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Funkstille: Wenn Kinder ihre Eltern verstoßen

Funkstille: Wenn Kinder ihre Eltern verstoßen
© Halfpoint/shutterstock
Radikale Funkstille zwischen Kindern und Eltern - ein Drama für beide Seiten. Alle fühlen sich schuldig, und trotzdem können sie nicht anders.

"Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht mehr wiederzukommen", war der letzte Satz, den Elena Sänger* von ihrer Mutter hörte, als sie ein paar Monate nach dem Abitur Kleidung und Bücher in ihr Auto lud, um in eine kleine Wohnung im 20 Kilometer entfernten Bonn zu ziehen. Es war Februar und kalt, sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und zitterte. Aber was hatte sie denn anderes von ihren Eltern erwartet? Dass sie Hurra rufen würden? Wenn es nach der Mutter gegangen wäre, hätte Elena Sänger eine Lehre gemacht und wäre bis zu ihrer Hochzeit zu Hause geblieben. Auch wenn dort nur Zank und Streit herrschten.

Erst am Abend vor ihrem Auszug hatte sie den Eltern reinen Wein eingeschenkt. "Wenn ich vorher etwas gesagt hätte, hätten sie mich wahrscheinlich umgebracht", sagt die 50-jährige Galeristin heute mit einer weichen Stimme, die gar nicht bitter klingt, auch wenn alles "so bitter" war. Nichts war erlaubt, alles verboten, als sie jung war. Auf Wünsche reagierte die Mutter mit Vorwürfen, Abwertung oder Gleichgültigkeit. Die Tochter zog sich dann zurück, suchte aber von sich aus immer wieder die Versöhnung mit den Eltern. Bis sie vor zwei Jahren den Kontakt endgültig abbrach.

Rosi Berg* hat eine Trennung aus der anderen, aus der Mutter-Perspektive erlebt. "Meine Tochter und ich waren immer ein Herz und eine Seele", erzählt sie, "wie Freundinnen." Nachdem die 58-jährige Geschäftsfrau jedoch vor fünf Jahren versucht hatte, sie mit einem wohlhabenden Mann zusammenzubringen, verabschiedete sich ihre Tochter aus dem Leben der Mutter. Abrupt und ohne Vorankündigung. Die Einmischung sei ein Fehler gewesen, sagt Rosi Berg, es tue ihr leid. Viele Tränen habe sie deswegen schon vergossen. Aber war ihre "Kuppelei" wirklich der einzige Grund für die Trennung?

Müssen wir unseren Eltern nicht dankbar sein für das, was sie für uns getan haben?

Tom Lurenz* war 16, als ihn seine Mutter aufforderte, seine Sachen zu packen und auszuziehen. Der Junge wusste nicht, wohin, und blieb, mehr geduldet als erwünscht. Nie hatte er das Gefühl, seiner Mutter etwas zu bedeuten. Dass sich sein kolumbianischer Vater durch einen Suizid aus dem Leben gestohlen hatte, dass eine neue Beziehung der Mutter gescheitert war, dass das Geld nicht reichte - Tom Lurenz, das schwierige Kind, war schuld. Für ihr gesamtes Unglück machte die Mutter ihren Sohn verantwortlich, Liebe, Geborgenheit und Anerkennung hingegen blieb sie ihm schuldig.

Dass Kinder im Erwachsenenalter den Kontakt zu ihren Eltern völlig abbrechen, hat die Wucht einer griechischen Tragödie, und obendrein ist es ein Tabu. Wer mag seinen Freunden schon sagen, dass die Tochter oder der Sohn auf Distanz gegangen sind? Oder dass die Eltern nichts von unserem Leben wissen? Die einzige Verbindung scheinen Schuldgefühle, Wut und Trauer zu sein. "Müssen wir unseren Eltern nicht dankbar sein für das, was sie für uns getan haben?", fragen sich die Kinder.

