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Wie viele Kompromisse vertragen langjährige Beziehungen?

Alles schleift sich ein, alles schleift sich ab. Wie überlebt man in langjährigen Beziehungen, ohne sich auf Dauer zu verbiegen?

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War es nach knapp drei Jahren Beziehung immer noch die Aufregung der ersten Verliebtheit? Die 41-jährige Susanne M. (Name von der Redaktion geändert) wusste selbst nicht, warum ihr jedes Mal das Herz klopfte, wenn sie ihren Freund Rolf anrief. Oder war es die Panik, es könne in der Zwischenzeit etwas passiert sein, ein Unfall, eine andere Frau? Nein, tief in sich hineinhorchend, wusste Susanne M. ganz genau, was es war. Es war die Angst vor seiner Reaktion. "Ich ertrage keine Frauen, die dauernd hinter mir hertelefonieren", hatte Rolf Dressler, der ein paar Jahre jünger war als sie, gleich beim ersten Frühstück gesagt,

"Liebe braucht Luft und keine Leine!" Susanne M. erinnert sich noch gut an diesen Vormittag. An ihre Wohligkeit nach einer Nacht voller Leidenschaft, an sein selbst gemachtes Porridge mit frischen Früchten, an ihre selige Ungläubigkeit, mit Ende 30 noch einen Mann getroffen zu haben, der so perfekt zu ihr passte - kultiviert, reiselustig, ein guter Koch. Sein Liebe-Luft-Leine-Satz war deshalb einfach an ihr abgeperlt. Nach einem zärtlichen Abschiedskuss hörte sie nichts von ihm. Eine qualvolle Woche lang, dann hielt sie es schließlich doch nicht mehr aus und rief ihn an. Er war in Barcelona und freute sich über ihren Anruf. "Wann sehen wir uns wieder?", fragte sie. "Ich melde mich", erwiderte er.

Ein Muster begann, das sich von da an leid-motivisch - für sie, nicht für ihn - durch ihre Liebe flocht. Denn Liebe wurde es, auf beiden Seiten. Auch wenn er auf getrennten Wohnungen bestand und sehr viel mehr Freiraum brauchte als sie. Und sie ihr Nähebedürfnis und ihre Anrufe drastisch drosseln musste, damit er sich emotional nicht eingeengt fühlte. Aber wenn sie sich daran hielt, war alles wunderbar. "Wir lachen, reisen, kochen zusammen, und auch im Bett ist es toll", sagt Susanne, "also schlucke ich die Kröte.

"Viele Frauen schlucken "Kröten", große und kleine, wenn es um die Liebe geht. Das Herz, Woody Allen hat es bereits festgestellt, ist ein "sehr dehnbarer, widerstandsfähiger kleiner Muskel". Wenn die Liebe wichtig ist, wird das, was vorher wichtig war, auf einmal unwichtig. Also verkneifen sich Frauen wie Susanne M. Wünsche nach Nähe. Ziehen als eingefleischte Stadtmenschen aufs Land, geben als Genussraucher das Rauchen auf, werden Vegetarierinnen, obwohl sie von Zeit zu Zeit gern ein saftiges Steak essen, unterdrücken Angst und Eifersuchtsgefühle, wenn wieder einmal eine unbekannte Frau angerufen und sofort wieder aufgelegt hat.

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Wahre Liebe, so verlangt der Mythos, gespeist aus Büchern, Opern und Filmen, bedeutet Bedingungslosigkeit und Ausschließlichkeit. Liebe, so steht es schon im Korintherbrief, verträgt, glaubt, hofft und duldet alles. Aber genau das könnte ein ganz großer, völlig wirklichkeitsfremder Irrtum sein. Riesengroß und überwältigend ist unser Anspruch an die Liebe, aber das, was wir dann leben, ist deutlich kleiner. Alltag eben. Gewöhnung. Anpassung. Kompromiss. "Der Liebesmythos verlangt die totale Symbiose, vollständiges Erkannt-, Gesehen-, Angenommenwerden, totale Offenheit", sagt der Hamburger Psychologe Oskar Holzberg, "aber nach dem Anfangsrausch müssen sich Räume öffnen, muss man Abstand vom Mythos nehmen, sonst wird die Liebe klaustrophobisch."

Wie viele Kröten darf man in langjährigen Beziehungen schlucken?

Liebe, wenn sie unbedingt und rauschhaft bleibt, geht über ihre Grenzen, ist auf Dauer nicht auszuhalten, zerstört. Liz Taylor und Richard Burton hatten so eine kompromisslose Liebe, die sie in ihrem besten gemeinsamen Film "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" Oscar-gekrönt auslebten.

