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Kinder aus dem Haus, plötzlich zu zweit

Zwei Zahnbürsten im Glas
© White bear studio / Shutterstock
Die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und plötzlich sollen die Eltern wieder das werden, was sie einmal waren: ein Paar.

Es war im Supermarkt, wie gewohnt warf Elma Berger* die größten Packungen in ihren Einkaufskorb, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass ein langer Lebensabschnitt unwiderruflich zu Ende war. "Essen Ihre Zwillinge immer noch dieses Schokozeugs?" scherzte die nette Kassiererin. "Klar", wollte Elma gerade erwidern, als sie stutzte, statt dessen "sorry" sagte, sich umdrehte und die Familienpacken gegen kleine Portionen tauschte.

Sie seufzte, als sie kurz darauf die Haustür aufschloss, auch an die Stille würde sie sich jetzt gewöhnen müssen. Was hatte sie der ständige Lärm in der Wohnung immer genervt! Die müllhaldenhafte Unordnung in den Jugendzimmern, die schlaflosen Nächte, wenn ihre Jungs unterwegs waren, und sie auf das Geräusch der Schlüssel lauerte. Sie hatten viel gestritten, ihr Mann Ivo und sie, meist wegen der Kinder. Die letzten Jahre waren anstrengend gewesen, immer öfter hatte sie sich nach Ruhe und Frieden und einer jugendfreien Wohnung gesehnt. Nach harmonischer Zweisamkeit mit Ivo, die schon seit Jahren viel zu kurz gekommen war. Nach Mozartklängen beim Frühstück. Nach kleiner Bügelwäsche. "Mir schwebte eine Art zweite Flitterwochen vor", sagt die 47-Jährige, "ich wollte mich mit Ivo wieder so jung fühlen wie vor den Kindern." Doch das genaue Gegenteil trat ein.

Kofferpacken, eine laute, fröhliche Abschiedsparty, ein tränenreicher Abschied auf dem Flughafen, dann fuhren Elma und Ivo zurück in ihre kinderfreie Wohnung. Sie hätten stolz sein können, beide Söhne hatten ein gutes Abitur und ein Stipendium für ein College in Upstate New York geschafft, ersparten so ihren Eltern teure Studiengebühren. Aber sie waren nicht stolz, sie waren unglücklich.

"Der Auszug meiner Kinder fühlte sich an wie ein mentaler Alterungsschub, wie ein Abschied vom Leben. In dem man gebraucht wurde, das Brot als Laib kaufte und nicht scheibchenweise. In dem die Mahlzeiten laut und die Gespräche jung waren. Ivo und ich waren von einer Familie zu einem alten Ehepaar geschrumpft. Wir waren todunglücklich." Es gibt keine Vorerfahrungen für die Phase, die uns erwartet. Genauso wenig wie wir als junges Paar wussten, wie sich ein Leben mit Kindern anfühlen würde, wissen wir jetzt nicht, wie es ohne sie sein wird. Das ist ungewohnt und macht Angst. Eltern haben sehr widersprüchliche Gefühle, wenn ihre Kinder das Nest verlassen. Wir sind traurig, wenn sie gehen, obwohl wir keine Nesthocker wollen. Sie sollen die Flügel ausbreiten und die Welt erobern, aber am liebsten jeden Sonntag zum Braten nach Hause kommen. Als sie klein waren, haben wir uns über jede neue Phase gefreut. Sie sitzt schon! Er kann laufen! Sie sagt schon Mama! Jetzt würden wir die Zeit gern aufhalten, denn der Abschied von der Elternrolle fällt schwer. Unerwartet schwer. Wer sind wir, wenn wir als Eltern in die Altersteilzeit geschickt werden? Wenn keine tägliche Versorgung, sondern nur noch wöchentliche E-Mails gefragt sind?

Wenn erwachsene Kinder aus dem Haus sind, bleiben die Eltern zurück

"Das Ehepaar ist das Subsystem in der Familie", sagt der Hamburger Psychologe Oskar Holzberg, "wenn das Hauptsystem zusammenbricht, wird das Subsystem entweder bedeutungsvoller oder geht auf Distanz. Und rummst natürlich besonders in dem Bereich, der bei vielen vernachlässigt wurde, wie Zuhören, Zärtlichkeit, gemeinsame Unternehmungen." Eine Beziehung ist wie eine Bergwanderung. Wenn es bergauf oder bergab geht, braucht man andere Schuhe, eine andere Gangart, ein anderes Tempo.

Es hat fast ein Jahr gedauert, bis Elma und Ivo das genießen konnten, wonach sie sich als Eltern oft gesehnt hatten: Kino, Spontanreisen, Sex am Nachmittag. "Wenn man es darf, verliert es den Reiz”, sagt Elma, "Eltern müssen sich ja genauso von ihren Kindern abnabeln wie umgekehrt." Doch dann, an einem ganz besonders trüben Wochenende, hat sie ihren Mann zu einer Siesta im Schlafzimmer überredet. "Herrlich", lacht sie, "ich hatte völlig vergessen, wie sich das anfühlt."

