Anzeige

Generationen unter einem Dach: Neues Leben ohne Reue?

Wenn Eltern zu ihren erwachsenen Kindern ziehen, lassen sie nicht nur einen Ort, sondern ein ganzes Leben hinter sich. Wie lebt es sich mit mehreren Generationen unter einem Dach? Eine Familie erzählt.

"Für meinen Sohn wäre ich auch nach Amerika gegangen"

image

Judith Hatzack, 65, Buchhalterin im Ruhestand, zog mit ihrem Mann Rolf von Leverkusen nach Freiburg zu ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter. Als Wolfgang mich vor fünf Jahren fragte, ob wir nach Freiburg kommen wollen, musste ich nicht lange überlegen. Er wusste, dass ich in seiner Nähe leben möchte. Und ich wusste, dass Wolfgang nicht nach Leverkusen zurückkommen wird. Ich musste nicht überlegen. Ich habe nur den einen Sohn, und für den wäre ich auch nach Amerika gegangen. Ich bin altmodisch: Für mich gehört die Familie zusammen, an einen Ort. In Leverkusen dachte ich immer: Vielleicht erzählt mir Wolfgang nicht alles am Telefon. Vielleicht geht es seiner Frau Natalie und ihm schlecht, und die beiden sagen es mir nur nicht. Das war nicht so, aber ich habe mir eben Sorgen gemacht. Die beiden sind ja sehr dünn. Ich hätte gern häufiger für sie gekocht. Vielleicht sind Mütter so.

Für Rolf, meinen Mann, war der Umzug schwerer als für mich. Seit fast 40 Jahren lebten wir damals in Leverkusen, 35 Jahre davon in derselben Wohnung. Mitte der 70er Jahre waren wir von Rumänien nach Deutschland gekommen. Rolf hatte bis zur Rente für Bayer gearbeitet. Er hatte in Leverkusen seine Bekannten. Ich hatte zwei gute Freundinnen, aber mir war immer die Familie wichtiger. Schließlich siegte aber auch bei meinem Mann der Familiensinn. Natalie und Wolfgang sind Karrieremenschen. Sie haben eine Firma aufgebaut und arbeiten viel. Am Anfang haben wir uns nur sonntags zum Mittagessen gesehen. Die restliche Zeit hatte jeder für sich. Dann kam Laetitia. Wir dachten immer: Die beiden kriegen keine Kinder. Als wir nach Freiburg zogen, war das ja noch kein Thema. Aber jetzt haben wir schon zwei Enkel, Laetitias kleiner Bruder Ruben ist inzwischen eineinhalb. Vielleicht bekomme ich doch noch meine Großfamilie. Mein Mann und ich konnten nur ein Kind bekommen.

Rolf und ich helfen, wo wir können. Rolf ist für ein kleines Gehalt bei Wolfgang und Natalies Fir- ma angestellt, er macht Fahrdienste. Es ist ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Der Kleine ist fast jeden Vormittag bei mir. Laetitia bringe ich morgens in den Kindergarten, mittags hole ich sie ab und koche für sie und Ruben. Nur Bio, das ist Wolfgang und Natalie wichtig. Ich habe das am Anfang nicht so richitg verstanden. Ein Bio-Huhn kostet ja fast 20 Euro! Auch nicht, dass Laetitia in einen Waldkindergarten geht, bei jedem Wetter, selbst wenn es regnet oder kalt draußen ist. Aber ich sehe ja, wie gut es ihr dort gefällt.

Ich schätze an meinem Sohn, dass er uns offen sagt, was er denkt und was ihm wichtig ist. Da gibt es überhaupt kein Hintenrum. Im Umgang mit den Kindern lässt er mir meinen Freiraum und vertraut mir. Laetitia und ich machen, wozu wir Lust haben - da muss ich keine Rechenschaft ablegen. Und sie bekommt auch mal mehr als ein Gummibärchen von mir, da mache ich kein Geheimnis draus.