Sie waren sich gegenseitig der Mensch, der alles bedeutet, alles berührt, alles weiß, trotzdem konnten sie es, trotz zweier Eheversuche, nicht miteinander aushalten. Es ging nicht mit-, aber auch nicht ohne einander. Simone de Beauvoir dagegen hielt ihn aus, den Spagat zwischen Liebe und Freiheit, Bindung und Unabhängigkeit, Treue und Autonomie. Getrennte Wohnungen, keine Monogamie, lange im Schatten des großen Sartre, de Beauvoir litt darunter, immer nur als große "Sartreuse" zu gelten und lange nicht als "große Beauvoir". Doch sie schluckte alle Kröten.

Die totale Deckungsgleichheit gibt es nicht. In der Anfangszeit, wenn uns die Endorphine aufs Angenehmste den Verstand vernebeln, stört gar nichts. Kein Schnarchen, keine Unordnung, keine Angeberei oder seine Angewohnheit, uns permanent ins Wort zu fallen. Eine neue Beziehung ist wie ein frisch geknüpfter Teppich, alles ist fest und farbenprächtig, alles ist stabil. Doch mit jedem Kompromiss wird sie ein wenig brüchiger. Was hält sie aus, bevor der Teppich fadenscheinig wird? Liebe kann eine Mogelpackung sein, die Verpackung kann täuschen. Heikle Dinge fallen einem meist erst dann auf, wenn aus Verliebtheit Vertrauen und Gewohnheit geworden ist, wenn man gefühlsmäßig bereits am Haken hängt.

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Das hat die 36-jährige Sabine Meiners erlebt, als sie einen erfolgreichen Unternehmer kennen lernte. Groß, attraktiv, sportlich. Sabine Meiners war bis über beide Ohren verliebt. "Die rosarote Brillenphase" nennt sie es, "aber dann fiel mir auf, dass mein Traummann ein kleines Dativproblem hat, dass er z. B. ,wegen meinem Bruder' statt ,wegen meines Bruders' sagt. Außerdem hat er einmal mir und mich verwechselt. Nur einziges Mal, aber es reichte, denn ich bin Sprachfanatikerin, rege mich über jeden Sprachschnitzer im Fernsehen auf".

Es war seine einzige Schwachstelle, aber eine, die Sabine Meiners plötzlich so sehr störte, dass sie eine Trennung erwog. Wie konnte sie auf Dauer mit einem Mann glücklich sein, der die deutsche Grammatik nicht perfekt beherrschte? Doch dann wurde sie schwanger. Und sie gewöhnte sich daran und korrigierte es sanft, dieses Dativproblem eines Mannes, der ja nicht nur Grammatikschnitzer machte, sondern vor allem ein fantastischer Vater war.

Nobody is perfect

Wer Perfektion verlangt, bleibt oft allein. Aber wer sich zu sehr verleugnet, gibt sich auf. Das uralte Dilemma - wo hört Toleranz auf, wo fängt Selbstverleugnung an? Verliere ich mich irgendwann selbst, wenn ich zu viele Kompromisse eingehe? Ein delikater Balanceakt. "Viele Frauen, die keinen Mann haben, sind nie über den Liebesmythos hinweggekommen", sagt Oskar Holzberg, "wer zu lange anspruchsvoll bleibt und eine übertriebene Erwartung an Mr. Right hat, der bleibt oft allein." Fatal auch, meint Holzberg, "diese frauentypischen Wenn-dann-Sätze": Wenn er mich liebt, dann würde er wissen, was ich brauche, wie ich mich fühle, wonach ich mich sehne... Männer tun ja bestimmte Dinge nicht deshalb nicht, weil sie nicht oder nicht genug lieben, sondern weil sie eben so sind, wie sie sind.

Wann begreifen Frauen endlich, dass sich Männer genauso wenig ändern wie sie selbst? Wann hören sie auf, einen George Clooney zu erwarten, wenn sie selbst doch auch keine Julia Roberts sind?

Jede Beziehung ist eine Gemengelage von Bedürfnissen, die sich ständig ändern. Die Phase der Ausschließlichkeit hört jedoch spätestens mit dem ersten Kind auf, dann ist kein Raum mehr für Verschmelzung, sondern für Verantwortung. Wenn das Berufsleben gerade spannend ist, braucht man keine zusätzliche Spannung und Aufregung vom Partner, kann im Gegenteil etwas davon abgeben. Aber wenn man den Job verloren hat oder das Leben gerade garstig ist, werden Nähe und Verlässlichkeit gewünscht.

Und wenn das Haus gebaut ist und die Kinder groß sind, steigt das Verlangen nach Aufregung und Prickel wieder. Einmal noch Hawaii, bevor Langstrecke wegen der Thrombosegefahr nicht mehr infrage kommt! Doch wenn der Partner lieber im Garten pusselt, weil er als beruflicher Vielflieger den Globus bereits zigmal umrundet hat? Oder einfach keine Lust mehr auf Fernziele hat? Lebenskraft und Lebenslust nehmen bei Paaren nicht gleichzeitig ab, oft ist es die Frau, die den Jahren noch mehr Leben geben möchte als ihr Mann. "Da gilt es dann, nicht zu resignieren, sondern einen sinnvollen Kompromiss zu finden", rät Oskar Holzberg, "eine Städtereise wäre denkbar oder ein Kurzflug auf eine Mittelmeerinsel."

