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Wenn Kinder ausziehen

Wenn Kinder ausziehen
© rja/istockphoto.com
Wenn Kinder von zu Hause ausziehen, ist es schwer, sie loszulassen. Wie es trotzdem gelingt.

Sie hatte sich so auf dieses Wochenende gefreut. Nur sie und ihre Tochter Anna, ein Wellnesshotel in Warnemünde, Strand, Sauna, gutes Essen und ganz viel Zeit zum Reden. Es war schwierig gewesen, eine Lücke in Annas übervollem Terminkalender zu finden, als gefragte Webdesignerin für Modefirmen stieg Anna, 28, so regelmäßig in den Flieger wie ihre Mutter in den Bus. Doch gerade als diese ihren Koffer schließen wollte, kam der Anruf: "Mama, tut mir echt leid, aber ich muss heute noch nach Dubai."

Wir sind uns richtig fremd geworden.

Und so saß die 53-jährige alleinlebende Lehrerin Doris Franke* auf ihrem gepackten Reisekoffer und fühlte sich wie ein Ballon, aus dem langsam, aber unaufhörlich die Luft entweicht. Denn es war nicht nur das geplatzte Wochenende, übrigens nicht das erste, das sie so traurig machte, es war dieses Gefühl, auf der Prioritätenliste ihrer einzigen Tochter immer weiter nach unten zu rutschen. So eng war die Beziehung noch vor wenigen Jahren gewesen, so innig, alles hatte sie von Anna gewusst, selbst, wann sie ihre Periode hatte, und jetzt lebte sie in einer Welt, an der das Schild "Mütter müssen draußen bleiben" zu hängen schien. "Ich verstehe nicht genau, was sie beruflich macht, ich kenne ihre neuen Freunde nicht, ihr Alltag spielt sich auf Flughäfen und in Hotels ab, wir sind uns richtig fremd geworden", sagt Doris Franke traurig, "es ist die Panik vor dieser schleichenden, aber unaufhaltsamen Entfremdung, die mich einfach fertig macht."

Wenn Kinder ausziehen, bedeutet dies häufig Verlustangst

Wer Nachwuchs jenseits der Geschlechtssreife hat, kennt dieses Wehmutsgefühl, kennt ihn, diesen Abschied auf Raten. Gerade haben wir uns vom Stress und Chaos der Pubertät erholt, sind unsere schlampigen, pickligen, ekelhaften Teenies wieder zu sozial verträglichen Wesen geworden, da verlassen sie das Nest. Sagen einfach Tschüs.Fangen ein Leben an, dessen Alltag wir nicht mehr teilen, haben Freunde, die wir nicht mehr kennen, reisen ohne uns an Orte, von denen wir noch nie gehört haben, haben Jobs wie "Suchmaschinenoptimierer", bei denen wir kaum ahnen, was dahintersteckt.

Und wir fühlen diese würgende Verlustangst, die wir, vermeintlich so lässige Hüter cooler Beziehungskisten ("Loslassen heißt, beide Hände wieder frei zu haben!"), nicht in uns vermutet hätten. Obwohl es oft gerade wir sind, die unlustig und mit schlechtem Gewissen zum Hörer greifen, um unsere alten Eltern mal wieder anzurufen und uns zum Sonntagskaffee anzumelden.

Das ist die bittersüße Ironie: Wir sind tief enttäuscht, wenn sich unsere Kinder verhalten wie wir (früher) unseren Eltern gegenüber. Wenn sie nur bedingt Lust haben auf gemeinsame Unternehmungen, auf lange Gespräche, auf täglichen Telefonkontakt. "Mami, dafür hab ich doch meine Freunde", bekam die 48-jährige Krankenschwester Uschi Zacharias kürzlich von ihrer Tochter Leonie, 20, zu hören, "mach dich doch einfach mal ein bisschen lockerer."

Wenn das so einfach wäre. Denn was ist zu locker und was ist zu fest, wenn es um unsere Kinder geht? Ist ein Anruf pro Tag zu viel, einer pro Woche vielleicht zu wenig? Müssen wir mit unserem eigenen Fleisch und Blut so vorsichtig umgehen wie mit einem bindungszögerlichen Liebhaber?

