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"Nur Sternstunden, kein Alltag"

Sie ist die Geliebte eines Mannes, der einer anderen gehört. Sie will ihn aber auch gar nicht ganz für sich. Denn so bleibt sie frei. Wirklich? Eine Frau erzählt.

Ich weiß nicht mehr, woher ich das Foto habe von dem Almabtrieb in Tirol. Wenn ich die beiden Kühe sehe, die den Zug anführen, denke ich an Karls Ehefrau und an mich. Die erste Kuh trottet dahin, mit einem einfachen Band um den Hals. Das ist Karls Ehefrau. Die Kuh direkt dahinter marschiert erhobenen Hauptes, über und über geschmückt mit Blumen, bunten Girlanden und einer prächtigen großen Glocke. Das bin ich. Karls Geliebte. Seine Lieblingsfrau, wie er mich nennt. Seit 25 Jahren.

Unsere Geschichte begann an einer Tankstelle in Luxemburg, wo ich damals wohnte. Eine Szene wie im Film: Ich habe Karls Auto mit meinem Kleinwagen gestreift und war außer mir vor Schreck. Doch der gut aussehende ältere Mann lachte nur, wollte von Schadensbegleichung nichts wissen und bat stattdessen um meine Telefonnummer. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass wir uns wiedersehen würden.

Seine Anrufe, sein Werben um mich taten mir gut.

Ein paar Wochen später waren wir zusammen unterwegs nach Genf. Karl war Unternehmer und wohnte in der Nähe von Frankfurt. Seine angenehme Stimme, seine kluge, freundliche, ein bisschen väterliche Art gefi elen mir. Seine Anrufe, sein Werben um mich taten mir gut. Gerade hatte ich mich aus einer anstrengenden Beziehung gelöst. Dass Karl fast 30 Jahre älter war als ich, störte mich nicht. Für mich war das Ganze nur ein Abenteuer. Deshalb hatte ich seine Einladung, ihn zu der Tagung in Genf zu begleiten, ohne langes Nachdenken angenommen.

Ob Karl verheiratet war oder nicht, habe ich ihn gar nicht gefragt. Er trug keinen Ehering, aber für mich stand fest: Klar ist ein Mann wie er verheiratet. Mich interessierte das nicht. Die Tage in Genf waren wie ein Rausch. Wie oft wir uns geliebt haben, ich könnte es nicht sagen. Es grenzt an ein Wunder, dass es Karl gelang, unsere Hotelsuite zu verlassen und seinen Vortrag über "Unternehmenskultur der Zukunft" zu halten. Für mich war Karl eine Offenbarung. Er war so sicher, so souverän und dabei so absolut auf mich bezogen in der Liebe. Und er wollte mich. Immer und immer wieder.

Der Mann: zwischen Geliebte und Ehefrau

"All das wird vergehen wie ein schöner Sommer", dachte ich anfangs noch. Dabei war Karl längst mein Lebensmittelpunkt. Ich zog ebenfalls nach Frankfurt, fand einen anspruchsvollen, gut bezahlten Job als Vorstandssekretärin in einer Versicherung. Karl und ich telefonierten täglich mehrmals, ein-, zweimal die Woche kam er zu mir. Die Wochenenden verbrachte ich allein, sah mir Ausstellungen an oder las. Um in der Stadt Anschluss zu finden, habe ich in der Zeitung eine Anzeige aufgegeben: "Freundinnen gesucht." Mit zwei Frauen treffe ich mich bis heute, sie wissen alles über Karl und mich. "Was ist mit seiner Ehefrau? Hast du keine Konkurrenzgefühle? Überhaupt kein Mitleid?", haben sie oft gefragt. Ich antwortete jedes Mal: "Seine Ehefrau interessiert mich nicht. Ich empfinde sie nicht als Konkurrenz, und habe auch kein Mitleid mit ihr."

Vielleicht habe ich es mir da ein bisschen zu leicht gemacht. Vielleicht hatte ich es auch leichter als andere Geliebte, denn ich wusste immer, dass ich für Karl an erster Stelle stand. Die zweite Geige zu spielen, hätte ich nicht ausgehalten. Ich brauche ungeteilte Aufmerksamkeit. Das habe ich wohl meinem Vater zu verdanken, der mich nicht nur meiner Schwester, sondern oft auch meiner Mutter vorzog. Karls Ehefrau hatte schon lange schwere Depressionen. Ich habe sie einmal bei einer Veranstaltung gesehen: Sie wirkte gebrochen und älter, als sie war. Sicher haben die beiden auch gute Zeiten miteinander erlebt. Karl hat mir viel von seiner Frau, von seinen Kindern, später auch von den drei Enkeltöchtern erzählt. Seine Familie war ihm wichtig. Und es wäre für ihn undenkbar gewesen, seine Frau im Stich zu lassen.

Aber sie konnte ihm nicht geben, was er, dieser erfolgreiche, vitale, auch sexuell sehr anspruchsvolle Mann, brauchte. Von mir bekam er alles: Aufmerksamkeit, Bewunderung, Sex. Ich liebte ihn über alles - doch ständig mit ihm zusammenzuleben, hätte ich mir nie vorstellen können. Mich anpassen, Kompromisse machen? Seine Hemden bügeln? Ihn ertragen, wenn er schwitzt, hustet, schlechte Laune hat? Karl und ich kannten keinen Alltag, wir hatten nur Sternstunden.

Ich habe mit Karl die Welt kennengelernt.

