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"Man kann sich als Paar Freiheiten gönnen"

Treu und frei sein: für Benoîte Groult kein Widerspruch. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin über ihren Hunger nach Selbstbestimmtheit - in der Liebe. Im Leben. Im Tod.

BRIGITTE-woman.de: Frau Groult, Sie hatten fünf Jahrzehnte lang zwei Männer: Ihren Ehemann und einen Liebhaber. Ist es möglich, zwei Männer zugleich zu lieben?

Benoîte Groult: Auf diese Frage könnten Ihnen gewiss viele Männer und auch viele Frauen antworten: Das ist durchaus möglich. Meine Männer waren völlig unterschiedlich. Mein Mann Paul Guimard war Schriftsteller und Franzose. Mein Geliebter Kurt Heilbronn war ein amerikanischer Pilot, der als deutscher Jude 1925 in die USA emigrierte.

BRIGITTE-woman.de: Wie haben Sie Ihren Geliebten kennen gelernt?

Benoîte Groult: Ich traf ihn 1945, nach der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung. Kurt flog als Offi zier einen B36-Bomber. Meine Schwester und ich arbeiteten als Dolmetscherin und Hostess des Roten Kreuzes und führten amerikanische Soldaten auf Besichtigungstouren durch Paris. Jeden Nachmittag gegen fünf besuchten wir Tanztees im Offi ziersclub "Hotel Crillon" am Place de la Concorde. Dort trafen wir charmante, wohl genährte junge Männer. Deren besonders positive Eigenschaft bestand darin, dass sie nicht lange in Paris blieben. Wir gingen im Grunde genommen mit völlig Unbekannten ins Bett.

BRIGITTE-woman.de: Sie haben ungewöhnlich freizügig gelebt . . .

Ich habe mich von meiner verklemmten Sexualität befreit.

Benoîte Groult: Ich habe mich in der Zeit von meiner verklemmten Sexualität befreit. Und dann verliebte ich mich in Kurt. Uns verband eine große Leidenschaft, die bis zu seinem Tod vor sechs Jahren gehalten hat. Wir haben uns fünf Jahrzehnte lang getroffen, im Abstand von Monaten, manchmal sogar Jahren. Jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen, war es, als seien wir wieder jung, wie 18-Jährige. Sicherlich, weil unsere Leidenschaft fern vom Alltag war. Unser Verlangen füreinander hörte niemals auf. Weil wir wussten, dass wir nach ein paar Tagen wieder Abschied nehmen mussten.

BRIGITTE-woman.de: Haben Sie ihn deshalb nie geheiratet?

Benoîte Groult: Kurt hat mir einen Antrag gemacht. Doch eine Ehe mit ihm kam für mich nicht infrage. Sie wäre ganz sicher das Ende unserer Liebe gewesen. Er hatte überhaupt keine Bildung. Er interessierte sich nicht für Kultur, er las kein einziges Buch.

BRIGITTE-woman.de: Und Paul Guimard?

Benoîte Groult: Er war ein attraktiver Mann, sah gut aus und hatte einen verführerischen Intellekt. Nach meiner Erfahrung kann eine Beziehung rein sexuell sein – aber umgekehrt scheint es mir schwierig, zu einem tieferen geistigen Einverständnis vorzudringen, ohne irgendwann zusammen im Bett zu landen. Mit meinem Mann verband mich ein tiefes gedankliches Verstehen. Wir liebten dieselben Bücher, Filme und Theaterstücke. Mit ihm konnte ich mich wunderbar unterhalten. Wir hatten so viele gemeinsame Interessen: Die Liebe zur Kultur und auch zur Natur, wir gingen zusammen fischen.

BRIGITTE-woman.de: 1951 haben Sie Paul geheiratet. Bedeutete die Ehe eine Einschränkung Ihrer Freiheit?

Benoîte Groult: Nein. Ich war schon ein paar Jahre mit Paul verheiratet, als ich Kurt in New York wiedersah. Er hatte inzwischen Frau und Kinder in Philadelphia. Ich hatte eigentlich vor, nur mit ihm zum Dinner zu gehen. Doch daraus wurden drei Tage, die wir nonstop miteinander verbrachten. Meistens im Bett. Kurt war ein hinreißender, wunderbarer Mann. Sehr süß, überhaupt kein Macho. Zum Glück hat mich Paul nie vor die Wahl gestellt, entweder er oder ich.

