Anzeige

Das ungewisse Etwas

Frau hebt ihren Rock
© Aleksei Isachenko / Shutterstock
Sie ist nicht käuflich und nicht künstlich. Sie ist zauberisch, flüchtig, rätselhaft. Auch wenn sie da ist, können wir sie nicht dingfest machen. Über das Wesen der Erotik.

Wir spüren sie stark und können sie nicht greifen. "Erotik hat etwas Flüchtiges, Scheues, aber sie wirft dich um, wenn sie da ist", sagt die Berliner Filmproduzentin Regina Ziegler. Wir können sie nicht machen, nicht herbei zitieren, sie unserem Willen nicht unterwerfen. Manchmal erfüllt sie uns ganz, aber sie geht, wann sie will. Und beim Versuch, sie zu zwingen, platzt ihr Zauber. Sie ist eher leise, das Gegenteil von Action. Berühmte Ausnahmen: Tina Turner, Rolling Stones. Geschmackssache. Natürlich.

Erotik ist Versprechen, Ahnung, Schönheit des Moments. Wie das Leben selbst. "Erotik ist einfach da, ganz natürlich", sagt die 25-jährige Lilly. Sie ist das Sinnliche, das Sinn macht. Sie ist uns allen verdammt wichtig. Einerseits ist sie körperlich erfahrbar, das Blut pulst schneller, der Atem geht tiefer, wenn wir ihren Hauch spüren. Andererseits ist sie rein ideell. Nicht käuflich, nicht herstellbar. Immer in Bewegung. Ein Schwebezustand zwischen uns und der Welt.

Pornos haben nichts mit Erotik zu tun

Wer sich nach ihr erkundigt, zum Beispiel, um über sie zu schreiben, stößt bei den üblichen Quellen vor allem auf Sex und Pornografie. "Wenn wir Haben wollen, Besitzen wollen, dann dominieren uns die Reize, dann wird aus Erotik Pornografie", sagt Annelie Keil, Bremer Professorin für Sozialwissenschaften, die sich vor allem mit dem Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele beschäftigt. Und "Porno ist unerotisch", sagt der Hamburger Psychologe Oskar Holzberg.

Sex kann sehr unerotisch sein. Zum Beispiel, wenn wir ihn eigentlich nicht wollen und es zu spät merken. "Ich werde mal was zum Schutz des Lakens tun", sagt jemand und legt ein Frotteehandtuch bereit. Tja, da hat die Erotik jegliche Chance verloren. Sex soll zum Orgasmus führen, Erotik entzieht sich so klarer Nützlichkeit. Sex ist ein Akt. Erotik der Hauch eines Gefühls. So aufregend, so beglückend, wie der übermächtige Wunsch, jetzt sofort die ganze Welt umarmen zu wollen. Die Verbundenheit mit der Welt, nichts weniger ist Erotik. Lebendigkeit. Der uralte Verschmelzungswunsch, der uns durchs Leben treibt.

Erotik endet am Eingang zum Erotik-Shop

Erotik ist überall anwesend, in der Luft, am See, in der brüllenden City, sie endet definitiv am Eingang zum Erotik-Shop. Was wir kaufen können, ist kein Geheimnis mehr. Eine Ware kann niemals erotisch sein. Es sei denn, die Straps oder der Leder-BH bekommen erotisches Leben eingehaucht, in Gedanken an einen Liebsten. Dann werden sie eventuell von einem technischen Detail zum Aufreger.

Wir können einen wunderbar gearbeiteten Tisch erotisch wahrnehmen, wenn wir mit der Hand langsam über seine feine Oberfläche streichen. Dann fühlen die Fingerspitzen das edle Handwerk mit, menschliches Können, Kreativität, Kunst. Perfektion von Menschenhand, Staunen, Begeisterung - sehr erotisierend. So wie umgekehrt die bloße Existenz der Erotik Künstler zu ihren Werken treibt. Bilder, Skulpturen, Romane, Gedichte, Opern, Balladen, Rock'n'Roll - was wären sie ohne Erotik?