Während sich die Eltern rechtfertigen: "Wir haben es doch nur gut gemeint und getan, was wir konnten." "Und genau das kann leider verdammt falsch gewesen sein", sagt die Schweizer Psychotherapeutin Katharina Ley. Kinder müssen sich von ihrem Elternhaus abnabeln. Besser im Guten als im Schlechten. Aber manchmal steht die impulsive, endgültige Trennung am Ende eines langen schmerzhaften Prozesses. Gründe dafür gibt es viele. "In manchen Familien sind Kinder sehr lange Opfer", sagt Ley. Sie wollen nicht länger leiden. Denn auch ohne offensichtlichen Missbrauch können schlimme Verletzungen, Übergriffe und Kränkungen in der Vergangenheit vorgekommen sein. Für die Eltern unabsichtlich, für die Kinder prägend.

Eltern setzen ihre Kinder ungefragt in die Welt und haben die Pflicht, sie wahrzunehmen

Bei Tom Lurenz sitzen die bösen Erinnerungen tief. Jetzt räume er auf damit, sagt er. Mit 27. Er studiert Zahnmedizin und gehört zu den Besten seines Jahrgangs. Sehr aufrecht sitzt er am Kaffeetisch seiner "Ersatzeltern" und bemüht sich, seine Trennungsgeschichte so präzise wie möglich zu erzählen. Aber das fällt ihm immer noch schwer.

Bevor er sich endgültig von seiner Mutter verabschiedete, machte er einen letzten Anlauf. Drei Jahre hatte er auf einen Platz in seinem Traumstudium gewartet. Als er ihn bekam, bat er seine Mutter um ein teures Medizinbuch. Doch statt stolz auf ihren Sohn zu sein und ihm eines zu kaufen, verwies sie Tom Lurenz aufs Internet, wo er sein Buch antiquarisch bestellen könne. In diesem Moment wurde dem Jungen klar, was er längst ahnte: Wollte er nicht weiterhin enttäuscht werden, musste er seine Erwartungen an die Mutter begraben. Seine "Ersatzeltern" lernte Tom Lurenz kennen, als er sich sein Geld mit Computerreparaturen verdiente: "In dieser Familie erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben, was es heißt, angenommen, geliebt und versorgt zu werden."

"Eltern setzen ihre Kinder ungefragt in die Welt und haben die Pflicht, sie wahrzunehmen", sagt Katharina Ley. Wenn die Eltern nicht abrücken von ihrer Ich-Bezogenheit und ihren Kindern Anerkennung, Verständnis und Bestätigung verweigern, leiden diese. Zu ihrem eigenen Schutz entziehen sie sich ihren Eltern, sobald sie erwachsen sind. Manchmal nur, um vorübergehend Distanz zu gewinnen, manchmal für immer. "Ein Abstand zwischen Eltern und Kindern kann sehr heilsam sein, auf beiden Seiten die Augen öffnen und für andere Perspektiven sorgen", meint Ley.

Vielleicht können wir ja irgendwann eine freundschaftliche Beziehung haben

Tom Lurenz hat nicht vor, zurückzukehren, aber vielleicht "können wir ja irgendwann eine freundschaftliche Beziehung haben". Vier Jahre war er alt, als seine Eltern aus Berlin zur Großfamilie nach Kolumbien umsiedelten, woher der Vater stammte. In ihrer Schwiegerfamilie fühlte sich die Mutter fremd. Als sein Vater Selbstmord beging, geriet der kleine Junge zwischen die Fronten. Mutter oder Großeltern: Wo wohnte er lieber, wen hatte er lieber? "Was immer ich sagte, ich war ein Verräter", Tom Lurenz zieht den Mund zu einem Strich. Er fühlte sich belauert, konnte es keinem recht machen und entwickelte sich zu einem aggressiven, aufsässigen Kind.

Als die Mutter mit ihm und einem neuen Lebensgefährten nach Deutschland zurückkehrte, "waren selbst unsere Hunde wichtiger als ich". Wenn Tom eine neue Jeans brauchte, weil die alte abgewetzt war, reagierte die Mutter abweisend, um das Mittagessen sollte er sich selbst kümmern, und das Geld für eine Klassenfahrt wurde ihm verweigert.

