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Hilfe, meine Mutter ist anders

Eine Mutter, die nicht so ist wie die der Freundinnen - für die Tochter oft schwierig. Meine Mutter ist anders - das kann es eine Entwicklungschance für beide sein.

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Als Mädchen wünschte sich Alexandra Günther einen Jeansrock - in der DDR nicht leicht zu bekommen. Glücklicherweise war ihre Mutter Modedesignerin. Elke Günther wusste, wie man an Stoffe rankam, und nähte ihrer Tochter den Rock. "Allerdings hat sie ihn nach ihrer Art flippig-kreativ gestaltet." Alexandra Günther lacht; heute kann sie das, damals war ihr nicht nach Lachen zumute. "Der Stoff war viel zu dunkel, und hinten prangte eine rote Schleife." Alexandra hatte sich einen normalen Jeansrock gewünscht. "Durch meine rebellische Art bin ich in der Klasse schon genug aufgefallen, da musste ich nicht auch noch optisch aus der Reihe tanzen." Ihre Mutter, die in ihrer Jugend ein Hippie gewesen war und mit verrückten Outfits durch Ost-Berlin lief, während die meisten Frauen hinter Einheitslook verschwanden, konnte das nicht nachvollziehen. Der Jeansrock war nicht das einzige auffällige oder ungewöhnliche Kleidungsstück, das sie für ihre Tochter nähte. Meist kam Alexandra Günther nicht gegen ihre Mutter an. "Ich habe die Sachen dann ausgezogen, sobald ich aus der Wohnung war", erzählt die 35-jährige Berlinerin heute.

"Manchmal fand ich meine Mutter ein bisschen peinlich. Zum Beispiel, wenn sie aufgedreht auf der Straße vor sich hin trällerte"

Man sagt, Kinder wollen nicht anders sein als andere Kinder. Was aber, wenn die eigene Mutter gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt? Macht sie ihre Tochter damit unglücklich, zur Außenseiterin? Oder ist eine Tochter zufrieden, wenn ihre Mutter glücklich ist? Manchmal fand Alexandra Günther ihre Mutter ein bisschen peinlich, zum Beispiel, "wenn sie aufgedreht auf der Straße vor sich hin trällerte". Meist war sie jedoch stolz auf sie, "weil sie so selbstbewusst ihren Stil und ihre Meinung vertreten und immer wieder Neues ausprobiert hat - darin wollte ich ihr nacheifern". Vor der Wende verkaufte Elke Günther ausgefallene Kleidung auf den neu entstandenen Märkten. Staatlichen Restriktionen zum Trotz verdiente sie damit in den letzten Jahren der DDR "sehr viel Geld". Elke Günther lebte ihren Töchtern früh vor, dass man es mit Einfallsreichtum, Mut und Beharrlichkeit weit bringen kann - egal, was andere davon halten. Gleichzeitig lernte Alexandra aber auch: "Was zu anderen passt, muss deswegen noch lange nicht zu mir passen."

Die Psychologin Gertraud Finger schreibt in ihrem Buch "Auch Mütter dürfen Nein sagen": "Die Entschlossenheit der Mutter und die Reibung zwischen den Normen der Gesellschaft und der Lebensweise der geliebten Mutter kann die Tochter früher reifen lassen." Aber sind manche Mädchen damit nicht überfordert, vor allem, wenn es beim "Anderssein" der Mutter um weitreichendere Themen geht als um ein Faible für ausgefallene Kleidung?

"Mit 13, 14 habe ich mir schon gewünscht, dass meine Mutter so ist wie andere"

Lara-Louisa Otte war sieben, als ihre Mutter von Hannover in eine Landkommune im brandenburgischen Bad Belzig zog. Ihre Eltern waren seit dreieinhalb Jahren getrennt, Lara-Louisa war gerade eingeschult worden, und deshalb blieb sie beim Vater und dessen neuer Patchwork-Familie. Trotz gemeinsamer Wochenenden und Ferien in Belzig vermisste sie ihre Mutter sehr, wollte aber auch nicht auf ihren Vater verzichten. "Damals war ich oft traurig und wütend auf meine Eltern und die ganze Situation", erzählt die 22-Jährige. "Gefühle, die ich nicht einordnen konnte, auch Hilflosigkeit, weil ich nichts daran ändern konnte." Mit neun Jahren zog sie auch ins ZEGG (Zentrum für Experimentelle GesellschaftsGestaltung), der Lebensgemeinschaft ihrer Mutter, in der heute 60 Erwachsene und 20 Kinder leben. Sie blieb, bis sie fast 17 war.

