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Warum muss ich immer die Starke sein?

Das hätten viele Freundinnen gern: Eine, die immer für uns da und nie schlecht gelaunt ist. Eine, die ihr eigenes Leben im Griff hat und spontan hilft.

Darf ich mich vorstellen? Ich bin die Starke. Mir darfst du alles erzählen, sogar nachts um zwei, ich habe für alles Verständnis, immer einen Rat, ich gebe Nachtquartier, koche für dich mit und überrede dich zum Joggen.

Ich schaffe alles. Immer. Und: Ich jammere nie! Sorgen behalte ich für mich. Traurigkeit mache ich mit Aerobic weg, Wasserhähne repariere ich selbst. Ich sitte deine Katze, wenn du im Urlaub bist. Ich therapiere deine Ehe. Ich habe immer gute Laune und bringe dich zum Lachen, wenn du ausgelaugt von deiner Arbeit kommst.

Die Freundinnen bekommen Aufmerksamkeit. Und man selbst? Nichts.

Denn mein Job ist nicht schwer. Er ist einfach und gut bezahlt. Ich bin nie frustriert, habe nichts zu klagen. Nie zu meckern. Keine Träne zu vergießen. Wenn mich ein Mann verlässt, lache ich ihm hinterher und denke: Gott sei Dank, den bin ich los! Und suche mir einen neuen. Dass ich zweimal geschieden bin - na und? Das hat fast gar nicht weh getan. Dafür muss ich dich nicht monatelang voll heulen und zwei Millionen Mal mit dir die Frage hin- und herwälzen: Gehen oder bleiben? So viel Zeit habe ich auch gar nicht. Denn wir müssen ja über dich und deine Ehe sprechen. Da komme ich doch nicht auch noch mit meinen Wehwehchen.

Bei mir ist alles ganz einfach. Ich habe dem Ex das Haus überlassen, auf Unterhalt verzichtet und beide Kinder allein großgezogen. Ich habe schon von verheirateten Hausfrauen gehört, sie seien auch alleinerziehend. Ihr Mann sei nie da. Da habe ich nur gedacht: Der bringt wenigstens das Geld nach Hause. Und entscheidet mit über die Schulfragen. Aber protestiert habe ich nicht. Wer glaubt, mit einem gut verdienenden Ehemann alleinerziehend zu sein, mit dem rede ich doch nicht darüber, wie es wirklich ist. Ich war immer Vater und Mutter zugleich. Und wenn die Kinder Probleme machen, ist klar: Ich habe sie nicht im Griff. Aber das Thema ist zu kompliziert zum Plaudern und Jammern. Das mache ich mit mir ab.

Ich brauche keine Komplimente, keine Aufmunterung.

Du rufst an und klagst, dein Mann hat den Hochzeitstag vergessen. Es ist so demütigend! Der schönste Tag in deinem Leben! Ich verkneife mir, zu fragen, ob es auch sein schönster Tag war. Ich sage: Kauf dir selbst einen Strauß. Und lass uns ins Kino gehen. Da lachst du wieder. Tja, so bin ich. Gut drauf. Und gut für dich.

Wenn ich mal krank bin, brauchst du mir keine Suppe vorbeizubringen. Zur Apotheke schaffe ich es allemal selbst. Und wenn ich neue Falten, Übergewicht und ein Loch im Strumpf entdecke, zweifle ich noch lange nicht an meiner Attraktivität. Ich brauche keine Komplimente, keine Aufmunterung von dir. Ich habe keine Angst vor dem Alter. Nein, das alles überlasse ich dir. Und ich tröste, berate, ermuntere. Ich schmeichle dir, wenn du ein neues Tuch hast. Meinen irre tollen Hosenanzug kannst du getrost übersehen. Hat ja nur ein halbes Monatsgehalt gekostet. Und dass er mir steht, hat mir schon die Verkäuferin gesagt.

Frag bloß nicht aus Versehen, wie es mir geht. Du willst es gar nicht wissen. Du möchtest mir erzählen, wie es dir geht. Dafür verbrauchen wir meine Telefongebühren. Kein Problem, jetzt habe ich ja eine Flatrate. Und Zeit habe ich natürlich auch genug, denn mein Haushalt macht sich fast von selbst. Bei mir ist immer aufgeräumt. Und ein nettes Abend essen für drei, vier Leute kann ich jederzeit improvisieren. Selbstverständlich brauchst du nichts mitzubringen, ein guter Wein ist immer da. Und Blumen wachsen im Garten. Denn ich bin die Starke vom Dienst. Der doofe Idiot. Dein seelischer Mülleimer.

Als Starke möchte man auch mal schwach sein dürfen

Und weißt du was? Ich habe es so satt. Ich will auch mal auf den Arm, will auch mal gehätschelt werden. Bist du enttäuscht von mir, wenn ich dir sage, dass hinter meiner Stärke Angst steckt? Angst, mich dir anzuvertrauen. Angst vor der Enttäuschung, weil du mir gar nicht zuhörst. Weil ich schon so oft erlebt habe, was dann kommt: Ach ja, das kenne ich. Bei mir war das so... Ein Lidschlag - und wir sind wieder bei dir und deinen Befindlichkeiten. Und ich war nur der Stichwortgeber. Oder du sagst: Ach, komm, ist doch nicht so schlimm. Du schaffst das schon. Du bist doch so stark.

Kann sein, ich bin ungerecht. Kann sein, dein Mitgefühl würde plötzlich erwachen, wenn mir etwas wirklich Schlimmes geschehen würde. Aber soll ich darauf warten?

