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Nachwuchs aus dem Haus: Kinderzimmer renovieren?

Soll man das Kinderzimmer renovieren, sobald der Nachwuchs das Haus verlassen hat? Zwei Frauen und ihre Strategien, die ehemaligen Kinderzimmer mit neuem Leben zu füllen.

Der Luxus von Zeit und Raum

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"Man kann es drehen und wenden, wie man will - wenn Sohn oder Tochter ausziehen, bleibt immer ein leerer Raum zurück. Im Haus, aber auch in unserem Inneren." Die Wahl-Zürcherin Dörthe Binkert, 59, hat den kritischen Moment schon hinter sich. Wenn das Kind kein Kind mehr ist. Wenn es hoch erhobenen Hauptes das Haus verlässt. Die Zukunft rufen hört. Ein eigenes Leben führen will. Man weiß, dass es so kommen muss. Und doch: Den meisten Eltern fällt dieser Abnabelungsprozess sehr schwer. Als ihr Sohn Julian seine Ankündigung, nach der Ausbildung zum Innenarchitekten auszuziehen, wirklich wahr machte, war Dörthe Binkerts Wohnung seltsam leer. Sie fühlte sich, als sei eine Beziehung zu Ende gegangen. "Zu diesem Zeitpunkt ist man als alleinerziehende Mutter nämlich wirklich Single", sagt sie. Und das kann weh tun!

Die Lektorin, die 30 Jahre lang Sachbuchprogramme für verschiedene Verlage geleitet hatte und in Zürich in einer wunderschönen Altbauwohnung lebt, hat Julian seit seinem vierten Lebensjahr allein großgezogen. Ihr Zuhause, umgeben von idyllischen Gärten, hat sie auf Dauer nie mehr mit einem anderen Mann geteilt, obwohl sie auch wieder langjährige Partnerschaften einging. "Man gewöhnt sich daran, ein eigenes Reich zu haben, und für meinen Sohn war es einfacher so", sagt sie.

Plötzlich ist der Sohn weg...

Dann kam das Jahr 2005. Nach seiner Weltreise wollte Julian sich ein Zimmer in einer WG suchen. Der Zeitpunkt schien perfekt. Auch für Dörthe Binkert: Ihr Haus sollte demnächst renoviert werden - und sie hatte eben ein Autoren-Stipendium für die USA bekommen. Aber nach Julians Auszug war alles anders. Plötzlich steckte sie mitten in der Trauerphase, denn: "Das Grundgemurmel fehlte." Sie vermisste das Geplapper und Gelächter, wenn seine Freunde zu Besuch waren, das Geräusch, wenn er mit seinen ausgelatschten Turnschuhen über die Dielen schlurfte. Ja sogar die laute Rockmusik, die manchmal aus seiner Anlage dröhnte. . .

Sie erinnert sich an Wochen voller Schweigen, in denen sie sich mühsam beherrschen musste, ihrem Sohn nicht hinterherzutelefonieren. Julian war viel klarer in seinem Verhalten - und sehr gut darin, der Mutter selbstbewusst die Grenzen aufzuzeigen. "Er lud mich in seine WG zum Essen ein und ließ auf seine charmante Art durchblicken, dass ich deshalb noch lange nicht jede Woche kommen müsse."

Das Kinderzimmer bewusst renovieren, damit die Kinder wieder kommen

Aber langsam begann sie, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Sie spürte, dass ein ganz neues Leben vor ihr lag. "Fast wie damals, als ich noch jung war." Dörthe Binkert ist eine zierliche, äußerst geradlinige Person. Theoretisch wusste sie schon lange, wie sie handeln muss: bloß keinen "toten Raum" in der Wohnung zulassen. Lieber versuchen, das alte Kinderzimmer mit neuem Leben zu füllen. Also machte sie einen klaren Schnitt und verwandelte Julians ehemaliges Zimmer in ein Gästezimmer. Julian half ihr dabei. Er räumte seine alten Spielzeugschätze, das Piratenschiff, die Poster und Sporttrophäen in eine große Kiste. Gemeinsam holten sie einen Teppich vom Dachboden und dekorierten um. Statt seinem Bett steht heute nur noch eine schmale Besucherliege an der Wand, ein antiker Schreibtisch und das Klavier schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Manche der schönen alten Möbel hatten sie früher zusammen auf dem Flohmarkt gekauft. Die standen also schon in seinem alten Zimmer. Trotzdem hat Dörthe Binkert den Charakter des Raumes bewusst verändert. Nichts schlimmer, als die vertraute Ordnung der Möbel für immer festzuschreiben, findet sie. Denn ist ein Raum zum Museum erstarrt, kommen die Kinder noch seltener nach Hause.

