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Die Geschichte einer mutigen Entscheidung

Julie Nicholson hat ihre Tochter bei den Terroranschlägen in London verloren. Weil sie dem Mörder nicht vergeben kann, legte sie ihr Amt als Pastorin nieder.

Als sie Champagner bestellte, schaute der Wirt sie zweifelnd an. Es kommen nicht oft Menschen zu ihm auf den Hügel, wo es außer dem kleinen Lokal nur Schafe gibt, die ringsrum auf den hellgrünen Wiesen weiden. "Ich feiere meine Tochter", sagte Julie Nicholson. Dann bat sie den Wirt an den Tisch und erzählte ihm ihre Geschichte. Als sie bezahlen wollte, winkte er ab. "Lassen Sie nur, Sie feiern heute Ihre Tochter, und ich habe die Party ausgerichtet." Da war die Tochter von Julie Nicholson schon drei Monate tot.

Sie war am frühen Morgen des 7. Juli 2005 in der Londoner U-Bahn umgekommen. Vier Selbstmordattentäter hatten 52 Menschen mit in den Tod gerissen. Fünf Tage dauerte es, bis die Familie Gewissheit hatte, dass die 24-Jährige eine der Toten war. Fünf Tage, an denen sich ihre Mutter fühlte, so erzählt sie später, als fielen Dominosteine in ihr um. "Und jeder nachfolgende knallte mit noch größerer Wucht auf." Julie Nicholson sitzt auf einer einfachen Holzbank in der Holy Trinity Church in ihrer Heimatstadt Bristol. Sie sieht müde aus, trotz des leichten Make-ups und des Gloss auf den trockenen, aufgesprungenen Lippen. Sie erzählt von ihrer Reise nach Irland, auf der sie unterwegs mit Champagner auf Jenny angestoßen hat. Zwei Wochen war sie mit einer Freundin durch die hügelige Landschaft gefahren, hatte nach Weite und Stille gesucht. Beim Reden lässt sich die 53-Jährige viel Zeit, unterbricht ihre Sätze und schaut einen mit ihren wasserblauen Augen unverwandt an. Es sieht aus, als brauche sie diese Pausen. Sie hat so viel geredet seit den Attentaten, mit Journalisten, Fernsehleuten, Verlagen. Sie alle wollten über sie berichten. Über die Frau, die nach dem Tod der Tochter nicht mehr in ihr altes Leben zurückgefunden hat. Über die Pastorin, die nicht länger Pastorin sein wollte.

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Die schlichte protestantische Kirche auf einem Hügel über der Stadt ist nicht dieselbe Kirche, in der Julie Nicholson früher gepredigt hat. Hierher kommt sie, wenn sie Ruhe sucht, wenn keine Messen stattfinden, oft mitten am Tag. Es ist die Kirche, die die ganze Familie schon immer besucht. "Jenny sang hier im Chor Mezzosopran." Sie war die Älteste von drei Geschwistern. Als sie starb, hatte die junge hübsche Frau gerade ein Musikstudium abgeschlossen und eine gute Stelle bei einem Londoner Verlag bekommen. Wenige Wochen zuvor war sie mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Julie Nicholson sagt, sie habe gespürt, dass ihr Kind glücklich war wie lange nicht. "Noch einen Tag vor den Anschlägen hat sie eine SMS geschickt und aufgeregt berichtet, dass London 2012 die Olympiade ausrichten würde." Und für einen flüchtigen Moment zeigen sich auf dem Gesicht von Julie Nicholson ausgeprägt schöne Lachfalten.

Jenny war fort, doch sie sollte nach wie vor teilhaben am Alltag von Julie, Ehemann Greg und den jüngeren Geschwister Lizzie und Thomas. Und so erfand die Mutter kleine Rituale: Jeden Morgen zündet sie vor einem der vielen Fotos von Jenny ein Teelicht an. Am Anfang gab es ihr auch Halt, den Namen des Mörders einfach so vor sich hin zu murmeln. "Mohammad Sidique Khan". "Er war ja die letzte Verbindung zu meinem Kind, so absurd das klingt, es half, seinen Namen zu sagen."

Habe ich nicht alles Recht zornig zu sein?

Später versuchte Julie Nicholson ihn zu verstehen. Wie kam ein 30-jähriger Lehrer, Familienvater und britischer Staatsbürger dazu, in seinem Rucksack eine Bombe zu zünden? Sie lieh sich dutzende Bücher aus der Bibliothek, las tagelang, über Selbstmordattentäter und islamischen Extremismus. Sie fand keine Antwort. Und sie fand keinen Trost, nicht in den Büchern und auch nicht in den Gebeten und Geboten. "All die frommen Worte, mit denen ich selbst jahrelang den Menschen Trost gespendet hatte. Sie halfen mir jetzt nicht. Das hat mich sehr verstört", sagt sie.

Julie Nicholson ist ein gläubiger Mensch, aber dass sie einmal Pastorin werden würde, hatte sie so nicht geplant. Sie wurde Krankenschwester, heiratete, brachte drei Kinder zur Welt. Dann erfüllte sie sich einen Jugendtraum und studierte Theater und Literatur. Trotzdem spürte sie, dass es das noch nicht war. "Seitdem ich zwölf war, musste ich immer wieder an meine erste Messe denken. An den Duft des Weihrauchs, das riesige Kreuz, die klaren Chorstimmen. Aber es waren nicht nur die Symbole, die mich beeindruckt hatten. Es war das Verborgene, das Rätselhafte. Die Sehnsucht nach den großen Fragen ließ mich nicht los", sagt sie. Und so begann Nicholson Mitte der neunziger Jahre Theologie zu studieren und wurde 2000, mit Mitte vierzig, zur Pastorin geweiht.

Julie Nicholson wollte nicht mehr Versöhnung predigen

Mit ihrer Jeansjacke, den spitzen Stiefeln und dem kurzen blonden Haar, das sie mit Gel in dezente Unordnung gebracht hat, muss Julie Nichsolson als Leiterin der anglikanischen Gemeinde St. Aidan in Bristol außergewöhnlich modern gewirkt haben. Die Pastorin war sehr beliebt, in ihren Messen, sagt sie, habe eine fast andächtige Stille über dem Raum gelegen. Im Talar wieder auf die Kanzel treten – das stellte sie sich in den ersten Monaten nach dem Attentat immer wieder vor. Sie hörte sich in ihren Predigten von der Kraft der Vergebung sprechen, hörte sich auf die Zeile im Vaterunser verweisen, "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", oder auf Lukas 6,35, wo es heißt: "Liebet eure Feinde." Gebote, mit denen sie den Menschen in ihren Messen Trost gespendet hatte. Worte, die sie jetzt nicht mehr sprechen konnte. Die Pfarrerin fühlte sich nicht fromm, in ihr war kein Frieden, keine Güte, nur eine riesengroße Wut. "Sie stieg immer stärker in mir hoch. Von Tag zu Tag. Wie sollte ich so von Liebe und Versöhnung sprechen, von Frieden und Vergebung? Ich bin Pastorin, aber zuallererst bin ich Mutter." Julie Nicholson entschied, das Pfarramt aufzugeben.

Den Weg dahin ging sie allein. Zwar redete sie mit ihrem Mann über ihren Entschluss, saß lange Abende mit Freunden zusammen, aber Nicholson verwendet nicht ein einziges Mal das Wort "wir", wenn sie vom Leben nach dem 7. Juli spricht. "Jeder geht wohl mit seiner Trauer anders um", sagt sie. Sie wollte aufgewühlt sein dürfen, wollte ihre Erregung ausleben und das Entsetzen hinausschreien – ohne sich dabei schuldig zu fühlen. "Ich habe mein Kind verloren! Habe ich nicht alles Recht der Welt, zornig zu sein?"

Als sie im Frühjahr 2006 schließlich vor den Bischof von Bristol trat und ihm erklärte, dass sie den inneren Konflikt nicht anders lösen könne, zeigte der Verständnis, bot ihr an, zu bleiben. Nicholson ließ sich dennoch von ihrem Amt befreien. Und löste mit diesem Schritt eine gewaltige Debatte aus. Für Wochen beherrschte "die Pfarrerin, die nicht vergeben kann" die britischen Schlagzeilen. Julie Nicholson bekam in dieser Zeit viele Briefe. Die Menschen schrieben ihr, sie könnten verstehen, dass sie jetzt nicht von der Kraft der Vergebung predigen könne, ohne selbst daran zu glauben. Wer könne als Mutter schon den Mord des eigenen Kindes verzeihen? Wer könne das nach einem Dreivierteljahr?

Die Menschen in ihrer Gemeinde waren traurig über den Verlust ihrer Pfarrerin, aber noch mehr waren sie stolz. Hatte sie nicht gewagt, was sich heute nur noch wenige Menschen trauen? Aufrichtig und wahrhaftig zu sein, mutig genug, zu den eigenen Gefühlen zu stehen. Nahm sie ihren Glauben nicht sogar so ernst, dass sie den Beruf, den sie liebte, aufgab, um glaubwürdig zu bleiben? Wie viele hätten einfach weitergemacht und den inneren Widerspruch verdrängt?