Wann darf ich mal jammern? Und wer hört mir zu?

Natürlich bin ich selbst schuld. Ich habe ja immer die Starke spielen wollen. Euer Gejammer über den ewig gleichen Kummer mit den Kerlen: Er will mich ja, er weiß es nur noch nicht. Eure übertriebenen Sorgen um die lieben Kleinen. Mein Gott, er hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche! Eure Angst, nicht schön genug zu sein. Die O-Beine, die dünnen Haare! Es hat mich angekotzt. Ich wollte das Leben schön haben. Und wusste, dass ich die Einzige bin, die es mir schön machen kann. Das wusste ich schon, als ich 14 war. Ich habe mein Selbstbewusstsein trainiert, weil ich Reporterin werden wollte. Dafür habe ich auf der Straße Leute angesprochen und nach der Uhrzeit gefragt, später dann, als erschwerte Variante, um eine Mark für Fahrgeld gebeten. Das hat mich abgehärtet und meinen Glauben an mich und die Menschheit gestärkt. Aber jetzt bin ich nicht mehr 14. Auch mein Vorrat an Optimismus, Kampflust und Tapferkeit ist begrenzt. Ich könnte jetzt mal jemand Stärkeren brauchen. Aber es ist keiner da.

Warum glauben manche Frauen, dass die Welt ihnen was schuldig ist? Dass sie Verständnis, Mitgefühl und Hilfe verdient haben? Und andere, so wie ich, glauben, alles allein schaffen zu müssen. Hat das was mit den Genen zu tun?

Bestimmt. Und auch mit der Überzeugung davon, was man verdient hat. Unterstützung anderer war nicht meine erste Sehnsucht, als ich in die Welt zog. Ich war lieber die Tolle, die Beneidenswerte. Man kann natürlich nicht beides haben: den Neid und das Mitgefühl der anderen. Also habe ich den Neid abbekommen. Und du das Mitgefühl. Wollen wir mal tauschen? Aber wofür soll ich dich beneiden? Du verlierst jeden Tag wahlweise dein Handy, deinen Schlüssel oder deine Kreditkarte. Und ich helfe suchen. Du rauchst Kette, machst einen langweiligen Job. Und du löst dich nicht aus deiner eingeschlafenen Ehe. Nein, da kommt wirklich kein Neid auf.

Du hast deine Schwäche immer vor dir hergetragen, und ich habe dir Raum gegeben, dich richtig schlecht zu fühlen. Na ja, das war, ehrlich gesagt, mein kleiner Benefit bei dem Arrangement. Je kleiner du dich gemacht hast, desto größer wurde ich. Du hast mit dick geheulten Augen vor mir gesessen. Ich habe die Taschentücher gereicht. Wenn ich es richtig überlege, war ich mir zu schade, jeden in mein Lebensdilemma gucken zu lassen. Meine Angst geht keinen was an - das ist wahrer Psycho-Luxus.

Freundinnen nehmen häufig sich ergänzende Rollen ein

Ehrlich gesagt, habe ich dir keine Chance gegeben, mich zu verstehen. Du hast es allerdings auch nicht besonders hartnäckig versucht. Du hast immer weitergequasselt, von deiner Mammografie-Angst, von den Wechseljahren, von der Sex-Flaute mit Klaus, von Autopannen, Cellulite und Zahn-OP. Und ich war deine Klagemauer. Wenn ich noch drei Tage später dasaß und nachdachte, was ich an deiner Stelle tun würde, mit welchem Tipp ich dich stärken könnte - da hattest du schon neue Sorgen. Deine Tochter hatte Liebeskummer! Meine Güte! Das gehört doch dazu zum Erwachsenwerden. Ja, aber du hast so mitgelitten. Es hat dir Migräne gemacht. Das Kind muss alles noch mal erleben, was deine Jugend so belastet hat. Können wir sie nicht schützen, unsere Kinder? Nein, können wir nicht, das brauchen sie, sonst bleiben sie Baby-Faces. Sie müssen doch auch ihre Beulen bekommen und später ihre Charakterfalten.

Je kleiner du dich gemacht hast, desto größer wurde ich.

Warum bin ich die Einzige, die das weiß? Warum will ich meine Kinder nicht vor dem Zusammenprall mit dem Leben bewahren? Weil das unmöglich ist! Und weil ich meine Kraft nicht in aussichtslose Unterfangen stecke. Dafür habe ich zu viel zu tun. Ich muss in meinem Leben Regie führen. Muss für mich sorgen. Geld verdienen. Meine Steuererklärung machen. Rasen mähen. Auf meine Gesundheit achten. Über meine Fehler nachdenken. Meine neuen Ziele finden. Für einen straffen Hintern trainieren. Meine Katzen streicheln. Mein Wohnzimmer streichen. Herausfinden, wer ich bin, wenn ich eines Tages 60 bin. Den Mann in meinem Leben halten. Mir die Liebe meiner Kinder verdienen. Und dir zuhören!

Nein, meine Stärke ist kein Geschenk. Ich erarbeite sie mir immer wieder, jeden Tag aufs Neue. Und jetzt hätte ich gern auch mal Anerkennung dafür. Bewunderung. Die Frage: Wie schaffst du das eigentlich alles? Könntest du sie mir bitte einmal stellen? Und dann richtig Zeit haben für meine Antwort? Ohne dass du nach dem ersten Satz sagst: Ach ja, das kenne ich. Bei mir war das so...

Text: Vera Sandberg Foto: Getty Images

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