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Familie am anderen Ende der Welt

Die Multikulti-Familie: Plötzlich ist sie da, wenn die Kinder sich bei einer Reise oder einem Auslandssemester verliebt haben. Mit dem afrikanischen Schwiegersohn und der hinduistischen Schwiegertochter auf der Couch kommen viele Fragen. Die Geschichten von vier Mal Familie international.

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Da vorn ist schon der Eingang zur S-Bahn. Christa Roth spürt, wie es eng wird in ihrem Hals. Heftig umarmt sie ihren Sohn Jörg. "Mach's gut", sagt sie leise zu ihm, "bis nächstes Mal." Dann steigen sie und ihr Mann in die Bahn zum Flughafen San Francisco. Sie wissen: Das nächste Mal - das wird frühestens in einem Jahr sein.

9285 Kilometer liegen zwischen Christa Roth und ihrem Sohn Jörg. Knapp 20 Stunden ist die 60-Jährige unterwegs, wenn sie ihn sehen will. Denn die Globalisierung, dieses große, formlose Etwas, hat Jörg hinausgeschwemmt in die Welt. Erst war es nur ein Auslandssemester, dann die gro-ße Liebe - zu Miho, einer Japanerin. Seit vier Jahren lebt Jörg nun mit Miho in San Francisco. Ihre zwei Wochen Urlaub im Jahr reichen kaum, um die Verbindungen sowohl nach Japan als auch nach Deutschland zu pflegen. Christa Roth sagt: "Für mich war es sonnenklar, dass Jörg zu Weihnachten und auch zu meinem Sechzigsten nicht kommen konnte." So, wie er auch nicht da war, als seine Großmutter beerdigt wurde.

Die Globalisierung: Sie beschäftigt Parlamente, lässt Vorstände nicht schlafen, webt ein unsichtbares Band zwischen chinesischen Fabrikarbeitern und deutschen Supermarkt-Kunden. Und manchmal bringt sie Menschen wie Jörg und Miho zusammen - und mit ihnen ihre Familien. Die müssen sich plötzlich ganz neue Fragen stellen: Wie oft werden wir unsere Kinder sehen? Werden wir erleben, wie unsere Enkel aufwachsen? Und wie sollen wir uns eigentlich mit der anderen Familie verständigen?

Im Wohnzimmer der Roths im baden-württembergischen Herrenberg steht ein altehrwürdiger wuchtiger Schrank. Er wurde aus dem Haus von Christa Roths Großvater gerettet, kurz bevor die Bomben es dem Erdboden gleichmachten. Heute klemmen dort Postkarten aus Los Angeles, Vancouver und Hongkong. Jörg war neulich wegen eines Vorstellungsgesprächs in der asiatischen Großstadt. Er und Miho schmieden Umzugspläne, Hongkong oder Singapur stehen zur Auswahl - und Deutschland. Was, wenn Jörg tatsächlich bald um die Ecke wohnen sollte? "Das lasse ich nicht an mich heran", sagt Christa Roth. "Ich würde sonst zu viel Vorfreude aufbauen - und am Ende klappt es doch nicht. Da will ich mich schützen." Ihre Telefonate mit Jörg seien intensiv, sagt sie, gezielt. Und schließlich habe sie ihre Söhne selbst in die Welt hinausgeschickt. Sprachferien in Frankreich oder Spanien, Auslandsaufenthalte in Schweden und den USA - "wenn man dieses Risiko eingeht", sagt ihr Mann Harald Roth, "muss man mit den Konsequenzen leben. Wenn ich unter der Situation leide, mache ich mir bewusst, dass das Luxus-Probleme sind. Die Kinder sind ja nicht zwangsemigriert, wie so viele andere Menschen. Sie treffen freiwillige Entscheidungen, ergreifen Chancen."

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"Paare wie Jörg und Miho sind Normalität geworden", sagt Hiltrud Stöcker-Zafari vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften. Mittlerweile entstammen 12,3 Prozent der Neugeborenen in Deutschland so genannten bikulturellen Partnerschaften. "Diese Paare streiten sich genauso wie andere über Kleinigkeiten - aber sie müssen sich mit zusätzlichen Fragen herumschlagen." Es sind Fragen wie die-se: Was wird von einem Partner in der anderen Kultur erwartet? Was gilt dort als beleidigend? Wie wird Dankbarkeit ausgedrückt? Was darf in der Öffentlichkeit getan werden, was nicht? All das, meint auch BRIGITTE WOMAN-Psychologe Oskar Holzberg, muss verhandelt und beantwortet werden. "Zu sagen: 'Du bist anders, und das ist völlig egal' - das halte ich für falsch. Respekt vor der Andersartigkeit bedeutet auch, diese wahrzunehmen." Doch wie unterscheidet man eigentlich die Kultur von der Person?