Bevor sie nach Belzig zog, war Evelyn Otte häufig Gast dort. Die Menschen und Themen, die dort behandelt wurden, übten eine starke Anziehungskraft auf sie aus: Leben in einer Gemeinschaft, umweltbewusstes Handeln und Liebe, in der alle Arten von Beziehungen akzeptiert sind. Die Entscheidung, ohne Lara-Louisa wegzuziehen, fiel ihr dennoch schwer. "Ich habe mir sehr viele Gedanken darüber gemacht, was für die Kinder gut ist, was für mich gut ist. Für mein Gefühl habe ich lange gewartet, und hinterher habe ich gemerkt, dass die Trennung für Lara-Louisa zu früh war."

Hätte Evelyn Otte deshalb bleiben sollen? Auch mit ihrer älteren Tochter gab es Probleme: Sie war 16, hatte ihre Freunde. "Nach langem Hin und Her entschloss sie sich, mit mir herzuziehen", sagt Evelyn Otte. "Als wir dann hier waren, hat sie mich erst mal nicht mehr angeguckt."

Trotz der Schwierigkeiten, die entstehen können: Gertraud Finger warnt Frauen davor, für ein harmonisches Miteinander auf die Umsetzung eigener Wünsche zu verzichten. Sie schreibt: "Es ist nicht die Aufgabe der Mutter, sich für das Kind aufzuopfern." Mütter, die immer zurückstecken, würden nur unnötigen Druck erzeugen. Sie würden ihre Sehnsüchte stärker auf ihre Kinder projizieren und seien tiefer getroffen, wenn die Kinder ihre Erwartungen nicht erfüllen. "Möglicherweise kommen die Kinder dann gar nicht dazu, eigene Vorstellungen für ihr Leben und eine eigene Identität zu entwickeln." Oder die Mutter wird neidisch auf ihr eigenes Kind, wenn es mehr Mut hat, seinen eigenen Weg zu gehen.

"Die Leute waren immer fassungslos, was sie alles kann, und ich war natürlich auch stolz darauf"

Auch wenn der Zeitpunkt vielleicht nicht der beste war, die Entscheidung, ins ZEGG zu ziehen, empfinden Evelyn Otte und ihre Töchter heute als positiv. Die Mädchen lebten sich schnell ein und profitierten auf unterschiedliche Weise: "Lara-Louisa war sehr interessiert daran, was wir hier auf der geistigen Ebene machen", erzählt ihre Mutter. "Sie hat auch sehr von der Weltoffenheit, von den vielen internationalen Gästen profitiert. Meine ältere Tochter hat sich eher von der emotionalen Seite genähert. Sie unterhielt sich oft stundenlang mit verschiedenen Menschen auf unserem Dorfplatz." Und beide hätten die Freiheit in Belzig genossen. Evelyn Otte hat dort gelernt, ihre Kinder nicht dauernd zu kontrollieren. "Klarer zu sein, wo es wichtig ist, und sich als Mutter zurückzunehmen, wo man die Kinder nur terrorisiert. Sie suchen sich hier auch andere Bezugspersonen, von denen sie was lernen können."

Mit elf Jahren zog Lara-Louisa in ein Haus, in dem Jugendliche der Gemeinschaft relativ selbständig leben können, wenn sie es wollen. Die ersten zwei Jahre wohnte Evelyn Otte auch dort, später besuchte sie ihre Tochter täglich. "Für mich war das getrennte Wohnen manchmal hart", erinnert sie sich, "aber es hat für Lara-Louisa eine Lebensqualität geschaffen, die ich respektiert habe." Die gesamte Pubertät ihrer Tochter hindurch hätten sie keine nennenswerten Konflikte gehabt, "weil sie ihren Raum hatte". Lara-Louisa bestätigt das. "Unsere Beziehung war und ist stark. Meine Mutter und mein Vater waren immer für mich erreichbar, aber wir hatten nicht diesen Druck, wie er in manchen Kleinfamilien entsteht, die sich zu sehr auf sich konzentrieren." Dennoch fehlte ihr ab und zu ein Rückzugsort für die Familie. Evelyn Otte bedauert auch, dass es keinen solchen Raum gab.

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Erich Fromm hat in seinem Klassiker "Die Kunst des Liebens" darauf hingewiesen, dass eine wahrhaft liebende Mutter nicht nur die Bindung zu ihrem Kind fördert, sondern auch dessen Loslösung von ihr. Offenbar können Mütter, die sich trauen, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, leichter loslassen. Sie wissen, dass es viele Möglichkeiten gibt, um glücklich und selbstbestimmt zu leben. Sie selbst haben es ja auch geschafft, warum sollte ihr Kind nicht genauso seinen Weg gehen?