Katzen haben sie, sagen die einen, Charles Aznavour, sagen viele, eine Handbewegung, die Dämmerung am Frühlingsabend, weiße, bodenlange Gardinen, eine Rhododendronblüte - "Es gibt eigentlich nichts, was keine erotische Ausstrahlung haben kann", sagt Annelie Keil. Alle Sinne auf einmal können sie einlassen: die süße Luft, die weichen Farben, die feinen Töne. Es strömt, es ist eine Strömung durch unsere Mitte hindurch. Ein Mann, der sich Heinz nennt, schreibt in einem Internet-Forum: "Erotik ist, wenn sich ein Schmetterling auf deinem Handrücken niederlässt und nach einiger Zeit einfach weiterfliegt".

Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner? Zum Beispiel: Alle finden Superfrau Heidi Klum erotisch? Nein! Sagen da einige, die nun gerade nicht. Wo ist das Subtile, das Geheimnisvolle? Das wäre Bedingung. Und George Clooney? Naja, sagen manche, wo ist der Bruch, der all das Schöne an dem Kerl erst interessant macht? Ungeübt, gierig wie wir oft sind, versteifen wir uns bei der Suche nach dem erotischen Kick auf deutlich Sichtbares. Busen, Beine, Po, Muskelspiel. Zu wenig, wie man sofort merkt, wenn man sich manche Profi-Schönheit anguckt. "Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare", sagt Christian Morgenstern. Deswegen ist nicht jeder Körper sinnlich. Erotik liegt im Verborgenen und gerade nicht im augenfälligen Anpreisen der eigenen Körperlichkeit. Weshalb FKK und Sauna ganz und gar erotikfrei sind.

Erotik hat mit Phantasie zu tun

Warum bildschöne Menschen also nicht automatisch erotisch auf andere wirken, hat zwei Gründe. Erstens ist Schönheit allein langweilig und zweitens wirken dieselben Signale auf verschiedene Leute eben verschieden. Erotik hat mit Fantasie zu tun. Sie gibt Rätsel auf, löst innere Bilder aus. Erotisch ist, was eine Antwort in uns erzeugt. Dann ist die Sendung da angekommen, wohin sie gehört, tief in unserer Seele, auch im Unbewussten, wo die Chemie der Reize ihr Wesen treibt. Unerreichbare, überirdische Schönheit hat mit uns selbst nicht viel zu tun. Erotik muss nicht unbedingt schön sein. Das ist die wunderbare Nachricht.

Auf dem Laufsteg des Lebens haben alle die Chance, erotisch zu glänzen. Stupsnase, Grübchen, Zahnlücke, O-Beine - das macht menschlich, das macht nahbar, das finden all diejenigen erotisch, die mit Stupsnase, Grübchen und Zahnlücke etwas verbinden. Eine Erinnerung, eine Assoziation, eine Sehnsucht. Irgendeine der unzähligen Verknüpfungen im Gehirn macht pling - der Augenblick bekommt Magie. Eine Liebe kann beginnen. Oder auch nicht. Darauf kommt es nicht an. Erotik hat kein Ziel. Sie ist zweckfrei, leichtes Gepäck.

Das Schöne ist: Erotik ist mit uns, wenn wir sie zulassen. Ob wir sie nun zeigen oder nicht. Es geht um Lebendigkeit, den Fluss des Lebens, Kraft, Sinnlichkeit. "Erotisch starke Ausstrahlung haben jene Menschen, die ein starkes Selbstverständnis über ihr Frausein oder ihr Mannsein haben", sagt Oskar Holzberg. "Erotik ist eine Form menschlicher Kommunikation", so weit fasst es das dtv-Lexikon.

Wir können unsere eigene Erotik pflegen. Uns beispielsweise morgens ans geöffnete Fenster stellen, den Tag begrüßen, die Glieder dehnen, wahrnehmen, wie der Wind über den Bauch streicht. Oder uns nach dem Bad in Öl und Frottee hüllen, fühlen: die Welt ist gut. Jedenfalls hier, jetzt, in diesem unbedeutenden Moment. Zum sicheren Gefühl für sich selbst gehört vielleicht eine tolle Jeans, der Lieblingsschuh, ein Schal, was auch immer uns die Überzeugung verleiht, richtig zu sein.