Mythos und Wirklichkeit trennen

Liebe ist kein 100-Meter-Lauf, Liebe ist Hürdenlauf und Langstrecke. Keiner kann immer glänzen, keiner seinen Partner immer glücklich machen, alles schleift sich ein, alles schleift sich ab. Jede Frau muss für sich selbst entscheiden, wie weit sie sich von ihrem Ideal entfernen will. Was ist sinnvoll, und wo verleugne ich mich? Doch es gibt auch Bedürfnisse, die nicht verhandelbar, Lebenswünsche, die lebenswichtig sind. Einer davon ist der Wunsch nach einem Kind.

Gerrit Hehler-Hönig, 37, wünschte sich glühend eins, der gleichaltrige Krankenpfleger Philipp Gross, den sie vor 15 Jahren kennen lernte, schien der perfekte Vater. Doch der liebte Freiheit und Unabhängigkeit mehr als die Vorstellung, nachts ein schreiendes Baby zu füttern. Also vertröstete er sie, immer wieder, jahrelang. "Wenn wir eine Weltreise gemacht haben. Wenn die Eigentumswohnung abbezahlt ist. Wenn ich meine Fortbildung abgeschlossen habe."

Einmal pikste sie vor lauter Verzweiflung sogar ein Loch in sein Kondom. Als sie es nicht mehr aushielt, suchte sie eine Psychologin auf. Die riet ihr, sich endlich zu ihrem Lebenswunsch zu bekennen und in riesengroßen Buchstaben "ICH WILL EIN KIND" an die Schlafzimmerwand zu sprühen. Das tat Gerrit, jetzt ist sie schwanger. Was Frauen oft im Wege steht, um sich in einer Beziehung klar zu ihren Wünschen zu bekennen und faire Kompromisse auszuhandeln, ist nicht nur Harmoniebedürfnis, sondern emotionaler Hunger.

Wer in der Liebe nie satt wurde, trägt schmerzliche Gefühle von Anspruch und Versagensangst mit sich herum. Bin ich beziehungsfähig? Erwarte ich zu viel oder zu wenig? Werde ich je bekommen, was ich verdiene? Bin ich gut genug, um Ansprüche zu stellen? Doch wie erkenne ich, wann der Spatz in der Hand eben nicht besser ist als die Taube auf dem Dach, sondern einfach zu klein? "Unser Bauch meldet sich, aber wir hören oft nicht auf ihn", sagt Holzberg, "wir verdrängen seine Signale, bis wir es nicht mehr aushalten können."

Die 39-jährige Journalistin gab ihrem Mann Thomas zuliebe nach der Geburt ihrer zweiten Tochter ihre feste Anstellung auf und schrieb nur noch gelegentlich eine Kolumne. Fünf Jahre hielt sie diese Berufsabstinenz aus, fünf Jahre, in denen ihre Kinder und ihr großer Garten wuchsen und gediehen, während sie selbst das Gefühl hatte, zu verdorren. Ihr fehlten der Beruf, die Redaktion, der Trubel, ihr altes Leben. Als ihre Bauchschmerzen schließlich unerträglich wurden, wusste sie, dass es so nicht weitergehen konnte. "Ich musste etwas für mich tun", sagt Marlies Hohmann, "also rief ich meinen alten Chef an und engagierte eine Kinderfrau. Thomas war total dagegen, aber zum ersten Mal setzte ich mich durch. Das hat unsere Ehe gerettet."

Wenn also der Bauch grummelt, weil sich etwas in der Partnerschaft verkehrt anfühlt, dann stellt er uns Fragen. Was halte ich aus? Was ist mir wichtig? Wo ist meine Obergrenze? Worauf kann ich verzichten und worauf nicht? Bin ich jemand, der aufgibt und hinschmeißt? Ist mein Leben voller abgebrochener Geschichten, oder halte ich zu lange durch und verleugne mich? Das ist unsere Entscheidung - werfe ich bei schlechten Karten das Spiel hin, oder spiele ich mit Luschen weiter, bis ich alles verloren habe?

Susanne M. hat inzwischen die Beziehung zu Rolf Dressler beendet. Nach einem Anruf aus der Notaufnahme, in die sie mit einem Blinddarmdurchbruch eingeliefert worden war. "Ich guck gerade Fußball", hatte er gesagt, "kannst du mich später anrufen?" Diese Kröte war einfach zu groß.

Text: Evelyn Holst Illustrationen: Inga Dorofeeva Credit: Hodge/istockphoto

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