BRIGITTE-woman.de: Menge Affären während Ihrer Ehe, unter denen Sie ziemlich gelitten haben.

Benoîte Groult: Sicherlich war ich eifersüchtig. Sehr sogar. Meine Eifersucht habe ich literarisch in dem Buch "Juliette und Marianne" verarbeitet. Paul hingegen war kein eifersüchtiger Mensch. Vielleicht später, als er merkte, dass ich Kurt niemals aufgeben würde. Da verwies ich ihn darauf, dass es seine eigene Idee gewesen war, einen Ehevertrag à la Sartre-Beauvoir zu vereinbaren. Als wir heirateten, sagte er mir klipp und klar, dass er künftig keineswegs seine Augen vor anderen schönen Frauen verschließen wollte. In unsere Eheringe ließen wir das Motto "Freiheit, Gleichheit und Treue" eingravieren.

BRIGITTE-woman.de: Sie schlossen einen Vertrag, der sowohl Freiheit als auch Bindung voraussetzt. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Benoîte Groult: Nein. Man kann sich als Paar Freiheiten gönnen, vorausgesetzt, man kann zwischen zufälligen und notwendigen Lieben unterscheiden. Das funktioniert nur, solange man weiß, wer die Haupt- und wer die Nebenfi gur ist. Mein Mann war für mich immer die Hauptfi gur – und umgekehrt war ich für ihn die wichtigste Frau in seinem Leben.

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BRIGITTE-woman.de: Hatten Sie eigentlich noch andere Liebhaber während Ihrer Ehe?

Benoîte Groult: Kurze Affären, zwei oder drei.

BRIGITTE-woman.de: Haben Sie währenddessen auch das Bett mit Ihrem Mann geteilt?

Benoîte Groult: Ja, meistens. Warum auch nicht? Ich denke, die moderne Frau der heutigen Zeit nimmt sich die gleiche Freiheit, die sich Männer selbstverständlich schon seit Jahrhunderten nehmen. Denken Sie an das 18. und 19. Jahrhundert. Da hatten Männer – nicht nur Könige oder Adelige – Mätressen zur Unterhaltung und zum Vergnügen. Mit ihrer Ehefrau haben sie währenddessen Kinder gezeugt. Warum sollten Frauen nicht dieselben Freiheiten haben?

BRIGITTE-woman.de: Sie haben sich auch die Freiheit genommen abzutreiben, in einer Zeit, als die Abtreibung nicht legalisiert war – bis 1943 wurde sie sogar noch mit der Guillotine bestraft.

Benoîte Groult: Erst mein amerikanischer Freund Kurt hat mich gelehrt, welche Freiheit uns Frauen mit Kondomen geschenkt wird: Am Ende des Monats bist du nicht mehr ungewollt schwanger! Dann heiratete ich einen Franzosen, und niemals kam ihm die Idee zu verhüten. Ein Kondom benutzte man in Frankreich nur, wenn man zu einer Hure ging. Die eigene Frau war doch keine Hure, sie hatte doch keine Syphilis. Mein Mann beschwerte sich immer: "Es ist schrecklich mit dir, ständig wirst du schwanger!" Als ob er nichts dazu beigetragen hätte! Drei- oder viermal habe ich einen Haufen Geld für eine Abtreibung bezahlt, die in irgendeinem schmutzigen Hinterzimmer vorgenommen wurde. Und danach habe ich es lieber selbst gemacht, mit Stricknadeln. Allein auf meinem Bett. Schrecklich. Ich habe es auch bei meiner Schwester gemacht. Aber alle taten es, auch Frauen aus gutbürgerlichen Familien.

BRIGITTE-woman.de: Sie hätten dafür verurteilt werden und ins Gefängnis kommen können.

Benoîte Groult: Zum Glück wurde das Gesetz 1975 geändert, weil 443 prominente Frauen in Frankreich öffentlich bekannten: "Ich habe abgetrieben!" Wir haben uns unsere Freiheit mit dem Risiko erkämpft, für unser Geständnis eingesperrt zu werden. Es war gefährlich. Aber es kann auch gefährlich sein, ein Kind nach dem anderen zu bekommen.

BRIGITTE-woman.de: Sie haben drei Töchter. Fühlten Sie sich als Mutter in Ihrer Freiheit eingeschränkt?

Benoîte Groult: Nicht zu sehr, ich habe ja immer gearbeitet. Glücklicherweise hatte ich einen Job als Radioreporterin. Das war wichtig, deshalb hatte ich nicht das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Ich wusste, ich konnte aus dem Haus gehen und über mein Leben bestimmen.