Sie war kein Wunschkind

Stattdessen: "Du siehst aus wie dein Vater, du bist wie dein Vater, du endest wie dein Vater", Dauervorwürfe, die nicht gerade zur Festigung seines Selbstwertgefühls beitrugen. Tom Lurenz schwänzte tagelang die Schule und hing nur noch depressiv vor dem Computer herum. Hätte nicht ein einfühlsamer Vertrauenslehrer sein Fehlstunden-Konto am PC gelöscht, wäre er ohne Abitur von der Schule geflogen. Aber auch die Eltern leiden sehr unter einer solchen Trennung. Kürzlich, erzählt Rosi Berg, die ihre Haare wie ein junges Mädchen zum Pferdeschwanz hochbindet, habe sie ihre Tochter nach fünf Jahren von Weitem bei einer Beerdigung gesehen: "Sie sah toll aus." Doch die Tochter würdigte sie keines Blickes. Die Mutter tue ihr nicht gut, hatte sie als Erklärung für die Trennung in einem Brief an einen Pastor geschrieben, den Rosi Berg um eine Vermittlung gebeten hatte. "Warum?", fragt sich die Mutter bis heute.

Ihre Tochter war kein Wunschkind, sondern ein "Unfall", da war Rosi Berg 15, selbst noch ein Kind, doch ihre Eltern warfen sie aus dem Haus. Abgetrieben hätte sie am liebsten, sagt sie lakonisch. Aber als die Tochter geboren war, hat sie alles für sie getan, sogar Reit- und Gesangsstunden finanziert. Wenn sie schon ihre eigene Jugend verpfuscht hatte, sollte es das Kind wenigstens zu etwas bringen. Schlagersängerin werden - das hätte Rosi Berg gefallen. Und der Tochter? Na ja, sagt die Mutter, sie habe sie von Wettbewerb zu Wettbewerb gefahren, ihr auch einen Termin bei einem Produzenten besorgt. Aber da weigerte sich das Mädchen, statt eine Schallplatte aufzunehmen, wollte es zur Schule gehen. "Schade", sagt die Mutter. Die Tochter hat ihren eigenen Weg gemacht. Und einen Mann hat sie sich selbst gesucht. Hat Rosi Berg sich zu sehr eingemischt und ihre eigenen Wünsche auf das Mädchen projiziert? "Nee", sagt sie und zuckt mit den Schultern, sie habe es immer gut gemeint.

Oft ist es nur ein kleines Ereignis, dass zur Funkstille führt

Und genau das ist häufig das Problem, das gut Gemeinte tut nicht zwangsläufig auch der Beziehung gut. Es ist eine Position, auf die sich die Eltern gern zurückziehen, es macht sie unangreifbar, aber sie selbst verstellen sich den Blick auf das, was wirklich geschehen ist, und auch auf die eigenen Fehler. Keine gute Basis also, um einen so schweren Konflikt zu lösen.

Eltern müssen lernen, Kinder in ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen. Unerwünschte Ratschläge und Einmischungen bergen viel Konfliktstoff. Oft ist es nur ein kleines Ereignis, dass das Fass zum Überlaufen bringt. Als Elena Sänger ihrer Mutter vor zwei Jahren zur goldenen Hochzeit gratulieren wollte, wandte diese sich brüsk ab, "so als ob ich Luft wäre". Da machte es Knacks bei der Tochter, und sie brach jeden weiteren Kontakt ab. Endgültig. Weil sie keine Vorwürfe mehr machen und auch keine mehr hören, sondern nur noch Ruhe wollte. In ihrem Elternhaus wurde nie viel gesprochen, dafür gab es drei Prinzipen: Glaube, Ordnung, Gehorsam. Sie selbst nennt es: "Streng, falsch, lieblos." Irgendwann werde man dabei ziemlich "emotionslos". Fast 50 Jahre lang hat sie unter der Achtlosigkeit ihrer Mutter, die oft genug in Missachtung umschlug, gelitten.

Wenn Eltern nicht kritikfähig sind und sich für ihre Fehler nicht entschuldigen und Kinder sich nicht trauen, ihre Eltern zu kritisieren, können beide Seiten nicht ins Gespräch kommen. Aus dieser schmerzvollen Situation gibt es nur einen Ausweg: "Beide müssen lernen, zu reden und einander zu zuhören", zum Beispiel bei einer gemeinsamen Therapie. Auch wenn das der Elterngeneration oft schwerfällt.

Schon als kleines Kind sei sie vor den dauernden Streitereien zwischen ihren Eltern zu den Tieren im Stall "ausgebüxt", erzählt Elena Sänger mit empört hochgezogenen Augenbrauen. "Was hab ich stundenlang bei den Schäfchen gesessen, dem einzigen Ort, wo ich Wärme herkriegte."

Das Mädchen wollte aufs Gymnasium gehen, die Mutter war dagegen, und wenn sie gute Noten nach Hause brachte, setzte es bei Elena Sänger Schläge, weil sie nicht genug im Haushalt mitgeholfen hatte. Das Mädchen wurde rebellisch, was immer sie unternahm, tat sie in dem Gefühl, der Mutter etwas beweisen zu müssen, im Positiven wie im Negativen. Ob als Klassenbeste in der Schule oder in ihrem pubertären Widerstand. Als sie mit dem ersten Freund nach Haus kam, bezeichnete ihre Mutter sie als Hure. "Keiner hätte mich festhalten können", sagt Elena Sänger.

Das Einzige, was sie wollte, war, auf eigenen Füßen stehen und unabhängig sein. "Kritik und Abwertung durch die Eltern können Kinder auch stark machen", sagt Katharina Ley. Eine Stärke, die teuer erkauft ist. Schon als Schülerin jobbte Elena Sänger als Hundesitterin und bei McDonald's, oft auch nachts. Auf den Führerschein sparte sie, auf ein Auto, dann auf eine Wohnung. Sie studierte Geografie, alles ohne finanzielle Unterstützung. Hätten die Eltern nicht endlich stolz auf ihre Tochter sein können?

Eltern fällt es oft schwer zu akzeptieren, dass Kinder andere Akzente und Lebensziele setzen als sie selbst.

Nein. Als Elena Sänger ein paar Monate nach ihrem ersten "Trennungsversuch" wieder nach Hause kam, hagelte es Vorwürfe. Und so ging es weiter: Als Elena Sänger ihr viertes Kind bekam, kommentierte die Mutter das Ereignis mit "Auch das noch!". Ihr Elternhaus war alles andere als ein Rückzugsort, in dem sie Halt fand, wenn das Leben schwierig war. Elena Sänger brach den Kontakt zu ihren Eltern ab. Kein Treffen an Weihnachten und nicht an Geburtstagen. Heute erwarte sie keine Liebe und kein Verständnis mehr, sagt sie. Bitter für die Eltern: Denn Kinder bedeuten ja immer auch eine Option auf Zukunft. Darauf, dass ein Teil von einem selbst in den Kindern weiterlebt.

Eltern fällt es oft schwer zu akzeptieren, dass Kinder andere Akzente und Lebensziele setzen als sie selbst. "Als ich meiner Mutter meine Dissertation vorlegte", erzählt Psychotherapeutin Katharina Ley aus eigener schmerzlicher Erfahrung, "sagte sie, ein Enkelkind sei ihr lieber." Trotzdem: Eine Trennung für immer ist nicht die beste Lösung. Weil es sich meistens nur um räumliche, äußerliche Distanz handelt. Eine innere Bindung der Kinder, auch wenn sie auf Schuldgefühl und Hass gründet, bleibt oft bestehen. Das tut nicht gut. Vor allem wenn Eltern sterben, ohne dass vorher eine Aussprache oder eine Versöhnung stattgefunden hat. Eine Versöhnung mit sich selbst ebenso wie mit den eigenen Eltern. Das bedeutet für Kinder zu akzeptieren, dass die Eltern es zwar gut gemeint, aber trotzdem falsch gemacht haben. Nur so können sie unabhängig von ihnen leben und sich ihnen im besten Fall sogar wieder annähern. Tom Lurenz besucht seine Mutter selten, aber wenn sie Probleme mit dem PC hat, hilft er aus. Elena Sänger überlegt, ob sie ihren Eltern die Fotos, die sie vor zwei Jahren bei der Feier zur goldenen Hochzeits gemacht hat, schicken soll. Und wie geht Rosi Berg damit um, dass die Tochter gar nichts mehr von ihr wissen möchte? "Nicht daran denken", sagt sie und wirkt verloren, "und ab und zu ein Gläschen Wein."

* Namen von der Redaktion geändert

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Text: Marianne Mösle

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