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In einer Berliner Altbauwohnung wiegt Divine Akoseine zweijährige Tochter auf den Knien . Wenn er mit ihr spricht, wird sein sonst eher verschlossenes Gesicht ganz weich. Neben ihm sitzt seine Frau Eva und überlegt. Was sie denn kulturell unterscheide, wurde sie gerade gefragt. "Zum Beispiel", sagt Eva, "will er die Kinder immer schnell zum Arzt bringen, sobald sie irgendwas haben. Ich sehe das anders." Divine schaut sie gelassen an. "Das hat für mich nichts mit Kultur zu tun. Sondern mit Personen." Liegt seine Mediziner-Gläubigkeit nun daran, dass er aus Kamerun stammt? Und dass die Japanerin Miho gern herumdruckst, anstatt klar zu sagen, was sie denkt, ist das typisch japanisch oder einfach nur Miho?

Der Kameruner Divine wehrt sich dagegen, auf seine kulturelle Herkunft reduziert zu werden. Fragen beantwortet er mit Vorsicht, wiegelt immer wieder ab. "Ich weiß, ich bin anders, und auch meine zwei Kinder wissen das. Aber das muss man doch nicht überdramatisieren", sagt er. Dann bringt er seine Tochter ins Bett, redet beruhigend in afrikanisch gefärbtem Englisch auf sie ein. Mit seiner Frau spricht er Deutsch. Auch das ist wieder eine dieser Fragen: In welcher Sprache verständigen wir uns? "Wir haben viel zu lange Englisch geredet", sagt Eva. "Wenn wir früher zu Deutsch gewechselt wären, hätte er bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt." Doch in der für Divine fremden Sprache entstehen leichter Missverständnisse, gehen manchmal auch Poesie und Philosophie verloren. Und es drohen Konflikte: "In der Kommunikation zwischen Partnern ist es sowieso schon schwierig, den anderen und seine Position zu verstehen", sagt Oskar Holzberg. "In einer fremden Sprache kann man noch weniger sicher sein, dass das Gesagte verstanden wurde. Ohne dass man es merkt, wählt man manchmal Worte, die für den anderen einen anklagenden Unterton haben." Was transportiere ich mit meinen Worten? Verbindet der andere damit womöglich etwas ganz anderes? Welchen Tonfall empfinde ich als normal, der andere aber etwa als verletzend? Fragen, immer mehr Fragen.

Etwa 550 Kilometer gen Westen, in einem großen, hellen Einfamilienhaus. Hier klingelt an einem Tag im Dezember 2005 plötzlich das Telefon. "Mama", sagt Cornelia Breuers Sohn am anderen Ende der Leitung, irgendwo in Peru, "ich habe mich verliebt. In eine Australierin." - "Ging es nicht noch weiter weg?", witzelt die Mutter. Heute macht die 53-Jährige darüber keine Scherze mehr. "Der Gedanke, dass die beiden irgendwann mal nach Australien gehen könnten, ist für mich erschreckend. Das ist am anderen Ende der Welt!" Cornelia Breuer rührt in einer Tasse Tee. Dann erzählt sie von der Hindu-Hochzeit zwischen Sohn Moritz und Mumta, ihrer australischen Schwiegertochter mit indischen Wurzeln. Wie sich Mumta Hände und Füße hier in diesem Wohnzimmer mit kunstvollen Mehndis bemalen ließ. Wie schön sie aussah in ihrem cremeweißen Sari. Wie Moritz ihr die Mungal Sutra umlegte, eine Kette, die in Indien nur verheiratete Frauen tragen. Zu der Zeit spricht Mumta kaum deutsch; Cornelia Breuer kramt deshalb alte Englischbücher hervor. Noch heute blättern die zwei Frauen oft in Wörterbüchern, lachen viel. Nähe entstehe trotz der Sprachbarriere, sagt Cornelia Breuer: "Nach der standesamtlichen Trauung fragte mich Mumta: 'Darf ich Mama zu dir sagen?' Das war ein rührender Moment."

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Mumtas eigene Mutter reist nicht zur Hochzeit an. Als sie von der Verbindung erfährt, ist ihr einziger Kommentar zu Mumta: "Du weißt, was ich darüber denke. Wenn du jemanden außerhalb der indischen Gesellschaft heiratest, bist du nicht länger Teil dieser Familie." Mumta hat versucht, ihrer Schwiegermutter diese Reaktion zu erklären: Die indische Mutter sei kein schlechter Mensch, sie sei eben gefangen in der Tradition und erwarte Respekt und Unterordnung. Cornelia Breuer schüttelt den Kopf und sagt: "Das Verhalten ihrer Mutter ist mir wirklich fremd."