Dass wir diese Frage spontan mit Ja beantworten, macht uns am meisten Angst, der Satz "Mein Kind ist mir fremd geworden" ist kaum auszuhalten. Aber so ist es - ihre Art zu reden, das, was sie machen, wofür sie brennen oder was sie kalt lässt, es ist uns fremd. Wir kennen unsere eigenen Kinder nicht mehr. Alles, was uns früher verband, was wir geteilt und geliebt haben, gilt nicht mehr. Wie konnte das passieren, welche Fehler haben wir gemacht? "Keine", sagt der Psychologe Oskar Holzberg, "Kinder sind uns geliehen, sie sind nicht unsere Partner."

Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an unseren eigenen Eltern nehmen, denn die haben vor vielen Jahrzehnten unseren eigenen Sprung ins Leben oft sehr viel gelassener verkraftet, sind viel nahtloser ins kinderfreie letzte Lebensdrittel geglitten als wir, auch ohne ständige Kontrollmöglichkeiten durch Handy, E-Mail und Webcam - vielleicht sogar gerade deswegen. Sie sind nicht ausgerastet, wenn sie manchmal wochenlang nichts von uns hörten, weil uns die Nabelschau in Poona wichtiger war als Briefeschreiben. Und selbst wenn, hätte es uns ernsthaft interessiert?

Wenn Kinder ausziehen: Sprung ins eigene Leben

Nein, unsere alten Eltern haben nicht diesen Kult ums Kind getrieben wie wir, es gab Geschwister statt Einzelkinder, es wurde akzeptiert, dass Kinder außerhalb des Elternhauses Erfahrungen machen, dass sie wichtige Persönlichkeitsmerkmale entfalten, die auf Mamis Schoß oder an Papis Hand nicht möglich gewesen wären. Sie waren längst nicht so kontrollsüchtig wie wir. "Anna hat Finnisch gelernt, ohne mir davon zu erzählen", sagt Doris Franke, "weil sie sich, was ich auch nicht wusste, in einen Kinderkardiologen aus Helsinki verliebt hatte. Sie hat überhaupt nicht kapiert, warum mich das verletzt hat. Wieso, das betrifft dich doch gar nicht, hat sie gesagt." Was Doris Franke nicht erwähnt - sie selbst hat mit 17 in Gretna Green geheiratet, selbstverständlich ohne Einwilligung der Eltern.

Druck kann zu Entfremdung führen.

Ja, ausgerechnet unsere Generation tut sich schwer mit dem elterlichen Ablöseprozess, vermutlich weil wir glauben, im Gegensatz zu unseren vermeintlich so strengen, rigiden, autoritätsgläubigen Eltern den pädagogischen Eros mit Suppenlöffeln gegessen zu haben. Sind wir nicht die tollsten, verständnisvollsten Erzieher, die es je gegeben hat? Erlauben wir unseren Kindern nicht, in ihren Jugendzimmern Joints zu rauchen und Sex zu haben? Können wir deshalb nicht wenigstens von ihnen erwarten, regelmäßig angerufen und besucht zu werden? Aber es ist schwer, cool und verständnisvoll zu bleiben, wenn man sich gerade von dem Menschen zutiefst gekränkt fühlt, mit dem man jahrelang in einer zwar anstrengenden, aber auch innigen und erfüllenden Symbiose gelebt hat. Wie ohne seelische Karambolage herunterschalten von totaler Nähe auf emotionale Peripherie, wie erkennen, was wirkliche Entfremdung ist und was als ganz normale Abnabelung ertragen werden muss?

"Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten ist die Eltern-Kind-Beziehung in unserer Kultur eine idealerweise sehr nahe, zugewandte", stellt Oskar Holzberg fest und warnt, "die später leicht in eine von den Eltern zwar gewollte, das Kind jedoch einengende Symbiose ausarten kann. Das erzeugt Druck und kann dann tatsächlich zu einer Entfremdung führen." Natürlich sollen unsere Kinder ihre Flügel ausbreiten, ohne dass wir ständig daran herumzupfen, wir wollen ja, dass sie wachsen, sich entfalten, erwachsen werden. Wir wollen keine Nesthocker, die nicht flügge werden.

Aber wir wollen trotzdem, wenn schon nicht mehr erziehungs-, so doch zumindest daseinsberechtigt bleiben. Wir wollen ein wichtiger Teil ihres Lebens bleiben. Ist das etwa zu viel verlangt? So viel Liebe wird gebraucht, so viel Nähe gefordert, wenn unsere Kinder noch klein und abhängig sind. Wohin damit, wenn sie erwachsen sind? Ist es nicht verständlich, dass wir das, was wir emotional investiert haben, später zurückbekommen möchten? Dass, je älter wir werden, ein enger Kontakt zu unseren Kindern immer wichtiger wird?

Eltern sind die emotional Abhängigeren.

"Ja, wir als Eltern sind die emotional Abhängigeren", sagt die Hamburger Psychologin Heide Gerdts, "wir sind eine Selbstverständlichkeit, über die nicht nachgedacht wird, die oft ein bisschen lästig ist. Elternsein war und ist eine höchst altruistische Sache, ein spiritueller Weg, der einem viel an Selbstlosigkeit abverlangt."

Ein gutes Verhältnis zu unseren Kindern, Enkel, deren Aufwachsen wir begleiten - natürlich ist das die Lebensqualität, die unser letztes Lebensdrittel ausmacht. Beruf, Selbstverwirklichung, Beziehungsstress sind abgelegt, die neuen Themen heißen: Gesundheit, Freunde, Familie. Während wir bedürftiger und "puscheliger" werden, ist der Horizont für unsere Kinder grenzenlos. "Eine Entfremdung ist deshalb natürlich, gehört zum Ablösungsprozess, ist gut", meint der Psychologe Holzberg, "es ist falsch, sie nur als Angstfaktor zu erleben. Wichtig ist, dass wir unseren eigenen Egoismus überwinden, unseren Kindern ihr Erwachsensein gönnen." Wenn das so einfach wäre!

Wenn Kinder ausziehen: Die Eltern werden unbeweglicher, die Kinder sind mobil

"Ich beneide meine Freundinnen, deren Kinder alle verheiratet sind und in der Nähe wohnen", sagt die 62-jährige Witwe Beate Fuhrmann, "ich habe zwei Töchter, von denen die eine kinderlos in Texas wohnt und die andere ein Workaholic ohne Privatleben ist. Ich fühle mich um so vieles beraubt - um fröhliche Familienfeste, um einen gemeinsamen Alltag, um Enkel."

Denn genau in dem Maße, in dem wir älter und unbeweglicher werden, beneiden wir Freunde und Geschwister um genau das, was wir früher als spießig und einengend empfunden haben - um "nicht globale" Kinder und um Enkel, die wir aufwachsen und nicht einmal im Jahr auf dem Heimaturlaub sehen. Jetzt, wo unser Nest leer ist und wir auch nicht mehr ständig auf Achse sind, hätten wir lieber eine verbeamtete Grundschullehrerin als Tochter als eine IT-Expertin mit Jahresverträgen, deren Berufsbild uns so verständlich ist wie ein chinesisches Telefonbuch.

Es macht uns Angst, unsere Kinder in dieser hektischen Multioptionsgesellschaft zu beobachten: ständig neue Jobs, neue Partner, neue Städte. Nie Zeit oder zu viel Zeit, wenn sie beruflich oder in ihrem Privatleben die Kurve nicht geschafft haben und wir uns deshalb wieder Sorgen machen um sie.

Wir kleben gedanklich und emotional noch sehr viel länger an unseren Kindern, als unsere eigenen Eltern an uns geklebt haben, hat Heide Gerdts festgestellt, "weil es früher kein Hotel Mama gab, in das die Kinder jederzeit zurückflüchten konnten, geschweige denn wollten". Dieses kurze Auftanken zwischen zwei Zeitverträgen, die Kuschelnummer, die zwischen zwei Liebesbeziehungen bei den Eltern gesucht wird, die Finanzspritzen weit über den 30. Geburtstag hinaus, all das verhindert natürlich den klaren Schnitt, den Sprung ins Erwachsenenleben, und gaukelt uns Eltern eine trügerische Verlängerung der Versorgerrolle vor.

Wir müssen sie brechen, diese "Tyrannei der Intimität", fordert Holzberg, "diesen viel zu großen Kinderkult, die oft panische Überbewertung jeder Eigenbewegung. Die daraus resultiert, dass fatalerweise nur eine enge Beziehung zu unseren Kindern als gut gelebtes, verwirklichtes Leben gilt."

Eltern suchen eine Bestätigung ihres eigenen Lebens

Und genau deshalb schämen wir uns, wenn wir dies nicht geschafft haben oder glauben, es nicht geschafft zu haben. "Es ist jedes Mal wie ein Stich ins Herz, wenn meine Freundinnen mir von ihren tollen Familienurlauben erzählen und ich allein mit Studiosus auf Kreta war", sagt Uschi Zacharias, "es tut mir einfach weh, dass Leonie mit so wenig Kontakt so völlig zufrieden ist."

Denn es ist eine Bestätigung unseres eigenen Lebens, wenn unsere Kinder sich ein ähnliches Leben wünschen. Viel schwerer zu ertragen ist das, was Psychologen "Ambivalenztoleranz" nennen, Gelassenheit nämlich, wenn sie sich in Berufs- und Partnerwahl von unseren Werten entfremdet haben. Wenn ein Sohn als Zirkusclown sein Leben "verdaddelt", obwohl sein Vater ihm als Banker doch die "richtigen" Werte vorgelebt hat. Wenn die Tochter drei uneheliche Kinder von drei verschiedenen Männern hat, Nonne wird oder als Schafhirtin nach Neuseeland auswandert. Oder - was ganz besonders schmerzt - sich in der Schwiegerfamilie wohler fühlt als bei uns.

Ängste nicht verdrängen.

Auch hier hilft ein Rückblick in die Vergangenheit. Haben wir früher Elternwünsche berücksichtigt, als es um Beruf, Partner, Lebensmodelle ging? "Du meinst also, ich soll mit dem brotlosen Künstler, der bis nachmittags schläft, aber ein richtig guter Liebhaber ist, Schluss machen? Okay, Mami, mach ich. Danke für den guten Rat."

Ach diese Ängste! Diese Verzweiflung! Zurückzubleiben in einem leer gewordenen Leben! Einsam, ungeliebt, verstoßen vom eigenen Kind! "Nicht verdrängen", rät Oskar Holzberg, "es muss innerlich geklärt werden, warum wir solche Angst vor Entfremdung habe. Vielleicht sind ja einfach nur unsere Ideale falsch?" Wäre ja möglich, dass wir das Ganze zu verbissen sehen. "Wichtig ist, diese absolutistische Position ,Ich kenne dich, ich weiß, was gut für dich ist' aufzugeben", rät Holzberg, "besser ist ein ,Ich verstehe dich, obwohl ich nicht einverstanden bin'. Das ist die Brücke."

Vielleicht sollten wir, statt am Telefon zu lauern, selbst Finnisch lernen. Nicht beleidigt sein, wenn sie absagen, sondern vertraute Familienrituale auch mal infrage stellen. Kinder sind nicht unser Glücksgarant, und nichts strengt sie mehr an als Eltern, die ihnen das Gefühl vermitteln, ohne sie sei alles langweilig und sinnlos. Ein gut gelebtes Leben ist das schönste Geschenk, das wir unseren Kindern machen können. Dann kommen sie auch gern zum Sonntagsnachmittagskaffee vorbei. Und bringen vielleicht sogar den Kuchen selbst mit.

*alle Namen geändert

Text: Evelyn Holst Foto: iStockphoto

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