Ich finde mein Leben in Freiburg unvergleichlich besser. Rolf saß in Leverkusen oft mit seinen Freunden im Garten. Sie haben Bier getrunken, viel geschimpft und nichts geändert, so eine Einstellung gefällt mir nicht. Ich glaube, die haben sich manchmal richtig hochgeschaukelt. In Freiburg machen mein Mann und ich viel zu zweit. Das schätzt Rolf sehr: dass ich nun Zeit für ihn habe und nicht mehr wie früher den ganzen Tag arbeite. Und in die Kinder ist er richtig vernarrt. Wenn seine Enkel mal einen Tag nicht bei uns sind, dann fragt Rolf schon: Glaubst du, ihnen geht es gut? Sollen wir mal anrufen?

Wir sind zwar stark auf die Familie konzentriert, aber wir haben auch neue Freunde gefunden in Freiburg. Wir treffen uns gern mit einem anderen Paar. Wir sind sogar schon gemeinsam in den Urlaub gefahren! Natürlich fehlen mir manchmal meine Freundinnen, und auch Rolf vermisst seine Männerfreunde. Aber dann muss halt das Telefon herhalten. Oder wir fahren mal für ein Wochenende nach Leverkusen, da sind wir ja jetzt flexibel.

Ich hoffe, dass mein Mann und ich Wolfgang und Natalie noch lange helfen können. Wir wollen keine Gegenleistung dafür. Ich weiß, dass mein Sohn für meinen Mann und mich sorgen wird, wenn es bei uns nicht mehr geht, soweit ihm das eben mit seinem Beruf möglich ist. Bei ihnen wohnen - das wollen wir sowieso nicht. Da muss man dann ständig Rücksicht nehmen, das ist nicht gut. Sie haben ihr Leben. Und wir haben unseres.

"Manchmal beiße ich mir schon auf die Unterlippe"

Wolfgang Hatzack, 42, gemeinsam mit seiner Frau Natalie Geschäftsführer und Inhaber einer Softwarefirma.

Nach Laetitias Geburt hatte meine Mutter für uns gekocht, damit wir uns ganz dem Baby widmen können - aber natürlich auch, um selbst jeden Tag Zeit mit uns und Laetitia zu verbringen. Für uns war das ein riesiger Luxus. Aber nach drei, vier Wochen war es dann doch genug. Uns war es schon unangenehm, ihr sagen zu müssen, dass wir nun wieder selbst für uns sorgen wollten. Hilfe in Anspruch zu nehmen und dennoch Nein zu sagen ist nicht leicht für mich, gehört aber zum Zusammenleben dazu.

Natalie ist das früher sehr schwer gefallen. Sie konnte sich nicht so gut abgrenzen. Meine Frau hat deshalb sehr zurückhaltend reagiert, als ich das ers- te Mal davon sprach, meine Eltern nach Freiburg zu holen. Sie hatte Bedenken, dass wir unsere Unabhängigkeit verlieren. Denn natürlich entstehen durch so einen Umzug Abhängigkeiten - auch wenn wir in getrennten Wohnungen leben: Wir können ja nicht meine Eltern in eine fremde Stadt ziehen lassen und dann nie Zeit für sie haben.

Wir sind mit dieser Problematik sehr offen umgegangen. Meine Eltern wussten, dass wir 50 bis 60 Stunden pro Woche in unserer kleinen Firma arbeiten müssen. Anfangs haben wir uns jeden Sonntag zum Mittagessen getroffen. Inzwischen sehen wir uns fast jeden Tag, wenn auch nur kurz. Meine Mutter kümmert sich viel um die Kinder, mein Vater um den ganzen Hausmeister-Kleinkram in unserer Firma, und er macht für uns Fahrdienste. Ohne meine Eltern würde es nur schwer gehen - das war aber nicht der Grund, meine Eltern nach Freiburg zu holen. Ich wusste, dass meine Mutter in unserer Nähe leben möchte. Hinzu kam: Ich bin Einzelkind. Ich trage die Verantwortung, wenn es den beiden einmal nicht mehr so gut geht. Irgendwann unseren Lebensmittelpunkt in Freiburg aufgeben und mit Natalie und den Kindern nach Leverkusen zurück? Das ist schon aus beruflichen Gründen fast unmöglich.

Ich kann die Hilfe meiner Eltern annehmen. Und ich gebe zurück. Schon heute: weil meine Eltern teilhaben an unserer Familie. Und später, wenn ich für meine Eltern da sein werde. Wie genau das aussehen wird, kann ich noch nicht sagen.

Für Laetitia und Ruben finde ich unser Leben toll. Sie dürfen mit zwei Generationen aufwachsen. Manchmal beiße ich mir aber schon auf die Unterlippe, wenn Oma wieder ein rosa Glitzer-Oberteil gekauft hat oder Opa zu nachgiebig mit Laetitia ist. Aber die Freiheit muss ich den beiden lassen. Nur bei der Ernährung, da musste ich als hundertprozentiger Bio-Anhänger ein paar Regeln einführen.

"Ohne Trennungen geht es nicht"

image

Regine Ritter, 63, Betriebswirtin, zog von Freiburg nach Köln, um im Unternehmen ihrer Tochter Julia mitzuarbeiten.

Dass ich meine Kamelie zurücklassen musste, tat weh. Ich liebe Pflanzen. Und meine Kamelie war besonders: fast drei Meter hoch, glänzende Blätter, tiefrote Blüten. Zweimal stand ich mit einer Freundin auf einem Antik-Markt, habe Möbel verkauft und Kleinkram. Meine neue Wohnung in Köln ist kleiner, ich konnte nicht alles mitnehmen. Aber ohne Trennungen geht es nicht. Und so entsteht auch wieder Raum für Neues, das gefällt mir.

Dass Julia sich selbständig macht, war schon am Ende ihres Studiums als Innenarchitektin klar: Julia gründete einen Design-Online-Store mit Sitz in Köln. Und dann diese Frage: "Willst du nachkommen? Ich könnte deine Hilfe brauchen." Meine Mutter war gerade gestorben, mein Vater einige Jahre zuvor. Meine Arbeit hatte ich für die Begleitung meiner Mutter aufgegeben. Ich bin momentan ohne Partner, Julias Vater und ich sind seit vielen Jahren geschieden. Ich habe mich mein Lebtag gern auf Neues eingelassen: Ich hatte eine Boutique, habe im Abendstudium meinen Betriebswirt gemacht, in einem Architekturbüro Projekte für betreutes Wohnen mitentwickelt, Bauherren beraten und als Vorstandsassistentin eines neu gegründeten Golfclubs den Spielbetrieb mit aufgebaut.

Trotzdem habe ich mich nicht überstürzt entschieden. Immerhin habe ich nur wenige Jahre nicht in Freiburg gelebt, meine Kindheit und Jugend habe ich dort verbracht, und kurz nach der Geburt meiner Tochter bin ich dorthin zurückgekehrt. Hier leben meine Freundinnen, ich kenne den Metzger, den Schuster, alles ist vertraut. Ich bin ein paarmal nach Köln gefahren, auf Besuch. Erst als ich gesehen habe, dass meine Arbeit erwünscht ist und gebraucht wird, habe ich einen Mieter für meine Freiburger Wohnung gesucht, zunächst für eineinhalb Jahre. Inzwischen habe ich den Vertrag noch mal um eineinhalb Jahre verlängert. Diese Rückkehroption ist mir wichtig. Alle Verbindungen durchtrennen, das hätte ich spontan nicht gekonnt. Aber im Moment denke ich tatsächlich darüber nach, mir in Köln eine Wohnung zu kaufen.

Mein Leben hier ist fordernder als gedacht. Ich musste mich in die Struktur eines Online-Stores einarbeiten. Anders, als ich es aus meinem bisherigen Berufsleben kenne, stehen einem die Kunden da ja nicht gegenüber. Meine Arbeit läuft computergestützt, die Softwarekenntnisse musste ich mir hart erarbeiten. Ich kontrolliere auch Zahlungsströme - und muss Acht geben, dass jede Verknüpfung passt. Abends bin ich häufig abgespannt und werkle allenfalls noch in meiner Wohnung. Und doch: Es tut gut, die Arbeit im Griff zu haben und zu Julias Erfolg beizutragen.