BRIGITTE-woman.de: War es schon in den fünfziger Jahren für französische Frauen selbstverständlich, Kinder und einen Beruf zu verbinden?

Benoîte Groult: Sicherlich liegt das an unserem Schulsystem. Seit mehr als hundert Jahren gibt es die École Maternelle. Diese ganztägige Vorschule besuchen unsere Kinder ab dem zweiten Lebensjahr. Außerdem hatte ich Au-pair-Mädchen, die sich um die Kinder kümmerten, wenn ich abends ausgehen wollte.

BRIGITTE-woman.de: Sie haben sich diese Freiheit genommen. In Deutschland wären Sie als Rabenmutter beschimpft worden.

Benoîte Groult: Wieso denn das? Letzten Endes kommt es einzig darauf an, dass man seine Kinder liebt. Doch wenn man zu Hause eingesperrt ist, fängt man irgendwann an, die Kinder zu hassen. Ich hätte jeden Job angenommen, um nicht 24 Stunden am Tag auf mein Muttersein beschränkt zu sein.

BRIGITTE-woman.de: Welches Verhältnis haben Sie zu Ihren Töchtern? Haben sie Ihnen übel genommen, dass Sie berufstätig waren?

Benoîte Groult: Meine Töchter und ich stehen uns sehr nahe, wir sind wie gute Freundinnen. Meine dritte Tochter hat sich allerdings beschwert. In ihrer Erinnerung bin ich immer nur weggegangen. Heute versteht sie das, sie ist jetzt selbst Mutter und berufstätig.

BRIGITTE-woman.de: Sie sind Feministin und haben vehement für die Gleichberechtigung gekämpft. Sind Ihnen Ihre Enkelinnen dafür dankbar?

Meine Enkelin weiß gar nicht, wovon wir Feministinnen sie befreit haben.

Benoîte Groult: Als ich 25 war und als Journalistin arbeitete, hatte ich immer noch kein Wahlrecht! In Deutschland konnten Frauen schon in den zwanziger Jahren wählen, das Wahlrecht für Frauen wurde in Frankreich erst 1944 eingeführt. Ich war damals keine vollwertige Bürgerin, ich konnte noch nicht mal ein Bankkonto eröffnen ohne Genehmigung meines Ehemanns. Meine Enkelin weiß gar nicht, wovon wir Feministinnen sie befreit haben, für sie liegt diese Zeit so weit weg wie das Mittelalter. Sie ist jetzt 25 und ein kämpferisches Mädchen.

BRIGITTE-woman.de: Kennt Ihre Enkelin Ihre Romane?

Benoîte Groult: Sie hat noch kein einziges Buch von mir gelesen, und das erzählt sie auch jedem. Sie findet meinen erotischen Roman "Salz auf unserer Haut" unmöglich. In ihren Augen ist es peinlich, dass ihre Großmutter mit 60 Jahren freizügig über Sex schrieb.

BRIGITTE-woman.de: Verschwindet das sexuelle Begehren ab einem bestimmten Alter?

Benoîte Groult: Nein, ich denke, es vergeht nie. Aber für einen Mann ist Sex im Alter schwieriger als für eine Frau. Män ner leiden oft unter Impotenz, eine Frau kann eigentlich immer Sex haben. Aber diese Frage hat sich für mich in den letzten Jahren nicht mehr gestellt. Mein Freund starb vor sechs Jahren, mein Mann vor vier. In den letzten Jahren war mein Mann krank, und ich habe mich sehr um ihn gekümmert. Die Hälfte meiner Energie habe ich darauf verwendet, ihm Kraft zu geben. Ich liebte ihn zu sehr, wollte ihn nicht ins Krankenhaus bringen. Nach seinem Tod habe ich sechs Monate gebraucht, um mich wieder an den Schreibtisch zu setzen. Das ist wie beim Tiefseetauchen, es dauert, man kann nur langsam an die Oberfl äche des Meeres steigen. Zwei Jahre lang habe ich dann gebraucht, um mein Buch "Salz des Lebens" zu schreiben, ich war immer allein zu Hause mit meinem Papier und Stift. Und nun bin ich frei.

BRIGITTE-woman.de: Sie wirken sehr agil für Ihr Alter. Fahren Sie noch immer Fahrrad?

Benoîte Groult: Ja, regelmäßig. Wenn ich zum Beispiel meinen Verleger besuche. Ich bin die älteste Autorin in seinem Verlag – und die einzige, die mit dem Fahrrad kommt. Gut, ich gebe zu, ich fahre nur in den kleinen Straßen von Paris, den Place de la Concorde meide ich.

BRIGITTE-woman.de: Das Alter schränkt Sie demnach nicht in Ihrer Bewegungsfreiheit ein?

Benoîte Groult: Ich habe Glück, ich bin gesund. Aber dennoch: Das Alter ist ein andauernder mühsamer Kampf. Beim Treppensteigen fasse ich oft ans Geländer, um zu verhindern, dass ich womöglich stolpere. Ich will auf keinen Fall stürzen und mir etwas brechen! Deshalb habe ich auch mit 70 endgültig damit aufgehört, Ski zu laufen. Das bedaure ich, ich träume heute noch manchmal von Abfahrten durch den Pulverschnee.

BRIGITTE-woman.de: Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass Sie alt werden?

Benoîte Groult: Sehr spät. Bevor ich 80 wurde, habe ich nicht daran gedacht, dass das Leben endlich ist. Altwerden ist ein allmählicher Prozess, der 20 Jahre dauert – genauso lange, wie ein Mensch erwachsen wird.

Ich möchte den Zeitpunkt meines Todes selbst bestimmen.

BRIGITTE-woman.de: Beim Sterben endet die Freiheit, man hat keine Wahl.

Benoîte Groult: Das sehe ich ganz anders. Für mich persönlich habe ich entschieden, den Zeitpunkt meines Todes selbst zu bestimmen. Ich bin Mitglied der Vereinigung "Das Recht, in Würde zu sterben" und kämpfe für Sterbehilfe. Ich bewundere die Mutter unseres ehemaligen Premierministers Lionel Jospin. Sie war 92, da entschied sie, Selbstmord zu begehen. Ihren Kindern hat sie gesagt: ",Es ist Zeit zu gehen', und das war's." Ihre Tochter hat ein Buch darüber geschrieben, mit dem Titel "La Dernière Leçon", die letzte Lektion. Ich hoffe, dass auch ich meinen Töchtern diese Lektion mitgeben kann.

BRIGITTE-woman.de: Welche?

Benoîte Groult: Das Leben ist nur lebenswert auf einem bestimmten Level. Sonst ist es wertlos.

BRIGITTE-woman.de: Wann wäre das Leben für Sie nicht mehr lebenswert?

Benoîte Groult: Ich liebe es, meinen Garten zu pflegen, ich liebe es, Städte zu besuchen, Orte zu besichtigen, ich liebe das Leben sehr. Mir vorzustellen, keine Butter mehr zu essen, keine Schokolade, keinen Whisky mehr genießen zu können – das wäre kein Leben mehr. Das Leben ist bunt, und wenn es für mich seine Farben verliert, hoffe ich, dass ich den Mut haben werde, es zu beenden, anstatt vor mich hin zu vegetieren.

BRIGITTE WOMAN: Können Sie sich vorstellen, sich noch einmal neu zu verlieben?

Benoîte Groult: Ich möchte nicht mehr mit einem Mann zusammenleben. Aber ich hätte gern einen Gefährten, mit dem ich reisen könnte, mit dem ich ins Kino oder in ein Restaurant gehen würde. Ich wäre gern oft mit ihm zusammen. Aber ansonsten will ich mein Leben so leben, wie ich es will. Ich brauche meine Freiheit.

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Zur Person: Benoîte Groult wurde am 31. Januar 1920 in Paris als Tochter einer Modedesignerin geboren. Sie studierte Literatur, arbeitete bis 1953 als Fernsehjournalistin und publizierte mit ihrer Schwester Flora Bücher. 1972 veröffentlichte Benoîte Groult ihren ersten eigenen Roman ("Die Dinge, wie sie sind"). Berühmt wurde sie mit ihrem Bestseller "Salz auf unserer Haut", der – auch autobiografisch inspirierten – Geschichte einer Liebe zwischen einer Intellektuellen und einem Fischer. Ungewöhnlich waren sowohl die Themen der bekennenden Feministin als auch ihr Liebesleben: Benoîte Groult war in dritter Ehe mit dem Schriftsteller Paul Guimard verheiratet – aus dieser Ehe stammt ihre dritte Tochter Constance –, und sie hatte parallel jahrzehntelang eine Liaison mit einem amerikanischen Piloten.

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