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Dankbarkeit kann man lernen

Dankbarkeit kann man lernen
© Gita Kulinitch Studio/shutterstock
Zufriedenheit hat eine enge Verwandte: die Dankbarkeit. Warum das so ist und wie wir Dankbarkeit lernen können, erklärt der Psychologe und Psychotherapeut Prof. Dr. Henning Freund.

BRIGITTE WOMAN: Sind Menschen zufrieden, weil sie Grund haben, dankbar zu sein - oder sind wir dankbar, weil wir zufrieden sind?

Henning Freund: Ich gehe davon aus, dass Dankbarkeit die Voraussetzung für Zufriedenheit ist. Wenn ich dankbar bin für das Gute in meinem Leben, bewahrt mich das zugleich vor Unzufriedenheit - nämlich davor, mich nach Dingen zu verzehren, die ich nicht haben oder erreichen kann. Eine dankbare Grundhaltung hilft sogar, vor Depressivität zu schützen. Natürlich, Depressionen haben immer viele verschiedene, auch körperliche Ursachen. Aus psychologischer Sicht jedoch könnte man Depression beschreiben als die Unfähigkeit, sich von unerreichbaren Zielen zu distanzieren.

Prof. Dr. Henning Freund
Der 48-Jährige lehrt Religionspsychologie und forscht zum Thema Dankbarkeit.
© privat

Es gibt angeblich Untersuchungen, die zeigen, dass Dankbarkeit glücklicher macht als Verliebtheit.

Sollte es diese Studie geben, würde ich sagen, dass da Äpfel mit Birnen verglichen wurden. Jeder weiß, dass Verliebtheit ein hochintensives, aber zeitlich begrenztes Glücksgefühl ist. Dankbarkeit dagegen ist ein stilles, unspektakuläres Gefühl, das sich lang anhaltend positiv auf unser Befinden auswirkt. Kurz: Verliebtheit macht punktuell sehr glücklich. Dankbarkeit macht nicht ganz so glücklich, dafür aber nachhaltig. Und dieses nachhaltige Wohlbefinden nennen wir dann Zufriedenheit. Das gilt allerdings nur, wenn es sich bei der Dankbarkeit um eine Grundhaltung handelt, die so stabil ist, dass sie fast eine Persönlichkeitseigenschaft ist. Es gibt ja auch flüchtige Dankbarkeitszustände, zum Beispiel wenn mir jemand eine große Freude gemacht hat.

Wenn Dankbarkeit ein Persönlichkeitsmerkmal ist, ist es dann überhaupt möglich, sie zu lernen?

Unsere jüngste Tochter ist zweieinhalb, samstags gehen wir gern mit ihr auf den Markt, immer bekommt sie von den Marktleuten etwas Kleines geschenkt, ein Brötchen oder eine Wurst. Meine Frau und ich haben Paula immer wieder dazu angehalten, sich zu bedanken. Aber das wollte sie oft nicht, also haben wir sie ermahnt: "Du bekommst das Brötchen erst, wenn du danke gesagt hast." Neulich hat sie verkündet: "Ich komme nicht mit zum Markt, ich will nichts geschenkt bekommen!" Warum ich das erzähle? Um zu zeigen, dass Dankbarkeit zwei Komponenten hat - zum einen das reine, freudvolle Entgegennehmen, das kleine Kinder besonders gut können und das vermutlich angeboren ist. Die andere Komponente ist die Fähigkeit, die gute Absicht des Gebers zu erkennen, sich bei ihm mit Worten oder sogar einer Gegengabe zu bedanken. Diese Fähigkeit stellt sich erst zwischen dem vierten Lebensjahr und der Pubertät ein, mit zunehmender kognitiver Entwicklung: Es wird erlernt, durch Erfahrung und Erziehung.

Auch ein eher undankbarer, unzufriedener Mensch hat also die Chance, ein zufriedenes Leben zu führen? 

Viele Menschen mit unzufriedener Grundhaltung haben als Kind erlebt, dass ihre Grundbedürfnisse chronisch frustriert wurden. Eine Möglichkeit, Dankbarkeit neu zu empfinden oder zu erlernen, sind Beziehungen, die unsere schlechten Erfahrungen korrigieren - zum Beispiel mit einem sensiblen Partner, aber auch mit einem guten Psychotherapeuten. Dankbarkeit kann jedoch genauso als reines Verhalten gelernt werden, einfach indem man es praktiziert, ohne dass man zunächst die dazu passenden Empfindungen oder Neigungen verspürt. Über das Praktizieren stellt sich irgendwann das Wohlbefinden ein. Darauf baut unser Dankbarkeitstrainingsprogramm auf.

Was sind das für Übungen? 

Eine klassische Technik heißt "Counting Blessings", "Segnungen zählen". Sie besteht darin, jeden Abend fünf Dinge aufzuschreiben, für die man dankbar ist. Andere Übungen leiten an, Dankbarkeit auch tatsächlich auszudrücken, zum Beispiel in Form eines Dankesbriefes.

Religionen kennen viele ritualisierte Formen der Dankbarkeit, im Christentum zum Beispiel das Tischgebet oder Erntedankfest. Haben die säkularisierten Gesellschaften mit dem Glauben die Übung darin verloren, dankbar zu sein? 

Ich würde es so ausdrücken: Dankbarkeit erinnert uns daran, dass wir auf die Unterstützung durch Mitmenschen oder auch auf den Schutz durch Gott oder eine höhere Macht angewiesen sind. Dieses Wissen um die Verletzlichkeit und Abhängigkeit des Einzelnen - und damit um die Bedeutung von Dankbarkeit - ist in einer von Individualisierung, Wohlstand und Weltlichkeit geprägten Gesellschaft wie der unseren nicht gerade sehr populär. Manchmal kehrt es erst in unser Bewusstsein zurück, wenn wir die Erfahrung machen, dass Dinge wie Gesundheit oder materielle Sicherheit keine Selbstverständlichkeiten sind. Dann kann sogar aus überwundenen Krisen und Schicksalsschlägen neue Dankbarkeit und Zufriedenheit entstehen.

Nimmt die Fähigkeit, dankbar zu sein, im Laufe des Lebens zu? 

Dazu ist mir keine Studie bekannt. Eine Untersuchung hat jedoch den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Dankbarkeit erforscht: Frauen empfinden mehr Dankbarkeit als Männer, die dieses Gefühl kritischer beurteilen und hinsichtlich ihres seelischen und zwischenmenschlichen Wohlbefindens auch weniger davon profitieren. Frauen haben also einen deutlich leichteren Zugang zur Dankbarkeit und ihren positiven Auswirkungen als Männer ...

...weil das weibliche Rollenklischee es Frauen einfacher macht, ihre Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu akzeptieren? Männer sehen sich ja lieber als stark und unabhängig. 

Ich würde nicht von Rollenklischees sprechen, sondern von Rollenverhalten: Während Frauen einen Großteil ihres Wohlbefindens aus der Verbundenheit mit anderen Menschen schöpfen, gilt für viele Männer immer noch die Leistung, der berufliche Erfolg als Hauptquelle für Zufriedenheit. US-amerikanische Männer beurteilen die Dankbarkeit übrigens kritischer als deutsche Männer. Wahrscheinlich weil das uramerikanischen Konzept vom Selfmademan noch schlechter als das deutsche Männer-Ideal zusammenpasst mit der Einsicht, bedürftig oder abhängig zu sein.

Manchmal aber gibt es tatsächlich wenig Anlass für Dankbarkeit: Wie schafft man es, dankbar zu sein, wenn man gerade einsam, krank oder aus anderen Gründen unglücklich ist? 

Weshalb sollte man es in einer solchen Situation schaffen müssen, dankbar zu sein? Wenn man Anlass hat, traurig, enttäuscht oder ärgerlich zu sein, dann sollte man sich nicht zwingen, das mit Dankbarkeit zu übertünchen. Das wäre ja nur eine weitere Belastung. Nein, alles hat seine Zeit: die Dankbarkeit, aber auch das Klagen und der Ärger.

Dankbarkeitstraining: Machen Sie mit!

Gemeinsam mit Dr. Dirk Lehr von der Leuphana Universität Lüneburg hat Henning Freund, Professor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg, ein ca. vierwöchiges Online-Dankbarkeitstraining entwickelt. Es richtet sich an Menschen, die zu Grübeleien und vielen Sorgen neigen und etwas dagegen unternehmen wollen. Der tägliche Zeitaufwand beträgt ca. 15 Minuten, hinzu kommt eine etwas längere Übung pro Woche. Sie brauchen Zugang zum Internet und ein eigenes Smartphone, um die "Dankbarkeits-App" nutzen zu können, die zentraler Baustein des Trainings ist. Das Training ist Teil einer wissenschaftlichen Studie: Die Teilnahme ist kostenfrei, dafür müssen Sie bereit sein, vor und nach dem Training in Form eines Online-Fragebogens Auskunft zu Ihrer Gesundheit und Lebensqualität zu geben. Infos und Anmeldung unter www.geton-training.de/dankbarkeit.php.

Interview: Julia Karnick

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