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Auf einer Wellenlänge: Die Schwimmerin Kirsten Bruhn und ihr Trainer Phillip Semechin

Auf einer Wellenlänge: Die Schwimmerin Kirsten Bruhn und ihr Trainer Phillip Semechin
© Manuel Krug
Kirsten Bruhn ist Olympiasiegerin, schwimmt Weltrekorde und sitzt im Rollstuhl. Phillip Semechin ist Trainer der deutschen Behinderten-Nationalmannschaft. Seit vier Jahren sind die beiden ein Paar. Wir trafen sie beim Training in Berlin.

Ohne ihre Behinderung wären sie nicht zusammen, sagen beide. Sie hätten sich wahrscheinlich nicht getraut. Zu viel spricht dagegen. Und doch sind Kirsten Bruhn und Phillip Semechin seit vier Jahren ein Paar. Vor Kurzem ist sie deshalb auch aus ihrer norddeutschen Landidylle nach Berlin gezogen - ihm zuliebe, obwohl sie das Stadtleben eigentlich nicht mag. Dafür lässt er sich nicht mehr tätowieren. Ihr zuliebe. "Na ja", sagt die 44-Jährige, und beide grinsen. Kein echter Kompromiss. Egal. Für den 28-Jährigen ist sie jedenfalls die Frau seines Lebens. "Knallerfrau" und "Strahlemann": So nennen sie sich, wenn der andere nicht dabei ist. Altersunterschied, Behinderung - all das sind mittlerweile die Gedanken der anderen, und die interessieren Kirsten Bruhn und Phillip Semechin herzlich wenig.

Ein schwerer Motorradunfall auf Kos vor 22 Jahren hat das Leben von Kirsten Bruhn von Grund auf verändert. Bei einer Tour über die griechische Insel wurden sie und ihr damaliger Freund aus einer Kurve geschleudert. Er kam mit ein paar harmlosen Schrammen davon. Sie konnte nicht mehr aufstehen und musste in ein Krankenhaus nach Deutschland ausgeflogen werden. Kirsten Bruhn bangte und hoffte. "Der Gedanke an Lähmung war kurz da, aber trotzdem weit weg von der Realität." Einige Monate und Operationen später fasste ein Arzt in Kiel in einem einzigen brutalen Satz die ganze Wahrheit zusammen: "Das mit dem Gehen können Sie vergessen, Frau Bruhn."

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Damals dachte die Leistungssportlerin, es sei das Ende. "Ich wollte die Augen schließen und nie mehr aufwachen." Diese Phase hat zehn lange Jahre gedauert. Am Ende war das Schwimmen ihre Rettung, das Wasser ihre Befreiung. Denn im Schwimmbecken spürt sie keine Schmerzen. Dort kann sie sich bewegen wie alle anderen - nur besser. In ihrer Familie schwimmen alle: Vater, Mutter und die vier Geschwister. Kirsten Bruhn ist Anfang 30, als sie sich das Leben zurückerobert hat, Bahn für Bahn, mit unermüdlicher Ausdauer. Bis heute trainiert sie jeden Tag vier bis fünf Stunden. Der Erfolg: bisher drei paralympische Goldmedaillen und 65 Weltrekorde. Kämpfen ist auch Phillip Semechin vertraut. Nichts anderes unterrichtet er. Sport ist eine Chance, das ist sein Mantra. Der athletische Mann aus Görlitz war selbst Hochleistungssportler, Schwimmer, bis Knieprobleme seinen Lebenstraum beendeten. Er hat dann Sport, Politik und Geschichte studiert. Doch seine Visionen, was sich aus der Disziplin "Schwimmen" alles machen lässt, sind geblieben - und er tut viel dafür, dass sie Wirklichkeit werden. Phillip Semechin trainiert die deutsche Behinderten-Nationalmannschaft und analysiert die Technik der Sportler, außerdem fördert er behinderte Kinder und Jugendliche in Berlin, die eigentlich keine Chance haben: "Viele der Kinder leben bei Pflegeeltern oder in Heimen oder haben Eltern, die sich nicht kümmern können."

Sein Lohn ist oft nur ein Lächeln auf dem Gesicht eines seiner Zöglinge. "Phillip hat beim Training eine Engelsgeduld. Sonst eher nicht", verrät Kirsten Bruhn. Während sie erzählt, kommen ab und zu Kinder angelaufen und bitten um ein Autogramm. Hier in der Schwimmhalle ist sie der Star. Das findet er cool. Phillip Semechin könnte glatt als Verwandter des Schauspielers Jürgen Vogel durchgehen: viele schiefe Zähne, nahezu abrasierte Haare und höchst lebendige Augen. Egal, wo man den beiden begegnet, sie scheinen fast immer gute Laune zu haben. Ob frühmorgens beim Training, spätabends in einer Bar oder am Nachmittag zum Kaffee, meist hört man schon von Weitem Bruhns ansteckendes Lachen.

Es ist Wettkampftag. Ihre Eltern sind aus ihrem Heimatort Neumünster angereist. Vater Manfred ist ihr persönlicher Trainer, ihre Mutter Heike ihre seelische Stütze. Manfred Bruhn steht am Beckenrand, gibt Anweisungen, stoppt Zeiten, macht Notizen. Vater und Tochter verstehen sich auch ohne Worte. Die Eltern begleiten die Tochter überallhin: Athen, London, Montreal.

Schwimmhallen sind eine eigene Welt. Die Wärme, der Chlorgeruch, jeder kennt das. Was nicht jeder kennt, ist die Atmosphäre in einer Halle, in der behinderte Menschen Wettkämpfe austragen: im Rollstuhl, blind, gehörlos, ohne Arme oder Beine oder beides. Sie liegen auf einer Matte, warten, bis sie ins Wasser gelassen werden. Und genau hier an diesem Ort versteht man, was Kirsten Bruhn meint, wenn sie sagt: "Im Wasser ist die Welt wieder in Ordnung, alles wird auf einmal leicht." Trotzdem wollte sie lange Zeit nicht als Behinderte starten, weil sie fand: "Ich gehöre da nicht zu."

Seit Kirsten Bruhn nach Berlin gezogen ist, kann sie ihre Eltern nicht mehr täglich sehen wie in den vergangenen Jahren. Das ist für alle ungewohnt. Zum ersten Mal lebt die Schwimmerin weit entfernt von der Sicherheit der Familie. "Ulkig mit 44", sagt sie lachend und streicht sich die blonden Haare aus dem Gesicht. "Nach dem Unfall war ich extrem abhängig, das war und ist für mich das Schlimmste, dieses Angewiesensein auf die Hilfe der anderen." Inzwischen fährt sie Auto, lädt ihren Rolli selbst in den Kofferraum und geht an Stützen zum Fahrersitz. Sie kauft allein ein. Nach Dingen, die außerhalb ihrer Reichweite im Regal liegen, greift sie gar nicht erst. Auf Mitleid hat sie keine Lust.

rennt an Wettkampftagen immer am Beckenrand entlang, man kann ihm kaum folgen, hier ein Trostwort, da ein Machtwort, Gespräche mit Familienmitgliedern. Berater, Trainer, Seelsorger - er ist im Grunde alles. Und deshalb auch permanent unterwegs. Es ist schwierig, einen Termin mit beiden zu finden: Er arbeitet fast rund um die Uhr mit seinen Sportlern und für sie. Sie hat eigentlich einen Bürojob, Versicherungsangestellte, hält Motivationsvorträge in Unternehmen, in Kliniken, unter anderem auch über die Notwendigkeit einer Unfallversicherung.

Auf Mitleid hat Kirsten Bruhn keine Lust. Das Wasser ist für sie wie eine Befreiung, dort spürt sie keine Schmerzen.
Auf Mitleid hat Kirsten Bruhn keine Lust. Das Wasser ist für sie wie eine Befreiung, dort spürt sie keine Schmerzen.
© Manuel Krug

Inzwischen sitzen wir in einem Café in der Nähe der Schwimmhalle. Kirsten Bruhn bestellt ihren zweiten Latte macchiato. Er trinkt Cola und isst Kuchen. Den verkneift sie sich. Sie hat Größe 36 und findet sich zu dick. Er findet, dass sie, was das angeht, einen Knall hat. Er zückt das Handy und zeigt stolz seine Freundin im engen schwarzen Abendkleid mit Overknee-Stiefeln. "Highheels gehen nicht mehr", sagt sie knapp.

Es war keine Liebe auf den ersten Blick. "Kirsten war eine von vielen in der Nationalmannschaft. Ich sitze meist am Monitor und schaue mir Abläufe an, dann sage ich den Sportlern, was sie tun müssen, um besser zu werden." Von ihm konnte sie das gut annehmen, weil er so geduldig erklärt.

Sie kannten sich schon zwei Jahre, als sie das erste Mal zusammen essen gingen. Was ihm gleich an ihr aufgefallen ist: "Kirsten rollt wie ein Glückskind durch die Gegend. Egal, wie anstrengend alles ist, das lässt sie andere nie spüren." Pause, frecher Seitenblick. "Außerdem, wenn man sich gleich in Badekleidung kennen lernt... Sie hat eine Superfigur, schöne Haut, blonde Haare, blaue Augen." Noch Fragen? Und sie fand ihn "unheimlich sympathisch und einfühlsam. Er kann sich auf jeden Athleten mit seiner jeweiligen Behinderung einstellen, hat immer die Ruhe weg", schwärmt sie. "Mittlerweile weiß ich, dass das nicht immer so ist. Zu Hause explodiert er auch mal." Das wiederum passiert ihr nicht. Das ist halt nicht ihre Art. "Toll fand ich seinen aufrechten Gang - sehr athletisch." Aber, beteuert sie, "ich hatte anfangs überhaupt nichts im Sinn." Ein 16 Jahre jüngerer Typ! "Das geht gar nicht." Eigentlich.

Dann kam das Trainingscamp, Türkei, Oktober 2009. Er wollte sich einfach amüsieren, sie musste trainieren, zwei Wochen später waren Europameisterschaften in Reykjavík. "Wir haben jeden Abend getanzt", sagt sie und erklärt, was Tanzen für sie bedeutet: "Ich stehe am Rand, halte mich am Tisch fest und wippe mit. Pause. "Früher habe ich die Nächte durchgetanzt, heute tue ich mir das nicht oft an." Nur in ihren Träumen tanzt sie immer noch. Eines Abends, er machte gerade Blödsinn mit seinen Kumpels, sah sie ihn an - das war der Moment. "Was ist das bloß für ein verrückter Kerl, dachte ich und habe ihm einen Kuss gegeben. Und Phillip hat gesagt: ,Endlich! Geht das noch mal?' - Das war's." Seitdem sind sie zusammen. Seine Familie mochte Kirsten von Anfang an, und wenn nicht, wäre es ihm egal gewesen, sagt er. "Und meine Eltern lieben ihn", sagt sie.

"Die Leute denken immer, das Drama sei ein Leben im Sitzen. Es sind aber die Schmerzen. Man hat immer Schmerzen."

Die beiden sitzen auf einem Sofa, daneben steht der Rollstuhl. Sie legt die Beine hoch, aber auch das wird unbequem. "Die Leute denken immer, das Drama sei ein Leben im Sitzen. Es sind aber die Schmerzen. Man hat immer Schmerzen." Kirsten Bruhn hat eine "inkomplette Lähmung", das bedeutet, sie kann sich bewegen, stehen, auch mehrere Stunden lang, aber es tut höllisch weh. Er kann das kaum ertragen, will sie davon abhalten. Doch sie sagt: "Ich brauche das für mich, für meinen Kopf." Wenn sie auf die Toilette muss, legt sie sich einen Katheter. Auch darüber redet sie. Es gibt keine Tabuthemen. Auch Sex ist keines. "Ich kann nicht sagen, ab hier spüre ich nichts mehr, es ist viel diffuser, selbst nach 22 Jahren bin ich überrascht, was ich alles spüren kann", sagt Kirsten Bruhn. Er redet ebenfalls ganz sachlich darüber: "Wir können alles ganz normal tun. Das ist kein großer Unterschied zu anderen Paaren." Das alles schwirrte ihr damals im Kopf herum. Als sie Phillip Semechin kennen lernte, hatte sie zwei Trennungen hinter sich. "Und dann waren da noch die 16 Jahre Altersunterschied. Ich habe mich gefragt: Was ist, wenn er Kinder haben möchte? Der Unfall hat vieles verändert", sagt sie. "Ich genieße, wie es jetzt ist. Wer weiß, wie lange es hält, hoffentlich lange. Ich liebe ihn, über den Rest mache ich mir keine Gedanken." Kirsten Bruhn befiehlt sich immer wieder: "Hör auf dein Herz."

Denn natürlich hat sie dunkle Tage. Tage, an denen sie weint. Er kann damit umgehen. Sie geben einander Halt. "Ich fühle mich durch Philipp komplett", sagt sie, und er nennt sie "meinen Hafen". Und dann erzählt er, ohne zu beschönigen, wie es war, als er sich in Kirsten Bruhn verliebte: "Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob das überhaupt geht. Vorher hatte ich mir ja nie Gedanken darüber gemacht, wie es ist, eine Frau zu lieben, die älter und behindert ist. Aber dann haben wir uns besser kennen gelernt, und die Probleme wurden mir zunehmend egal. Ich habe mich noch nie so aufgehoben gefühlt wie bei ihr. So verstanden." Kinder sind immer noch Thema. Biologisch wäre es möglich, aber kompliziert. Sie sagt: "Ich bin siebenmal Tante, Mutter sein steht nicht auf meiner Agenda."

Phillip Semechin möchte heiraten, sie nicht unbedingt. "Ich gehe trotzdem davon aus, dass wir es tun", sagt er. "Irgendwann", sagt sie leise. "Echt?" Er freut sich ungläubig. Sie lächelt, spielt an dem goldfarbenen Bändchen, das sie ums rechte Handgelenk trägt. Darauf steht: "Du kannst mehr als du denkst." Das ist auch der Titel des preisgekrönten Dokumentarfilms über Kirsten Bruhn und zwei weitere Teilnehmer der Paralympics in London 2012. Und es ist nicht mehr und nicht weniger als der Satz ihres Lebens.

Text: Carla Woter Fotos: Manuel Krug Ein Artikel aus BRIGITTE WOMAN 03/2014

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