Draußen hat es angefangen zu regnen. Julie Nicholson erhebt sich langsam von einem der grellbunt bestickten Gebetskissen, die etwas Farbe in den schlichten Kirchenraum bringen. Die Motive auf den Kissen erinnern an verstorbene Gemeindemitglieder, tragen liebevoll verzierte Jahresdaten oder zeigen Jesus, der Kinder an den Händen hält. Manche sind über zwanzig Jahre alt und durchgesessen, andere sind noch neu und hart. Auf so einem sitzt Nicholson, fast so, als gönne sie sich an diesem Ort des Gedenkens keine Bequemlichkeiten. Sie zündet vor einer kniehohen Maria-Figur in leuchtend blauem Gewand eine Kerze an. Das macht sie immer, bevor sie die Kirche verlässt. Draußen auf dem Friedhof sind die Grabsteine über die Jahrzehnte schief in die Erde gesunken, mit festen Schritten geht Julie Nicholson über die vom Regen aufgeweichte Wiese und scheint vergessen zu haben, dass sie Stilettos trägt. Ihre Bewegungen wirken kontrolliert, sie hält den Kopf sehr gerade. Ihre Blicke wirken starr. Lange schaut sie auf eine Stelle unter einer ausladenden Kastanie. Irgendwo hier ruht auch Jennys Asche, den genauen Ort will die Familie für sich behalten. Ihr Mann und ihre Kinder kommen häufig auf den Friedhof. Julie Nicholson sagt, sie brauche kein Grab, um an ihre Tochter zu denken. "Ich trage sie ohnehin immer bei mir." Mit unumstößlicher Gewissheit sagt sie das. Niemand kann ihr Jenny ein zweites Mal nehmen.

Ich ziehe aus meiner Wut positive Energie.

Jetzt, ein Jahr nach der Entscheidung, gibt es noch immer Abende, an denen sie unruhig durchs Haus streicht, weint und schreit, außer sich vor Zorn. "Es heißt doch immer, dass die Wut einen irgendwann auffrisst, wenn man sie nicht bekämpft. Das finde ich nicht. Im Gegenteil. Man kann sie aushalten. Ich ziehe aus ihr inzwischen sogar positive Energie." Julie Nicholson arbeitet wieder, leitet das Theater in der Diözese in Bristol. An ihrem Handgelenk trägt sie ein silbernes Kettchen. Ein befreundeter Goldschmied hatte es vor Jahren angefertigt, mit den zwei Symbolen des Theaters, einer weinenden Maske für die Tragödie, einer lachenden für die Komödie. Sie sieht darin Parallelen zum Leben. "Es steckt so viel Kraft im Theater. Und indem ich mit jungen Leuten Stücke inszeniere, verwandele ich meine Wut in etwas Kreatives. Kann ich meiner Tochter auf eine schönere Art Ehre erweisen?" Auf dem Weg zurück zur Kirche bleibt sie kurz stehen, schaut einen wieder mit diesem sehr direkten Blick an und sagt dann, als wüsste sie, dass diese Frage sowieso kommt: "Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass jemals genug Zeit verstreichen wird, um dem Mörder zu verzeihen, dass er mir das Liebste genommen hat. Ich finde, zum Vergeben gehört auch das Bereuen. Aber das kann er ja gar nicht. Er ist tot."

Abschied in der Londoner U-Bahn

Dann steigt Nicholson in ihren kleinen Toyota, mit dicken Lehmbrocken an den eleganten Absätzen. Sie will noch ins Krankenhaus fahren, eine Bekannte hatte einen Unfall. Nichts Bedrohliches, doch sie möchte einfach da sein. Am 7. Juli 2005 war sie es nicht, und dieser Gedanke schnürte ihr lange die Kehle zu. "Als Mutter will man sie immer beschützen, im Leben wie in dem Moment, in dem sie dich verlassen." Und da Julie Nicholson keine Angst hat, schwierige Wege zu gehen, fuhr sie ein Dreivierteljahr nach den Anschlägen allein nach London und stieg in die U-Bahn-Linie, die ihre Tochter damals genommen hatte. Zwischen den Bahnhöfen Edgware Road und Paddington hielt der U-Bahn-Fahrer auf ihre Bitte für einige Sekunden an. Julie Nicholson klammerte sich fest an den Haltegriff und sagte ihrem Kind Lebewohl.

Text: Julia Grosse<br/><br/>Fotos: Dominik Gigler

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