Natürlich müssen wir uns arrangieren. Meine Tochter hat das letzte Wort, sie ist die Geschäftsführerin. Es gab Situationen, in denen mir das nicht leichtfiel. Bei Marketingstrategien beispielsweise prallen unsere Meinungen schon mal heftig aufeinander: Ich denke eher an konventionelle Wege und möchte persönliche Kontakte ausbauen, Julia geht eher über das Internet. Aber sie war offen für meine Idee, einen Laden in Köln zu eröffnen, wo wir die Produkte aus unserem Online-Shop jetzt auch direkt und vor Ort präsentieren können. Nun kommt meine nächste Aufgabe: mir einen Freundeskreis aufbauen. In Freiburg kenne ich sehr viele Menschen, mal eben eine Tasse Kaffee trinken gehen ist da kein Problem. Ich musste tiefe und gute Freundschaften zurücklassen. Das wird mir hier sehr bewusst: In Köln ist mein Privatleben noch nicht so gefestigt. Ich gehe gern ins Museum oder spazieren, liebe Kultur und Natur. Ich kann zwar gut allein sein, und für Gespräche gibt es natürlich meine Freunde in Freiburg und das Telefon. Aber auf Dauer genügt das nicht. Ich wünsche mir sehr, dass neue Freundschaften entstehen. Und mich nochmals verlieben, dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden.

"Manchmal bemuttern wir uns gegenseitig, das mag keine von uns"

Julia J. Ritter, 32, Geschäftsführerin des Online-Stores desiary.de, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter betreibt.

Ein Privatleben, mit dem sich meine Mutter rundum wohl fühlt - ja, das wär's. Ich wünsche mir sehr, dass sie in Köln noch mehr Freunde findet, um sich wirklich heimisch zu fühlen. Aber momentan ist dafür nicht so viel Zeit, wir haben einfach sehr viel zu tun. Ihr Halbtagsjob ist ein Vollzeitjob. Und manchmal frage ich mich, ob ich das allein bewältigt hätte, was gewesen wäre, wenn meine Mutter nicht nach Köln gekommen wäre. Sie hat viel Erfahrung, blickt auf ein ganzes Arbeitsleben zurück, davon profitiere ich. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Dann sage ich schon mal: Willst du nicht Schluss machen für heute? Ab und zu bemuttern wir uns gegenseitig, das mag keine von uns. Aber inzwischen haben wir engagierte Mitarbeiter, da ist es leichter, sich auch mal auszuklinken. Gut ist, dass wir in unserer freien Zeit nicht zusammenglucken, obwohl unsere Wohnungen nah beieinanderliegen. Wir haben andere Rhythmen, auch unterschiedliche Interessen. Ich gehe freie Tage am liebsten langsam an, meine Mutter ist immer früh auf den Beinen. Sie ist gern am Rhein, gern in der Natur. Ich weiß, dass sie den Schwarzwald vermisst, deshalb bin ich froh, dass sie andere Orte entdeckt hat, die ihr guttun.

Als meine Großmutter damals im Sterben lag, habe ich viel über das Leben nachgedacht. Wir drei waren uns sehr nah, ich habe die Sterbebegleitung als et- was Bereicherndes erlebt. Für mich war danach unvorstellbar, dass meine Mutter irgendwann Hilfe braucht und ich nicht für sie da sein kann, weil wir an unterschiedlichen Orten leben. Auch darum hab ich sie gefragt, ob sie zu mir nach Köln zieht und mit mir in meiner Firma arbeiten möchte. Ich finde den Gedanken eigentlich sehr schön: Wir helfen uns gegenseitig, in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Das macht doch Familie aus.

Protokolle: Madlen Ottenschläger Fotos: Cira Moro

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel