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Faulenzen: Wer macht das heute noch?

Wer gearbeitet hat, darf sich auch ausruhen. Aber ist Faulenzen auch erlaubt, wenn man sich gar nicht angestrengt hat? Ein Lob auf den Müßiggang.

Jeden Morgen zwischen Viertel nach sieben und halb acht, wenn die Kinder sich auf den Weg zur Schule gemacht haben, mein Mann schon bei der Arbeit ist und ich im Bademantel durchs Schlafzimmer Richtung Badezimmer gehe, um zu duschen – jeden Morgen, an dem ich nicht um Punkt halb neun irgendwo sein muss, im Büro oder beim Arzt oder in der Autowerkstatt, räkelt sich die Schlange der Versuchung auf unserem Bett und zischt: "Komm, leg dich zu mir! Spürst du nicht, wie müde du eigentlich noch bist? Nur zehn Minuten, höchstens eine halbe Stunde, es gibt doch gar nichts zu tun!" "Es gibt immer etwas zu tun", sage ich. "Zum Beispiel könnte ich schnell die Wäsche zusammenlegen." Die Schlange, höhnisch: "Du? Vor acht Uhr morgens T-Shirts falten? Da kannst du ja gleich auch noch damit anfangen, Unterhosen zu bügeln."

Wenn es draußen trübe, kalt, nass oder gar alles zusammen ist oder wenn ich am Vorabend besonders spät ins Bett gegangen bin, dann stehen die Chancen nicht so schlecht, dass die Schlange der Versuchung siegt. Ich werfe einen Blick auf den Radiowecker: erst fünf vor halb acht. Ich krieche unter die Decke und bohre mit einem wollüstigen Seufzer meine Nase ins Daunenkissen. Zehn Meter von unserem Haus entfernt gibt es eine Bushaltestelle. Während ich döse, höre ich, wie der Bus kommt, bremst, die Türen öffnet, wieder anfährt. Ich weiß, ohne hinzusehen, dass der Bus voller Fahrgäste ist, voller Menschen, die feste Arbeits- und Unterrichtszeiten haben, die erwartet werden, die nicht zu spät kommen dürfen – fleißige Menschen wie mein Mann und meine Kinder. Vor meinem inneren Auge sehe ich all diese fleißigen, sittsamen Menschen; in meine Wonne mischt sich Scham: gut, dass sie nicht wissen, dass ich hier liege und mich ausruhe, obwohl ich heute noch nichts geleistet habe außer dem Schmieren zweier Schulbrote. Gut, dass sie nicht ahnen, was für eine liederliche Person ich bin.

Faulsein ist eine Sünde. Das habe ich wie alle anderen um mich herum gründlich verinnerlicht. Darum habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich nichts tue, ohne mir das Nichtstun durch Anstrengung erarbeitet zu haben. Darum gehört die Behauptung, jemand sei faul, zu den schlimmsten Vorwürfen, die man heutzutage machen kann. Wer etwas wirklich Abfälliges sagen möchte über die Nachbarin, der sagt nicht, sie sei eine hochnäsige Zicke oder eine perfektionistische Übermutter, der sagt: "Keine Ahnung, was die den ganzen Tag so macht, die Kinder sind ja schon groß. Na ja, aufräumen und sauber machen tut sie jedenfalls nicht, so wie es da aussieht.

Wer sich von seinem Ex-Chef schlecht behandelt fühlt und sich dafür rächen will, der macht es wie Herbert Feuerstein, der kürzlich im „Spiegel“-Interview über seinen ehemaligen Arbeitgeber, den TV-Entertainer Harald Schmidt, verbreitete: „Er ist niemand, der von Natur aus fleißig wäre. Ehrlich gesagt ist er sogar verdammt faul.“ Na und?, denkt man, ist doch ganz und gar schnuppe, ob ein Harald Schmidt faul oder fleißig ist – Hauptsache, er ist lustig. Aber selbst an einem Star wie ihm perlt diese Unterstellung nicht gänzlich ab: Hat Millionen abgesahnt und dabei andere für sich schuften und Gags schreiben lassen? Vielleicht hat er es gar nicht verdient, dass man so oft über ihn gelacht hat?

Der Anfang vom Ende

Die Ächtung der Faulheit dagegen ist allgemeine Bürgerpflicht. Wenn ein Politiker auf Stimmenfang unter Arbeitnehmern und Steuerzahlern gehen will, dann prangert er an, Deutschland sei auf dem besten Wege, ein „kollektiver Freizeitpark“ zu werden (Helmut Kohl, CDU), er stellt klar, dass es „kein Recht auf Faulheit“ gebe (Gerhard Schröder, SPD), oder warnt davor, dem Volk „anstrengungslosen Wohlstand“ zu versprechen und es auf diese Weise zu „spätrömischer Dekadenz“ einzuladen (Guido Westerwelle, FDP). Faulheit, so die Botschaft, ist der Anfang vom Ende.

Zehn vor acht. Ich liege – spätrömisch-dekadent – immer noch im Bett, aber ich kann nicht einschlafen. Das schlechte Gewissen hält mich wach. Ich ärgere mich über mich selbst, ohne zu wissen, was mich ärgerlicher macht: dass ich hier faul herumliege, statt in die Puschen zu kommen – oder dass ich unfähig bin, diesen Luxus zu genießen. Ich habe immerhin die letzten 14 Jahre damit verbracht, zwei Kinder und einen Hund großzuziehen, dabei einen Job zu machen, eine Ehe und einen Haushalt zu führen, ein Haus zu bauen, den Garten und Freundschaften zu pflegen, und das alles habe ich einigermaßen anständig hinbekommen, glaube ich. Der Job jedenfalls läuft gut, die Kinder und der Hund sind weder zu dick noch verhaltensauffällig, weder meine Ehe noch der Haushalt wirken verwahrlost, das Haus und der Freundeskreis stehen.

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Wenn ich mich und mein Leben anschaue, dann sagt mir mein Verstand klar und deutlich: Du hast etwas geleistet in den vergangenen Jahren und auch vergangene Woche, und zwar nicht wenig, es reicht – warum solltest du nicht mal faul sein dürfen? Mein Gefühl aber sagt: Es reicht nicht, es reicht nie. Du könntest joggen gehen, um dünner zu werden. Du könntest deine Mutter anrufen, um eine bessere Tochter zu sein. Du könntest mehr schreiben, endlich den Schuppen aufräumen oder wenigstens die Zeitung von vorn bis hinten durchlesen, um schlauer zu werden, also steh auf und mach dich an die Arbeit! Es kotzt mich an, mein schlechtes Gewissen, und zwar maßlos. Ich will es loswerden, aber das ist schwer, denn tatsächlich verfolgt es mich, seit ich denken kann.

Als Kind hatte ich ein Lieblingslied, es stammt von Astrid LindLindgren, gesungen wird es von Pippi Langstrumpf. „Faulsein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit. Wenn die Sonne scheint und die Blumen blühn, ist die Welt so schön und weit“, singt Pippi Langstrumpf. „Faulsein ist wunderschön, viel schöner als der Fleiß.“ Noch heute singe ich laut mit, wenn ich das Lied höre, es macht mir gute Laune, eigentlich sollte ich es mir als Klingelton für mein Handy runterladen. Aber schon als Kind war mir klar: Pippis Motto, so verlockend es klingt, kann für mich nicht gelten. Dass sie nicht zur Schule geht, weder Hausaufgaben machen noch aufräumen muss, liegt schließlich nur daran, dass sie keine Eltern hat, die etwas von ihr fordern – die Mutter tot, ihr Vater ein meist abwesender, nur sporadisch auftauchender Piratenkapitän. Pippi ist frei, faul zu sein, weil sie allein ist, eine Außenseiterin: Niemals hätte ich mit ihr tauschen wollen. Ich wollte dazugehören, ich wollte Geborgenheit, ein richtiges Zuhause, Eltern, die für mich sorgen, und das alles schien es nur in jener Welt zu geben, zu der Tommy und Annika gehören – in der Welt der braven, ordentlichen und fleißigen Kinder.

Was wäre aus mir geworden, wenn meine Eltern mir erlaubt hätten, mich erst zu vergnügen und dann aufzuräumen?

„Ohne Fleiß kein Preis“, pflegten die Erwachsenen um mich herum zu sagen. Oder: „Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.“ Was bedeutete: erst Mathe üben, Zimmer aufräumen, Tisch abräumen – dann spielen gehen, lachen, auf Bäume klettern. Was wäre aus mir geworden, wenn meine Eltern mir erlaubt hätten, mich erst zu vergnügen und dann aufzuräumen? Wäre ich durchs Abitur gefallen, zur Versagerin oder zu einer Schlampe herangewachsen? Oder wäre aus mir eine Frau geworden, die, wenn draußen die Sonne scheint und die Blumen blühen, die dreckige Wäsche, den unfertigen Text liegen lassen und sagen kann: „Die Arbeit hat noch Zeit!“ Eine, die das Leben mehr genießt als ich und sich noch einmal ein Stündchen hinlegt, ohne sich deshalb zu schämen? So eine Frau will ich werden. Ich versuche, meinem schlechten Gewissen mit einer Zeitreise zu entfliehen. Ich stelle mir vor, ich wäre nicht ich, sondern eine adlige Herrin an einem Dienstagmorgen im Jahre 1012. Ich döse nicht im Ikeabett auf Spannbettlaken, sondern im geschnitzten Himmelbett zwischen weichen Fellen. Zwei Mägde auf dem Hof vor dem Fenster meines Turmzimmers streiten sich, ein Ochsenkarren klappert über das Kopfsteinpflaster, in meine Wonne mischt sich Dankbarkeit. Ich preise den Herrgott für das gnädige Schicksal, das Er mir hat zuteil werden lassen. Ich bin keine Sünderin, oh nein. Ich bin eine Gesegnete: Niemand verachtet, alle beneiden mich. Die Faulheit und ihre Verwandten – das Nichtstun, der Schlaf, der Müßiggang, das Herumbummeln, das Sichtreibenlassen – hatten nämlich nicht immer einen so schlechten Ruf wie heute.

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Ganz früher einmal, das rufe ich mir ins Gedächtnis, genoss der höchste Achtung, der es sich leisten konnte, nichts zu tun als das, wonach ihm gerade der Sinn stand. Diejenigen, die arbeiteten, taten dies nur deshalb, weil sie es tun mussten, um zu überleben, und wenn die Familie genug Essen auf dem Teller hatte, dann hatte man genug gearbeitet. Erst seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit verbreitete sich nach und nach die Erkenntnis, dass Arbeit diejenigen reich machen kann, die es schaffen, möglichst viele Menschen möglichst viel und sorgfältig für sich arbeiten zu lassen. Doch wie sollte man die Bewohner Europas, die bis dahin Faulheit für den erstrebenswertesten aller Zustände hielten, in Massen dazu bringen, fleißig zu sein? Ein staatlich gelenkter, von den Kirchen unterstützter gesellschaftlicher Umerziehungsprozess setzte ein, der im Laufe der vergangenen Jahrhunderte „die Arbeit vom notwendigen Übel zum höchsten Wert aufsteigen ließ“, schreibt der Literaturwissenschaftler Manfred Koch in seinem Essay „Faulheit. Eine schwierige Disziplin“. Mit einer populären Formel: „Man arbeitet nicht mehr, um zu leben, sondern lebt, um zu arbeiten.“

Heute brauchen wir die Arbeit

Heute haben die meisten von uns es völlig verlernt, sich ein Leben ohne Arbeit auch nur vorstellen zu können. Wir kommen noch nicht einmal auf die Idee, davon zu träumen. Wir halten es schlicht nicht für erstrebenswert, weil wir längst einen Schritt weiter sind als die Arbeitergenerationen vor uns: Wir sehen nicht nur bereitwillig ein, dass es ohne Arbeit nun einmal nicht geht. Wir sind sogar fest davon überzeugt, dass wir ohne Arbeit nur halb so viel Spaß hätten im Leben – und dass wir vor allem deshalb auch mal Feierabend haben, um uns körperlich, seelisch und geistig fit für den Job, Familie und andere zwingende Aufgaben zu halten: Wir nutzen unsere Freizeit, um Sport zu treiben, Yoga zu machen und Business-Englisch-Kurse zu besuchen, und im Urlaub buchen wir Aktiv-, Abenteuer- oder Bildungsreisen. Nur am Strand rumliegen? Für viele undenkbar.

Neulich habe ich eine Umfrage unter meinen Facebook-Freundinnen gestartet. Ich fragte: „Wie sähe euer perfektes Leben aus?“ Die eine Freundin wünschte sich eine geile Party pro Woche, die nächste einen Butler, die andere, dass ihre Freunde nebenan wohnen, eine vierte träumt von einem Wohnsitz in New York und einem an der Côte d’Azur, und eine fünfte hätte gern täglich frische Blumen und frisch frisierte Haare.

Alle möchten mehr Freizeit haben und weniger Pflichten, aber keine einzige ist auf die Idee gekommen, sich ausreichend Geld zu wünschen, um finanziell völlig unabhängig zu sein. Keine wünscht sich, gar nicht mehr arbeiten zu müssen – obwohl „nicht mehr arbeiten müssen“ ja keineswegs bedeutete, nicht mehr arbeiten zu dürfen: Nicht arbeiten zu müssen könnte heißen, weniger zu arbeiten oder nur dann, wenn man Lust dazu hat. Man könnte sich eine Aufgabe suchen, die zwar schlecht oder gar nicht bezahlt wird, aber mehr Spaß macht oder sinnvoller erscheint als das, was man bisher getan hat. Frei zu sein von der Verpflichtung zum Fleiß – klingt das nicht paradiesisch? Nein, in unseren Ohren klingt das eher nach Hölle. Nämlich nach der Hölle der Sinnlosigkeit, in der wir keine Antworten finden auf Fragen wie diese: Wenn es nicht die Arbeit, die Pflichten, die Erwartungen sind, die zu erledigen und zu erfüllen wir da sind, wozu gibt es uns dann? Was bleibt von mir übrig, wenn ich nicht sagen kann: „Ich bin eine gute Schülerin, eine ordentliche Hausfrau, eine fürsorgliche Mutter, eine geschätzte Mitarbeiterin, eine erfolgreiche Selbständige“?

Unser Fleiß, behauptete der Zivilisationskritiker Friedrich Nietzsche, sei nichts anderes als Flucht und Wille, uns selbst zu vergessen: „Ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!“ Sollte Nietzsche recht haben, überlege ich, dann ist die Unfähigkeit zum Faulenzen keine Tugend, sondern eine Schwäche. Und ich bin eine, die sich traut. Ich wage es, hinzusehen: Wer bin ich, wenn ich hier liege und nichts tue? Bin ich eine gut 40-Jährige, die das Glück hat, sich nicht abhetzen zu müssen?

Oder bin ich eine Frau, die keinen guten Grund hat, sich schnell anzuziehen, die von niemandem erwartet wird? Bin ich frei? Oder einsam? Oder bin ich womöglich nichts von alledem, bin ich einfach ein Mensch, der hier liegt, weil es nun einmal herrlich ist, im Bett zu liegen, und nichts dagegen spricht, es zu tun? Meine Schläfrigkeit umhüllt mich wie ein Tarnmantel. Wie herrlich! Für eine kurze Gnadenfrist bin ich noch einmal unsichtbar, hier findet mich niemand – die E-Mails, die Arbeit, die To-do-Listen, all die alltäglichen Pflichten, sie müssen noch eine Weile auf mich warten.

Plötzlich gefällt mir der Gedanke, etwas Verbotenes zu tun: Ich bin eine, die sich ab und zu für eine Stunde in Pippi Langstrumpf verwandelt, aus der Welt der braven Erwachsenen ausbricht und macht, was ihr gefällt, im weichen, warmen Bett herumliegen nämlich – heimlich zwar, aber gerade deshalb umso lustvoller. Als Kind entdeckt man irgendwann, dass man Erwachsene belügen, Unerlaubtes vor ihnen verbergen kann, ohne dass deshalb etwas Schlimmes passiert, und diese Entdeckung ist nicht nur ein Tor zu völlig neuen Möglichkeiten, sie ist eine Akt der Rebellion gegen die Übermacht der Eltern. Wer sich gelegentlich das Recht nimmt, nichts zu tun, überlege ich, ist jemand, der wenigstens ab und zu Widerstand leistet gegen die Übermacht der tausend Ansprüche – der sich daran erinnert, „dass unser Leben seinen Wert in sich selbst trägt, jenseits aller Nützlichkeitserwägungen und jeder Verwertungslogik“, wie Ulrich Schnabel in seinem Buch „Muße“ schreibt. Dann bin ich halt eine Rebellin, beschließe ich und schlafe wieder ein.

Faulenzen für Anfänger

1. Legen Sie sich tagsüber für eine halbe Stunde aufs Sofa, schließen Sie die Augen, tun Sie nichts, außer Musik oder Radio oder Vogelgezwitscher zu hören. 2. Zwingen Sie sich, nach dem Abendessen etwas Schönes zu machen, ohne die Küche aufzuräumen. 3. Machen Sie, wenn irgend möglich, eine halbe Stunde früher als sonst mit der Arbeit Schluss, essen Sie auf dem Heimweg ein Eis. 4. Spazieren Sie zu Fuß ins Büro oder zu einer Verabredung. 5. Notieren Sie jeden Montag drei Dinge, die Sie auch nächste Woche erledigen können, ohne dass die Welt untergeht – und halten Sie sich daran. 6. Wenn Sie an einer Sitzbank vorbeikommen: Setzen Sie sich fünf Minuten und schauen Sie sich die Gegend an. 7. Bleiben Sie am Sonntag nach dem Aufwachen noch mindestens eine Stunde im Bett. 8. Probieren Sie aus, ob tatsächlich jemand verhungert, wenn Sie heute nicht einkaufen. 9. Verbringen Sie ein Wochenende ohne Laptop und Smartphone. 10. Pflücken Sie für sich selbst einen Blumenstrauß.

Text: Julia Karnick Fotos: Lisa Rastl

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