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Inzwischen ist Dörthe Binkert sehr glücklich mit ihrer neuen Lebenssituation. Denn nachdem sie schon vielen fremden Büchern auf die Welt geholfen hatte, war ihr größter Wunsch, mehr selbst zu schreiben. Am liebsten einen Roman. Endlich hatte sie dafür die Zeit - und den Raum: Julians Kinderzimmer. Das nutzt sie heute als Arbeitszimmer. Ein Luxus, findet sie, und ungemein inspirierend! Dort hat sie die Muße und den Platz, sich auszubreiten und einzutauchen in die Geschichten, die in ihrem Kopf spielen. Dort entstand ihr erster Roman, der auch von einem Aufbruch erzählt. "Weit übers Meer" handelt von einer jungen Frau, die in einem atemberaubenden weißen Abendkleid, aber ohne Geld, an Bord eines Ozeandampfers übers Meer in ein neues Leben fährt . . .

Die Familien-WG

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Tausende Kilometer vom schicken Zürich entfernt lebt in einem alten Landhaus in Wales Annette Charpentier. Sie hat etwas perfektioniert, was den wenigsten Menschen eigen ist: eine spielerische Gelassenheit in fast allen Lebenslagen. "Hallo, ich bin die Annette", nimmt einen die 59-Jährige fröhlich am Bahnhof von Wrexham in Empfang. Annette Charpentier ist schlank, trägt zu engen Röhrenjeans knallrote Peep-Toes und die langen dunklen Locken offen. Sie wirkt noch so unglaublich mädchenhaft, so unkompliziert. Das liegt wohl an ihrer Art und Sätzen wie: "Was soll ich lang planen - es kommt ja doch immer anders, als man denkt." Während sie zügig im roten Auto die walisischen Hügel hochfährt, erzählt sie aus ihrer ungewöhnlichen Lebensgeschichte. Dass sie mit 20 geheiratet hatte, bis Ende 20 Studentin und Ehefrau war. Dass sie dachte, sie könne nicht schwanger werden. Bis ihr Mann sie wegen einer anderen verließ und sie selbst sich wenig später in einen Friedensforscher verliebte. Von dem sie dann sofort schwanger wurde. Aber schon wieder ein spießiges Leben im Bungalow führen wollte sie nicht. So wanderte Annette Charpentier als Neu-Single und Mutter der zweieinhalbjährigen Feline vor 27 Jahren nach Großbritannien aus. Als Übersetzerin mit einem Netz von Auftraggebern im Hintergrund konnte sie es sich leisten, ein großes Haus zu mieten. Erst mal nur für sich und das Kind. Aber wirklich allein sollte sie nie sein. Denn peu à peu wurde ihr Idyll hinter den alten Bäumen, mit dem schwarzen Hund und dem Bauerngarten zum "Mutterhaus".

Leer ist es nie

Es kamen noch zwei Töchter - von anderen Männern. Heute ist Feline 29, Nia 23 und Leonie 19 Jahre alt, alle drei sind ziemlich ehrgeizig und wohlgeraten. "Mein Hippie-Leben haben sie nicht übernommen. Jede träumt von der dauerhaften Liebe. Aber die Bindung zwischen uns ist unverändert eng." Wenn Annette merkt, dass jemand etwas braucht, gibt sie gern. So kommt es, dass sie fast immer irgendwelche Kinder um sich hat, inklusive ihrer Stiefkinder und der Töchter und Söhne von Freunden, die in den Ferien ihr Englisch aufbessern sollten und denen es so gut gefiel, dass sie auch heute noch immer mal wieder vorbeischauen.

Momentan lebt Leonie wieder bei ihr, zusammen mit ihrem Freund Anthony. Die beiden fahren jeden Tag von hier aus zur Arbeit - haben in Felines altem Zimmer aber auch ihre Privatsphäre mit Fernseher und Couch. Wie in einer generationenübergreifenden WG. Nach der Ausbildung hatte das junge Paar zunächst ein eigenes Häuschen gemietet, aber als ihm klar wurde, wie viel so was kostet . . . Tja, da saßen sie schnell wieder in Annettes großer Küche am langen Holztisch.