Nora Courtpozanis vergisst manchmal, dass ihre Mutter blind ist; sie kennt sie nicht anders, und Anna Courtpozanis kann aufgrund lebenslangen Trainings und technischer Hilfsmittel fast alles tun, was andere Frauen auch tun. Die Sozialpädagogin nimmt täglich Bus, Straßenbahn und U-Bahn von Rossdorf in der Nähe von Darmstadt bis nach Frankfurt, wo sie als Fundraiserin für den hessischen Blinden- und Sehbehinderten-Bund arbeitet. Als Nora und ihr Bruder klein waren, hat ihre Mutter mittags für die Kinder gekocht, den Haushalt gemacht und ging allein zum Metzger, Bäcker und ins Reformhaus. "Nur im Supermarkt war immer mein Vater dabei", erklärt Nora. Und auf den Spielplatz kamen sehende Freundinnen der Mutter mit. Die anderen Kinder wurden mit dem Auto in den Kindergarten und zu den Nachmittagsaktivitäten gefahren, Anna Courtpozanis ging mit ihren Kindern immer zu Fuß. "Ich glaube, dadurch wurde mir erst klar, dass meine Mutter irgendwie anders ist", erinnert sich Nora. Zeitweise fühlte sie sich dadurch benachteiligt. "Es gab schon Dinge, die ich nicht mit ihr machen konnte." Vieles habe sie deshalb früh selbständig erledigt. "Meinen ersten BH habe ich zum Beispiel mit einer Freundin gekauft."

Wut auf ihre Mutter wegen deren Blindheit hat Nora nie zugelassen. Sie wusste ja, dass ihre Mutter nichts dafür konnte. Und Anna Courtpozanis forderte nie Hilfe von ihren Kindern; wenn Nora einkaufen ging, dann freiwillig, um ihre Mutter zu entlasten. Überhaupt hätten sie immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt, betonen beide. Auch jetzt noch, da Nora nach einem Abstecher nach Frankfurt wieder in Darmstadt lebt und als Sozialpädagogin mit Drogenabhängigen arbeitet, telefonieren sie oder sehen sich täglich. "Wenn es um meine Mutter ging, waren immer alle fassungslos, was sie alles kann; und ich war natürlich auch stolz darauf", erzählt Nora. Als Kind habe sie nie Angst um ihre Mutter gehabt, die sei erst gekommen, als sie erwachsen war und "mal darüber nachdachte, wie sie das hinkriegt".

Anna Courtpozanis wollte ihren Kindern vermitteln, dass man trotz Blindheit normal leben kann. Da sie von Geburt an blind ist, hatte sie ihr Leben lang Zeit, sich darauf einzustellen, und die äußeren Umstände waren günstig.

So lernte Nora Courtpozanis an ihrer Mutter, dass man Schwächen kompensieren kann. "Körperliche Behinderungen sind für mich nicht tragisch", sagt die 25-Jährige. Um auch bei Noras Freunden keine Scheu davor aufkommen zu lassen, zeigte Anna Courtpozanis der Kindergartengruppe ihrer Tochter unter anderem, wie man Brot backt. "Die Kinder merken, dass diese Frau etwas besser kann als sie, in diesem Fall mehr ertasten", sagt Heike Buhl, Professorin am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Paderborn. Sie findet das richtig. "Wenn eine Mutter erst kürzlich erblindet ist, ist es vorstellbar, dass sie und ihre Kinder die Behinderung verstecken. In so einem Fall wäre die Andersartigkeit belastender." Allerdings: "Spätestens, wenn die Kinder zehn sind, sollte man sie fragen, ob es ihnen recht ist, wenn man sich mit solchen Aktionen einbringt."

Nicht jede Tochter kommt in jeder Lebensphase damit klar, dass ihre Mutter anders ist als andere Mütter. Psychologen gehen davon aus, dass Kinder spätestens in der Grundschule beginnen, soziale Vergleiche zu ziehen. Sie stellen dann zunehmend ihre Eltern infrage; in der Pubertät wird die Abhängigkeit von den Eltern durch die Abhängigkeit von Gleichaltrigen ersetzt. Am wenigsten Probleme dürften erwachsene Frauen mit der Andersartigkeit ihrer Mutter haben, vorausgesetzt, die Abnabelung ist einigermaßen geglückt.

Auch Franziska Heinicke wurde stark von der Lebensweise ihrer Mutter geprägt. Elke Heinicke ist lesbisch, seit Franziskas zweitem Lebensjahr mit Frauen zusammen und war immer politisch engagiert. In der Leipziger Wohnung, in der Mutter und Tochter zeitweise mit Elke Heinickes Freundin und deren Tochter lebten, fanden Bundesarbeitstreffen des Lesbenrings statt. "Dass Franziska mit zwei Frauen aufwächst, war in diesem Kontext normal", sagt Elke Heinicke, die heute an einem beruflichen Gymnasium in Heidelberg lehrt. Franziska studiert Volkswirtschaftslehre in Bonn und engagiert sich im Umweltschutz. Die 22-Jährige fand es spannend, dass zu Hause immer viele verschiedene Frauen waren. "Es wurde viel diskutiert, es war sehr lebendig."

"Dass sie lesbisch ist, war in meiner Schule kein Geheimnis. Meine Mutter hatte keine Angst vor den Reaktionen anderer Leute"

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Anders sei ihr das Zuhause nur vorgekommen, wenn Außenstehende dabei waren. In der Grundschule erwähnte sie nicht gern, dass ihre Mutter mit einer Frau zusammenlebte. "Es war aber auch kein Geheimnis. Meine Mutter hatte keine Angst vor den Reaktionen anderer Leute." In der Mittelstufe wurde Franziska immer wieder darauf angesprochen, Witze wurden gerissen. "Für viele war das so ungewohnt... An sich war das nicht schlimm, ich hatte nur überhaupt keine Lust, über das Liebesleben meiner Mutter zu reden. Wer hat das schon in dem Alter?" Heute spricht sie entspannter darüber.

Zur Lebensgefährtin ihrer Mutter hat Franziska ein enges Verhältnis. Zu ihrer Mutter sowieso. "Wir reden miteinander auf gleicher Ebene", sagt sie, "bei wichtigen Fragen wende ich mich an sie als erfahrenere Frau." Was ihre Zukunft angeht, fühle sie sich für vieles offen. Wie sie ihrem Kind einmal erklären würde, warum ihre Mutter mit einer Frau zusammenlebt? "Eigentlich hoffe ich, dass solche Erklärungen dann nicht mehr nötig sind", antwortet sie schnell. "Aber wenn es fragen sollte, würde ich ihm sagen, dass Menschen verschieden sind und dass jeder seine Vorlieben hat, nach denen er leben soll."

Auch Lara-Louisa Otte hatte sich "besonders mit 13, 14 schon gewünscht, dass meine Mama so ist wie andere Mütter". Dass sie anders lebten als ihre Klassenkameraden, habe sie jedoch herausgefordert, sich mit sich selbst und ihrer Lebensweise auseinanderzusetzen. "Ich bin anders, ob ich es will oder nicht." Sie hatte zwar auch immer Freunde außerhalb des ZEGG, die Gespräche mit Mitschülern empfand sie dennoch häufig als oberflächlich. "Ich wollte mich nicht darüber unterhalten, was am Tag zuvor im Fernsehen gelaufen war, sondern über Zwischenmenschliches, Ökologie und Nachhaltigkeit diskutieren - Dinge, die bei uns Thema waren."

Heute studiert Lara-Louisa in Wien Kultur- und Sozialanthropologie. Manchmal fragen Freunde sie, wie es in der Landkommune war, in der sie vorher gelebt hat. Darauf kurz und in einfachen Worten zu antworten sei allerdings schwer, sagt sie. Zu verschieden sind die beiden Welten. Ihr neues Leben in der Großstadt macht ihr keine Schwierigkeiten, sie ist offen und neugierig. Und doch hat die Welt, aus der sie kommt, ihre Wünsche geprägt: "Ich kann mir vorstellen, später einmal mit mehreren Familien einen Hof zu kaufen, wo man einander unterstützt und mehr oder weniger autark lebt." Je ungewöhnlicher die Töchter aufgewachsen sind, desto offener scheinen sie für unterschiedliche Lebensmodelle zu sein.

Elke Günther, die Modeschöpferin, ist jetzt 63 Jahre alt, und noch immer kleidet sie sich außergewöhnlich. "Manchmal hänge ich einen Ohrring oder eine Kette an meine Mütze oder so", sagt sie und lacht. Ihren Kleidungsstil bezeichnet sie als individuell, nicht der Mode, nur ihrer Stimmung angepasst. Ihre Tochter Alexandra ist Biotechnologin, im Alltag trägt sie sportliche Kleidung, auf Partys schon mal ungewöhnliche Stücke. Und wie die Mutter mag sie kein Weiß. Ihren siebenjährigen Sohn kleidet sie gern farbenfroh. "Ich habe die Einstellung, Kinder müssen wie Bonbons aussehen, bunt und süß. Ich frage ihn aber immer, ob er die Sachen anziehen möchte."

Text: Jeanette Villachica BRIGITTE woman 12/12

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