Es ist nämlich eine ungewohnte, aber wunderbare Freiheit, wenn nach den ersten kinderlosen Wochen und Monaten der Elternmotor nicht mehr im Leerlauf rattert, man nicht mehr zuviel einkauft und kocht, nicht mehr mit einem Teil der Seele immer noch wartet. "Geduld", rät Holzberg, "und neue Rituale schaffen. Sie verändern zwar nichts, aber sie sagen der Seele: du bist soweit."

Bei Ines Christen war es das gemeinsame Joggen, das ihr und ihrem Ehemann Michael nach dem Auszug ihrer 19-jährigen Tochter Leonie über den Elternabschiedschmerz hinweghalf. "Ich war wie erstarrt", erinnert sich Bürokauffrau an die trüben Wochen nach dem Auszug ihrer jüngsten Tochter Jette "es fühlte sich an, als sei ein Stück von mir abgestorben." Durch die fast zeitgleiche Verrentung von Michael war es einfach zu wenig alte und zuviel neue Nähe auf einmal. "Jedesmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, ich bin im falschen Leben", sagt die 43-Jährige, "von der jungen Mutter mit den Teeniethemen zur Ehefrau eines Mannes mit zu hohem Blutdruck, der Kürbiskerne für seine vergrößerte Prostata schlucken musste. Mein Leben fühlte sich an wie ein angepiekster Ballon, aus dem langsam die Luft entwich. Der früher sehr aushäusige Ehemann wurde auf einmal so extrem liebebedürftig, dass er Ines die Luft abschnürte, und sie sich überfordert, von den Ansprüchen ihres "kinderlosen" Ehemannes eingeengt fühlte. "Er klebte plötzlich wie eine Klette", seufzt sie, "alles wollte er mit mir zusammenmachen. Ich sollte ihm die Tochter ersetzen, das konnte ich nicht. "

Nach ein paar Wochen, in denen sich die Ehepartner wortkarg umschlichen, empfing Michael sie mit seinem ersten, selbstgekochten Abendessen. Noch wichtiger waren seine Worte: "Wir beide haben noch ein paar schöne Jahre auf der Uhr, mein Schatz, und ein paar Pfunde zuviel auf den Rippen, deshalb fangen wir ab morgen mit Joggen an." Sechs Monate später nahmen sie an ihrem ersten Marathon teil.

Es gibt ein Leben nach den Kindern

Eltern reagieren unterschiedlich auf frei gewordene Kinderzimmer. Manche hüten sie wie einen Schrein, lassen sie unangetastet für die seltenen Besuche, andere renovieren sofort, legen entweder die Schlafzimmer auseinander oder richten sich ein Arbeitszimmer ein.

"Das Leben nach den Kindern muss neu austariert, neu ausgehandelt werden", sagt Oskar Holzberg, "es ist ganz wichtig, dass die Veränderung anerkannt wird. Und zwar mit klarem Blick. Beide Eltern müssen sich fragen: wie erlebst du diese Phase? Was sind deine Ängste? Oft sind es die Frauen, die jetzt die Sinnfrage stellen, die andere Ansprüche stellen. Gerade, weil der Horizont nicht mehr grenzenlos ist."

In dieser Phase ist die Krisenanfälligkeit für eine Partnerschaft am größten, Außenbeziehungen natürlich interessanter als die leere Wohnung, in der beide schweigend in ihrem jeweiligen schwarzen Loch versinken. Ein Loch, in das Vertrautes plumpst: alte Rituale, alte Gewohnheiten, ein Stück altes Leben, das anstrengend war, aber auch schön.

Es ist schwierig, gegen das Gefühl von Entwertung anzukämpfen, wenn man scheinbar nicht mehr gebraucht wird, die Verantwortung fallenlassen muss wie ein überflüssiges Gepäckstück, die Kinder nicht nerven, nicht nachfragen darf, wenn einem etwas Sorge bereitet. "Alles, was man sich angewöhnt hat, muss man sich wieder abgewöhnen und sich sozusagen wieder auf Null bringen", sagt Elma, "deswegen haben wir unserem Leben nach den Kindern eine völlig neue Struktur gegeben." Ivo und sie haben den Haushalt neu aufgeteilt, sich endlich ein Theaterabo gekauft und jeweils einen Stammtisch gegründet. "Wenn unsere Jungs kommen, sind sie ganz erstaunt, wie ausgebucht wir sind", lacht sie, "wir haben uns spürbar abgenabelt, das tut uns allen gut."

Unsere Kinder ziehen aus, aber sie verlassen uns nicht. Oft wird die Beziehung sogar besser, weil die täglichen Reibungspunkte wegfallen. "Unabhängig davon, was man unter Liebe versteht und wie Zusammengehörigkeit gestaltet wird", schreibt die Journalistin Bettina von Kleist, "von einer Krise, gar Auflösung der Familie kann keine Rede sein. Kinder bleiben lebenslang die beständigsten und einflussreichsten Bezugspersonen." Das ist doch tröstlich.

Buchtipps: Bettina von Kleist: "Wenn der Wecker nicht mehr klingelt", 237 S., 14,90 Euro, Ch. Links Verlag Christine Swientek: "Ins wilde, weite Land des Alterns. Eine Routenbeschreibung", 223 S., 9,90 Euro, Herder Wolfgang Schmidbauer: "Altern ohne Angst", 8,90 Euro, Rowohlt

Text: Evelyn Holst

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