Solange Karl im Beruf war, konnte er gelegentlich Dienstreisen vorschützen. Dann waren wir zusammen unterwegs, wenn auch selten länger als eine Woche. Über 30 wunderbare Reisen haben wir unternommen, ich habe mit Karl die Welt kennen gelernt. Oft buchte er spontan: mal fünf Tage Bali, mal eine Woche Indonesien, immer in den besten Hotels. Eine Kollegin, die ich eingeweiht hatte, sprang ein, wenn ich kurzfristig Urlaub brauchte. Wir beschäftigten uns intensiv mit jedem Land, ließen uns von Reiseleitern führen, fotografierten viel. Abends beim Essen redeten wir stundenlang. Karl schien aufzublühen in meiner Gegenwart; er genoss es, dass ich mich für seinen Betrieb interessierte, für seine Vision von einer menschlichen Arbeitswelt, die Auszeichnungen, die er als sozialer Unternehmer erhielt. Von seiner Arbeit war er wie besessen. Ich wusste, dass er oft bis in die Morgenstunden am Schreibtisch saß, trotz seiner Rückenprobleme. Nur wenn wir uns liebten, war seine Leidenschaft noch größer als bei der Arbeit.

So merkwürdig das jetzt klingen mag: Sex war nicht alles in unserer Beziehung. Wir waren Seelenverwandte, uns verband so vieles. Oft waren wir einander schweigend ganz nah. Auf einer Reise nach Brasilien etwa, als wir am Fenster an der Spitze des Jumbos knieten und auf den Amazonas hinuntersahen. Ein unglaubliches Bild, zu groß für Worte.

Meine Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Frankfurt ist voll Mitbringsel: die Skulptur eines liebenden Paares aus Peru. Ein Teppich aus Istanbul, Wandteller, Schmuck. Und ich habe Fotos von uns beiden: Karl, dieser große, aufrechte Mann mit seinen leuchtenden braunen Augen. Daneben ich, vor Glück strahlend. Manchmal hatte ich das Gefühl, in einem Traum zu leben.

Die Wirklichkeit holte mich ein, als ich plötzlich schwer krank wurde. Ich musste sehr schnell ins Krankenhaus - und konnte Karl nicht einmal Bescheid sagen. Zu der Zeit war er bereits im Ruhestand, ich hätte ihn zu Hause anrufen müssen und womöglich seine Frau am Apparat gehabt.

In dieser Situation wurde die Heimlichkeit unserer Beziehung mit einem Schlag unerträglich für mich. Als es mir besser ging, bat ich Karl, wenigstens seinen beiden erwachsenen Kindern von mir zu erzählen. Es ging mir gar nicht darum, ihn ganz für mich zu haben. Ich wollte ihn lediglich erreichen können, wenn ich ihn dringend brauchte. Doch mit Karl war darüber nicht zu reden, er wollte sein Doppelleben beibehalten. Ich nahm meine ganze Willenskraft zusammen und zog den Schlussstrich, nach mehr als zehn Jahren. Bald darauf lernte ich einen Mann in meinem Alter kennen, für Karl war jetzt kein Platz mehr in meinem Leben.

Karl ist der Mann meines Lebens. Ich liebe ihn.

Bis er mich eines Tages anrief, verzweifelt. Bei seinem Sohn war Krebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt worden; er hatte nicht mehr lange zu leben. "Bitte sei jetzt für mich da", bat Karl. Als ich meinem neuen Freund davon berichtete, trennte er sich von mir. Während ich Karl durch die wohl finsterste Zeit seines Lebens begleitete, musste ich oft an die Worte des Fuchses in "Der kleine Prinz" denken: "Wen man sich vertraut gemacht hat, für den ist man verantwortlich." Zwei Jahre später, als Karl sein Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden hatte, habe ich noch einmal versucht, die Beziehung zu beenden. Vergebens. Andere Männer interessierten mich nicht. Schließlich habe ich vor der Tatsache kapituliert: Karl ist der Mann meines Lebens. Ich liebe ihn.

Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Karl ist jetzt 83 und schwer krank, er kann sich kaum noch bewegen. Vor einem halben Jahr, an meinem 55. Geburtstag, waren wir zusammen im Tessin, einem meiner Lieblingsorte. Da konnte Karl noch selbst Auto fahren, heute wäre das undenkbar.

Mir kommen jetzt oft die Tränen. Ich wünsche mir nichts mehr als in Karls Nähe zu sein, mit ihm von früher zu sprechen, noch einmal unsere Fotoalben anzuschauen. Abschied zu nehmen. Doch er schafft es kaum noch, das Haus zu verlassen, und besuchen kann ich ihn ja nicht. Er ruft mich von seinem Handy aus an, und vor zwei Wochen hatten wir sogar vereinbart, uns zu sehen. Dann sagte er das Treffen wieder ab, weil seine Frau einen Herzinfarkt hatte.

Karl wird unsere Beziehung um jeden Preis geheim halten, bis zum Schluss. Er ist auch jetzt nicht bereit, seine Tochter einzuweihen oder wenigstens zu organisieren, dass man mich sofort verständigt, wenn sein Leben zu Ende geht. Ich versuche, innerlich Abstand von ihm zu halten, melde mich nicht mehr, lasse ihn anrufen. Eines Tages wird er auch das nicht mehr können. Wahrscheinlich erfahre ich erst aus der Zeitung von seinem Tod.

Protokoll: Nina Poelchau

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