gestarteten Projekt "Memory Books". Es wurde für Kinder ins Leben gerufen, die ihre Eltern durch Aids verlieren. Bevor Vater oder Mutter sterben, füllen sie die "Memory Books" mit Erinnerungen, Zeichnungen, Fotos. Dann haben die Kinder etwas, das ihnen bleibt. Der Autor Henning Mankell hat ein berührendes Buch darüber geschrieben: "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt". In den Begegnungen mit Kindern und Eltern erlebte Mankell, warum die Erinnerungen so unschätzbar wertvoll sind für die Kinder, die ihre Eltern nie mehr befragen können. Es geht um die Gewissheit, geliebt worden zu sein. Um familiäre Identität. Zu wissen, was war und woher man kommt - das gibt Orientierung und Halt. Die Lyrikerin Rose Ausländer hat diesen Gedanken in einem Gedicht verewigt, es heißt "Nicht vorüber": Was vorüber ist/Ist nicht vorüber/Es wächst weiter/In deinen Zellen/Ein Baum aus Tränen/ Oder/Vergangenem Glück".

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Douwe Draaisma: "Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von der Rätseln unserer Erinnerung" (352 S., 9,95 Euro, Piper) Hans Joachim Markowitsch: "Das Gedächtnis: Entwicklung, Funktionen, Störungen" (128 S., 7,90 Euro, Beck) Hans J. Markowitsch, Harald Welzer: "Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung" (301 S., 29,90 Euro, Klett-Cotta); "Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung" (348 S., 36,90 Euro, Klett-Cotta) Barbara Knab, Hans Förstl: "99 Tatsachen über Ihr Gedächtnis. Wie es funktioniert - was es leistet - wie Sie es schützen und stärken" (143 S., 14,95 Euro, Trias) Henning Mankell: "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt" (144 S., 7,50 Euro, dtv) Roland Kachler: "Meine Trauer wird dich finden" (178 S., 14,95 Euro, Kreuz)

Text: Frauke Döhring Foto: iStockphoto

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