Das Kinderzimmer zu renovieren ist wie ein neues Leben

Von deren Fenster aus hat man einen Blick auf die Ziegen im Bauerngarten. Nebenan gibt es ein geräumiges Wohnzimmer mit Kamin. Und Annette Charpentiers Arbeitszimmer, in dem sie übersetzt, wenn sie nicht Bücher über Rentnermarotten oder Schlafstörungen schreibt. In den vergangenen Jahren war ihr der Luxus einer eigenen Schreibstube nur selten vergönnt. Da musste sie sich meistens oben in ihr Schlafzimmer zurückziehen, weil das Haus ständig ausgebucht war.

Vor zwei Jahren kam ihre Große, die Grundschullehrerin Feline, aus London zurück, weil sie zusammen mit Adam, ihrem Freund, im Nachbardorf eine Bäckerei gekauft hatte. Da gab es zwar auch eine Wohnung, aber die musste erst renoviert werden. Und aus der Frage "Dürfen wir ein bisschen bei dir wohnen!?" wurden dann fast eineinhalb Jahre.

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Das Zimmer, aus dem Feline und Adam gerade erst ausgezogen sind, spiegelt die Zwischenphase wider: Neben Möbeln, die sie in der neuen Bleibe nicht mehr brauchen, steht da ein Schreibtisch mit nagelneuem Computer - sozusagen das Büro der Bäckerei. Hier macht Feline zweimal wöchentlich die Buchhaltung. Oft bleibt das Paar dann doch über Nacht im alten Zimmer, weil es dort so gemütlich ist.

Zeitweise lebte auch die mittlere Tochter Nia wieder unter ihrem Dach, als sie nach einem Auslandsaufenthalt auf Jobsuche war. Heute arbeitet Nia als Pressesprecherin für eine Hilfsorganisation in London. Die alten Teenagermöbel und Kinderzeitsouvenirs hat sie bis heute nicht verändert. "This is home", zitiert Annette Charpentier die Tochter, die immer mal wieder in ihre Mädchenwelt zurückkehrt, um sich von der Großstadthektik zu erholen. "Na ja, manchmal wurde die Vollbelegung sogar zu viel", gibt sie zu. Statt eines gemütlichen Wochenendes allein, ohne größere Planung und Einkäufe, erlebte sie einen Marathon aus Kochen, Organisieren, Aufräumen. Aber im Grunde liebt Annette Charpentier dieses spontane Chaos: "Bei mir werden die Kinderzimmer wohl auch immer irgendwie Kinderzimmer bleiben."

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Die Töchter schätzen es, dass sie bei ihrer Mutter ganz sie selbst sein dürfen. Dass ihre kreative Hippie-Mama immer wieder neue Dinge anfängt, ihr eigenes Leben lebt und sich nicht aufdrängt. "Die Mädchen haben wohl einfach gespürt, dass ich immer für sie da sein werde. Uneingeschränkt", sagt sie. Da fällt das Loslassen dann auch nicht mehr so schwer, denn wer weiß, wer als Nächstes bei ihr vorbeischneit. Vielleicht bekommen ihre Töchter ja selbst bald Kinder? Angst vor dem Alleinsein kennt Annette Charpentier jedenfalls nicht. Dafür hatte sie schon immer zu viele Ideen, die nur etwas mit ihr selbst zu tun haben - ein Haus in Spanien kaufen und renovieren oder mit über 40 in Chester noch mal ein Studium zur Gesprächstherapeutin machen - ein Beruf, den sie jetzt an zwei Tagen pro Woche auch noch ausübt.

Das Geheimnis liegt im Loslassen

Wahrscheinlich liegt hier das Geheimnis eines lebendigen Elternhauses: Wer die Kinder nach dem Auszug einfach ihre Erfahrungen machen lässt, ohne an ihnen zu zerren, und eigene Pläne schmiedet, hat den größten Erfolg. Es ist wie bei jeder Trennung: Zunächst sollte man respektvoll Abstand wahren - bis beide Parteien sich neu erfunden haben.

Text: Lisa Stocker Fotos: Anne Gabriel-Jürgens und Ulrike Leyens

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