Der Opel Corsa wächst zum Ferrari, wenn wir uns frisch hinein schwingen. Erotik ist Gefühl für Bewegung. Wer sich lustlos in seine Karosse plumpsen lässt, lässt Ferrari auf Corsa schrumpfen. Und das ist der Erotikfaktor, den wir selbst bestimmen. Den inneren Schwung hervor locken, ihn heran rollen lassen, ihm einen leichten Tritt geben und über die Trägheitsgrenze befördern. Ausschreiten, statt tippeln, lächeln statt gründeln, Schultern straffen und die Neugier pflegen. Erotik ist ungewiss, wer sich knallig aufhübscht, zeigt zu viel Bemühen. Lässigkeit, Selbstverständlichkeit, das macht den Unterschied. Wer sich ständig entschuldigt, überhaupt auf der Welt zu sein, dem fehlt das Positive. Erotik ist durch und durch positiv. Sex kennt dunkle Seiten, Liebe kann dramatisch unglücklich sein. Erotik nicht. Sie ist reine Lust, Wohlgefühl.

Und das Alter - verjagt es uns von jener universellen Lustquelle? Nein. Längst ist Erotik nicht mehr ausschließlich an Jugendlichkeit gebunden. Früher galt die Erotik einer Frau jenseits der 40 in der Gesellschaft als unschicklich - wenn sie nicht Marlene Dietrich oder ein anderer Star war. Mutti war der warme Ort, wo es zu essen gab, ihre Weiblichkeit versteckte sich in geheimsten Träumen. Das gilt heute nicht mal mehr für 60-jährige Großmütter. Alles ist offen.

Ohne Neugier keine Erotik

Und das ist gut so. Die Irritation, dass körperliche Attraktivität sich verändert, vielleicht in andere Regionen sich verlagert, muss nicht an die Grundfesten rühren. An das erotische Selbst. Wir können erotische Eindrücke speichern, jederzeit abrufen, auch ohne Partner. Wer sich vom Single-Dasein oder auch vom Älterwerden nicht niederschmettern lässt, bleibt offen und neugierig. "Ohne Offenheit und Neugier keine Erotik", sagt Annelie Keil. Wer in seiner Partnerschaft oder auch in seiner Einsamkeit die Türen zu macht, verliert ein Stück Lebendigkeit, also auch an erotischer Aussagekraft. Eine zeitlang sicher auch mal gewollt, natürlich, denn wir sind dann in bestimmter Weise satt, und nicht so auf Neues aus, wenn wir in einer festen Liebesbeziehung angekommen sind. Ein Grund, weshalb zu viel Harmonie die Liebe oft kraftlos macht.

"Zusammenleben ist unerotisch", sagt der Paartherapeut Peter Lauster, mehr oder weniger ironisch. Gespräche über Geld und Müll - das beleidigt die unsterbliche Diva Erotik. Andererseits kann uns der Geliebte nach zwanzig Jahren noch den Atem nehmen, wenn er auf seine unnachahmliche Art den Kaffeebecher hält, kurz über den Rand guckt und ihn dann langsam zum Mund führt.

Erotische Auslöser sind alterslos, irgendetwas verbinden wir mit diesem Anblick, dem Geruch, der Melodie und das wohlige Prickeln ist da wie vor Jahrzehnten. Wir können erotische Erinnerungen und Sehnsüchte lange unbeantwortet in uns herumtragen. In einer Doktorarbeit versinken und alle Energie nur auf das eine Ziel richten, einen Angehörigen pflegen und alles andere vergessen. Sie wird wieder da sein, die Erotik, im Bruchteil einer Sekunde, wenn es Zeit ist. Sie hat nur gedämmert. Tot ist sie erst mit uns zusammen. Denn, sagt Annelie Keil, "Erotik ist die Aura lustvollen Lebens."

Zum Weiterlesen: Esther Perel: Wild Life. Die Rückkehr der Erotik in die Liebe. Piper Verlag, 316 S., 8,95 Euro

Text: Vera Sandberg

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel