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"Leben muss weh tun!"

Nutzen Sie Ihre Chancen? Je mehr Zeit vergeht, desto häufiger stellen sich diese Fragen. Der Philosoph Peter Bieri, bekannt als Buch-Autor Pascal Mercier, weiß, was es heißt, seine Träume immer wieder aufzuschieben.

Der Mann, mit dem wir verabredet sind, trägt zwei Namen und führt zwei Leben. Peter Bieri, Professor für Philosophie in Berlin, ist zugleich der international bekannte Autor Pascal Mercier. In Merciers Büchern geht es um Menschen, die aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen werden - meist durch Ereignisse oder Erkenntnisse, die mit einem Schlag alles verändern. Der Philosoph Bieri wiederum hat ein Buch geschrieben über "Das Handwerk der Freiheit": Warum wir leben, wie wir leben und was wir wirklich wollen von dem, was wir tun. Wir besuchen Peter Bieri zu Hause in Berlin-Lichtenrade. Eine abgelegene gepflasterte Seitenstraße, dann, hinter der niedrigen Gartenpforte, ein schmaler Weg, der in einen Garten mit hohen Bäumen führt. Von der Stadt ist hier nur ein stetiges Rauschen zu hören. Ein Eichhörnchen läuft über dünne Äste durch eine Baumkrone, irgendwo im Grün quaken Frösche.

Nutzen wir unsere Chancen?

BRIGITTE WOMAN: Herr Professor Bieri, wie können wir herausfinden, ob wir so leben, wie es zu uns passt?

PETER BIERI: Wir merken, wenn etwas in unserem Leben nicht oder nicht mehr zu uns passt. Wir haben ein feines Gespür dafür, was uns entspricht und was nicht. Darüber hinaus sehen wir, was uns gelingt und was nicht, und daraus können wir unsere Schlüsse ziehen.

BRIGITTE WOMAN: Das müsste uns ja helfen, das Richtige zu tun.

PETER BIERI: Dass wir dieses Gespür haben, heißt nicht, dass wir uns danach richten. Oft tun wir das nicht - und finden uns irgendwann in einem Zustand wieder, in dem wir das Gefühl haben: Ich lebe ja gar nicht, ich werde gelebt.

BRIGITTE WOMAN: "Gelebt werden", das klingt wirklich traurig. Warum sind wir so passiv?

PETER BIERI: Vielleicht, weil wir schon in der Kindheit erfahren, dass anderes als wichtiger gilt als unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume. Wir wachsen auf mit den Worten: Du musst...

BRIGITTE WOMAN: ...in die Schule gehen zum Beispiel. Müssen wir das nicht, können wir immer tun, was wir gerade wollen?

PETER BIERI: Natürlich nicht. Aber das Gefühl, "gelebt zu werden", entsteht, weil wir zu oft tun, was andere sagen oder was von der Gesellschaft erwünscht ist. Ohne auf unser eigenes Gefühl zu hören, das uns vielleicht etwas ganz anderes sagt.

BRIGITTE WOMAN: Kinder sind da spontaner...

PETER BIERI: ...bis wir es ihnen abgewöhnen. Kinder werden in Lebenswege hineingeschoben - und später lassen die meisten das weiter mit sich machen, ohne dass es ihnen recht bewusst wird.

BRIGITTE WOMAN: Etwa bei der Berufswahl.

PETER BIERI: Da geht es oft einfach nach dem Arbeitsmarkt, dem Angebot an Ausbildungsplätzen, den Wünschen der Eltern - die eigenen Neigungen spielen eine zu geringe Rolle. Dann verwundert es nicht, wenn man später bei der Arbeit unglücklich ist.

BRIGITTE WOMAN: Unsere Freunde suchen wir uns aber selbst aus.

PETER BIERI: In den persönlichen Beziehungen sind die Entscheidungen in gewissem Sinn freier. Aber wir treffen sie manchmal mit zu geringer Übersicht, ziehen zum Beispiel mit einem Partner zusammen, ohne zu überblicken, was das für unsere Zukunft bedeutet.

BRIGITTE WOMAN: Weil es uns an der nötigen Lebenserfahrung fehlt?

PETER BIERI: Vor allem fehlt es uns an Erfahrung mit uns selbst. Sich selbst verstehen, sich mit sich selbst auskennen, bei sich selbst sein - darauf käme es an. Also auf das, was in der Philosophie Selbsterkenntnis genannt wird.

BRIGITTE WOMAN: Aber entsteht nicht eine egoistische Gesellschaft, wenn jeder ständig mit sich selbst beschäftigt ist?

PETER BIERI: Eine egoistische Gesellschaft - die haben wir jetzt. Man muss ein Winner sein und sich um jeden Preis durchsetzen, um geschätzt zu werden. Solche Menschen denken tatsächlich nur an sich, aber das hat mit Selbsterkenntnis nichts zu tun. Und es geht auch gar nicht darum, ständig in sein Inneres zu schauen.

BRIGITTE WOMAN: Sondern?

PETER BIERI: Wir brauchen, abgesehen von unserer eigenen Wahrnehmung, auch das Urteil von Menschen, die uns nahestehen. Ihr Blick kann uns helfen, uns besser zu kennen und zu verstehen.

BRIGITTE WOMAN: Vorausgesetzt, sie meinen es gut und sind ehrlich.

PETER BIERI: In einer Kultur, einer Gesellschaft, wie ich sie mir wünsche, wäre das der Fall.

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BRIGITTE WOMAN: Und wie würde diese Gesellschaft aussehen?

PETER BIERI: Die Menschen würden schon in der Kindheit lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen und so zu artikulieren, dass andere sie auch verstehen. Es wäre für alle selbstverständlich, einander wirklich zuzuhören - statt lediglich auf die nächste Gelegenheit zu warten, selbst wieder zu reden.

BRIGITTE WOMAN: So weit das Ideal, die Realität ist anders. Haben wir die falschen Werte?

PETER BIERI: Ich möchte keine päpstliche Kulturkritik üben. Aber ich wünschte, wir würden andere Prioritäten setzen. Mir hat das gesellschaftliche Leben zu viel mit Fassade, mit Hochglanz und mit Wichtigtuerei zu tun. Ich wünschte mir eine Kultur der Stille, in der es mehr darum ginge, das Leben von innen heraus zu leben.

BRIGITTE WOMAN: Manche steigen einfach aus, lassen ihre Sicherheit und die Karriere sausen.

PETER BIERI: Solche Ausbrüche sind oft schiere Verzweiflungstaten. Bei diesen Menschen hat sich über Jahre so viel angestaut an ungelebten Wünschen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Es kommt sozusagen zur Explosion.

BRIGITTE WOMAN: Müssen wir denn wirklich alle ein Maximum an Lebenssinn schaffen? Oder genügen vielleicht auch Zufriedenheit und das kleine Glück im Alltag?

PETER BIERI: Ein Leben kann auch ohne spektakuläre Ereignisse, Wendungen und Brüche glücklich sein. Und wir können auch ohne radikale Veränderungen den Alltag immer wieder durchbrechen.

BRIGITTE WOMAN: Was sind die geeigneten Schauplätze für solche kleinen Fluchten? Karneval, Fußball-Weltmeisterschaften oder wenn in einem Zoo ein kleiner Eisbär mit der Flasche aufgezogen wird und Tausende zusehen?

PETER BIERI: Wichtig ist, dass die Leute bei diesen Gelegenheiten etwas tun, was sie sonst nicht tun. Etwas Spielerisches, etwas Individuelles, auch wenn sie dabei mit vielen anderen zusammen sind. Sie sagen: Zum Teufel mit allen Anforderungen, ich will mir jetzt den kleinen Eisbären anschauen oder das Fußballspiel oder zum Karneval gehen. Das ist im Ansatz schon eine Aussage wie: Ich entscheide jetzt allein, was mir Spaß macht, was ich tun will - und kann ein erster Schritt sein zum Glück.

BRIGITTE WOMAN: Was brauchen wir denn sonst noch dafür?

PETER BIERI: Unseren persönlichen Karneval von Zeit zu Zeit. Die gemeinsamen Feste und Massenereignisse unterbrechen den Alltag aller Menschen, bringen Dinge an die Oberfläche, die sonst unterdrückt werden, es sind Anlässe für Lebensfreude und Ausgelassenheit. Das reicht aber nicht, wir brauchen auch eigene Rituale, die wir auf unsere Art feiern. Auszeiten mitten im Alltag.

BRIGITTE WOMAN: Auszeiten mitten im Alltag. Welche zum Beispiel?

PETER BIERI: Denken Sie an Menschen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten, etwa in einem Großraumbüro, wo ständig das Telefon klingelt und jeden Moment jemand reinkommt, der sofort etwas will. Selbst an solchen Orten schaffen manche sich ihre Inseln der Individualität. Richten sich den Schreibtisch ein, wie sie es möchten. Oder sagen, wenn wieder jemand Druck macht: "Jetzt nicht - in fünf Minuten." Und gehen dann hinaus, nicht, weil sie dort etwas zu tun haben, sondern weil sie einmal durchatmen wollen, vielleicht einen Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen...

BRIGITTE WOMAN: ...sich die Oberhoheit über ihr Leben zurückholen wollen, wenigstens für die nächsten fünf Minuten?

PETER BIERI: Solche Fünf-Minuten-Pausen können ein Anfang sein. Ein winziger, aber durchaus wichtiger Widerstand gegen die Routine, gegen das Gefühl, gelebt zu werden, statt zu leben. Wenn ich deswegen auf dem Einwohnermeldeamt länger warten muss, ärgere ich mich zunächst, aber aus nachdenklichem Abstand heraus finde ich diese Haltung richtig.

BRIGITTE WOMAN: "Hätte ich doch bloß. . . ", denken wir manchmal oder auch "Hätte ich doch bloß nicht . . . ". Was können wir uns ersparen im Leben?

PETER BIERI: Wir können uns manches ersparen, wenn wir uns selbst gut kennen - wenn wir wissen, wie wir auf bestimmte Menschen und Erlebnisse reagieren. Wir können dann zum Beispiel vermeiden, immer wieder in ähnliche Situationen zu geraten, die uns unglücklich machen und aus denen wir uns dann wieder befreien müssen. Aber wir können dem Leben nicht ausweichen, es muss uns manchmal auch weh tun.

BRIGITTE WOMAN: Manche Umwege und Fehler, die wir später bitter bereuen, gehören also dazu.

PETER BIERI: Sie sind ein Teil der Selbsterkenntnis, über die wir vorhin gesprochen haben. Wir lernen uns nur richtig kennen, wenn wir auch mal etwas falsch machen...

BRIGITTE WOMAN: ...oder anders leben, als es eigentlich zu uns passt.

PETER BIERI: Das tun wir zum Glück nicht ständig. Den meisten gelingt es ja, sich bestimmte Wünsche zu erfüllen. Aber es gibt immer Wünsche, die unerfüllt bleiben, Seiten von uns, die wir nicht leben.

BRIGITTE WOMAN: So wie Sie über lange Zeit die Seite des Geschichtenerzählers, des Schriftstellers nicht gelebt haben.

PETER BIERI: Ich habe mich jahrelang auf mein Fach konzentriert, sehr viel dafür gearbeitet und tue das bis heute, weil ich gern Wissenschaftler bin. Doch als ich Mitte 40 war, hatte ich zunehmend das Gefühl: Ich lebe nur eine Seite von mir, das ist doch noch nicht alles.

BRIGITTE WOMAN: Deshalb haben Sie sich für ein Semester beurlauben lassen, um Ihren ersten Roman zu schreiben.

PETER BIERI: Es war ein Glück für mich, dass das in meinem Beruf relativ einfach zu machen ist. Dass ich für ein paar Monate ans Mittelmeer gehen und in Ruhe ausprobieren konnte, wie es wäre, eine Geschichte zu schreiben.

BRIGITTE WOMAN: Ein anderes Leben zu leben.

PETER BIERI: Ich habe versucht, zwei Identitäten, die mir beide wichtig sind, ineinanderzuschieben.

BRIGITTE WOMAN: Ist es Ihnen gelungen?

PETER BIERI: Ja, und es war eine Befreiung. Ich habe fast körperlich gespürt, wie mein Leben eine weitere Dimension hinzugewann.

BRIGITTE WOMAN: Warum haben Sie denn erst nach Ihrem zweiten Roman preisgegeben, wer sich hinter dem Pseudonym Pascal Mercier verbirgt?

PETER BIERI: Unter anderem, weil ich die Reaktionen fürchtete, die unweigerlich kommen, wenn ein Professor anfängt, Romane zu schreiben. In den deutschsprachigen Ländern - anders als in den romanischen und angelsächsischen - gilt das als unseriös und anrüchig. Auch wusste ich nicht, ob ich überhaupt literarisch schreiben kann. Deshalb habe ich mich damit erst herausgetraut, als ich meiner selbst etwas sicherer war.

BRIGITTE WOMAN: Manche würden vielleicht auch gern noch einmal ihre Neigungen und Fähigkeiten ausloten oder sich aus einem ungeliebten Routine-Job befreien, müssen sich aber fragen: Und wovon soll ich das bezahlen?

PETER BIERI: Vieles wird natürlich leichter, wenn man sich um das Finanzielle keine Sorgen machen muss, nicht wegen Geld erpressbar ist. Das ist aber keine unbedingt notwendige Voraussetzung, um sein Leben authentisch zu leben und innerlich frei zu sein. Ich kenne Menschen, die mir da weit voraus sind, obwohl sie nur sehr wenig Geld zu Verfügung haben.

BRIGITTE WOMAN: Was ist das Besondere an solchen Menschen?

PETER BIERI: Sie kennen sich selbst gut und wissen, was sie wert sind. Sie haben den Mut, sich abzugrenzen und auch einmal gegen den Strom zu schwimmen. Damit machen sie es sich manchmal schwer, weil wir das Wohlwollen und die Anerkennung anderer ja auch brauchen. Trotzdem sind sie zu beneiden, finde ich. Innere Freiheit ist eine Art von Glück.

BRIGITTE WOMAN: Wir tun ja heute vieles im Leben, um glücklich zu werden. Wenn wir es dann einmal sind, wird uns das überhaupt bewusst? Wissen wir es zu schätzen?

PETER BIERI: Das kann ich nur aus meiner eigenen Erfahrung beantworten. Ich komme da eigentlich immer zu spät. Wenn mir glückliche Momente gelingen, merke ich es oft erst im Nachhinein: etwa, wie ich aufgegangen bin in einer Landschaft, in einer Beziehung, in einem Buch. Wie ich mich selbst vergessen habe, ganz in diesem Moment verloren und gleichzeitig ganz bei mir selbst war.

BRIGITTE WOMAN: Geht es nicht den meisten Menschen so?

PETER BIERI: Das kann sein, ich weiß es nicht. Es gehört vielleicht einfach zu dieser Art von Selbstvergessenheit, dass kein Platz bleibt für das Nachdenken und nicht einmal für das Bemerken. Deshalb erkennen wir oft erst, wenn wir zurückblicken: Damals, in jenem Moment, da war ich glücklich.

Zur Person

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Der Schweizer Peter Bieri war nach seinem Studium der Philosophie und klassischen Philologie u. a. Universitätsdozent in Heidelberg, Bielefeld und Marburg. Sein Sachbuch "Das Handwerk der Freiheit" (2001) gilt als verständliches philosophisches Standardwerk. 1995 erschien im Albrecht-Knaus-Verlag sein erster Roman "Perlmanns Schweigen" unter dem Pseudonym Pascal Mercier, das er als Schriftsteller trägt. Der Roman "Nachtzug nach Lissabon" (2004) wurde ein Welterfolg, 2007 ist "Lea" erschienen (256 S., 19,90 Euro, Hanser). Die früheren Bücher von Peter Bieri/Pascal Mercier sind auch als Taschenbuch-Ausgaben (btb und Fischer) erhältlich. Als Professor ist der 63-Jährige 2007 vorzeitig in den Ruhestand gegangen - ein Abschied mit Kritik an dem Lauf, den die Dinge an der Universität nehmen. Peter Bieri ist verheiratet mit der Kunstmalerin Heike Bieri-Quentin. Das Paar lebt in Berlin.

Interview: Silja Ukena, Christine Tsolodimos Fotos: Manuel Krug

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