Das Fremde: Die Globalisierung bringt es direkt in die Wohnzimmer. Faszinierend kann das sein, aber auch verstörend. Wieder tauchen Fragen auf: Wie viel Toleranz kann ich aufbringen? Wann ist Toleranz überhaupt geboten, und wann muss ich als Elternteil einschreiten? Psychologe Oskar Holzberg rät, Ängste und Sorgen in jedem Fall anzusprechen. "Man kann in aller Offenheit zum Kind sagen: Ich finde dieses oder jenes an deinem Partner nicht ganz einfach. Ich kann nicht über dich bestimmen - aber lass uns darüber reden!" Denn sich klar werden über das, was den anderen ausmacht, versuchen, das Fremde zu verstehen - das macht auch das Eigene sichtbar. Und das kann von Vorteil sein: "Wenn zwei Familien aus unterschiedlichen Ländern kommen, müssen die Regeln für den anderen deutlicher ausgesprochen werden", sagt Oskar Holzberg. "In normalen Familien wird oft unausgesprochen vorausgesetzt, dass der andere ähnlich denkt. Das tut er aber meist nicht!"

Über sich selbst nachgedacht, die eigene Kultur reflektiert, ja, das hat Uschi Lauks oft getan, seit Yaz Teil ihrer Familie ist. "Ich hinterfrage mein strukturiertes Vorgehen", sagt die 57-Jährige, "lasse auch mal locker." Denn Schwiegersohn Yaz ist Palästinenser und lebt in Jordanien; dort beherrscht Gelassenheit den Alltag.

Als seine Familie das erste Mal nach Burghausen in Oberbayern kommt, prallen im Kleinen, in den Details, zwei Welten aufeinander. Zwar sprechen beide Elternpaare gutes Englisch. Doch Kommunikation besteht eben nicht nur aus Sprache. Uschi Lauks erzählt, wie sie das Begrüßungsessen auftischte, natürlich kein Schweinefleisch, sondern Reis mit Pute in einer Soße. Doch dann pickten Yaz' Eltern die Putenstücke aus der Soße oder aßen nur Reis. "Nächstes Mal", sagt Uschi Lauks heute und lacht, "gibt es nur noch Gegrilltes. Das muss einem ja gesagt werden: Bloß keine Soße!" Und dann ist da die Sache mit der Planung. "Die arabische Mentalität", sagt Uschi Lauks, "funktioniert nach dem Motto: 'Jetzt reden wir erst mal drüber, und dann schauen wir mal.' Mit diesem Naturell komme ich nicht so gut zurecht." Sie sagt aber auch, dass sich irgendwie alles lösen ließ - die Organisation der jordanischen Hochzeit zum Beispiel -, weil beide Seiten sich besonders bemühten. Da ist er also tatsächlich, der Vorteil, den Familien aus verschiedenen Kulturen haben: Weil sie wissen, dass sie aus unterschiedlichen Welten kommen, verhandeln die Familienmitglieder intensiver, erfragen immer wieder die Positionen der anderen, erklären sich mehr als andere. So können Missverständnisse mitunter leichter aus dem Weg geräumt werden - weil von vornherein klar ist, dass die andere Seite eben anders tickt.

Annähern konnte sie sich also - an das andere Zeitempfinden gewöhnen konnte Uschi Lauks sich aber nicht; auch nicht, als sie selbst nach Jordanien reiste. "Dass Lydia dort zwei Jahre gelebt hat, dafür bewundere ich sie wirklich." Ihre Tochter lernt in dieser Zeit die kulturelle Brille kennen, durch die Jordanier die Welt betrachten. Sie sagt: "Die geheimen Regeln einer anderen Kultur versteht man nur, wenn man sie selbst erlebt hat." Sie weiß jetzt, warum ihr Mann am Wochenende einfach nur in den Tag hineinleben will, ohne feste Pläne. Sie weiß, dass sie nicht mehr so direkt sein darf, Kritik besser verpacken sollte. Und sie weiß, dass Yaz vor Gästen nicht aufstehen wird, um den Tee zu servieren, weiß, dass das in der arabischen Welt Sache der Frau ist. Ihre Mutter sieht genau dort eine Grenze der Toleranz: "Wenn er zu ihr sagt: 'Lydia, mach mal' - dann wäre ich rebellischer. Das würde ich mir von meinem Mann nicht gefallen lassen."

Mittlerweile sind Lydia und Yaz nach Großbritannien gezogen. Dort sind sie gleichberechtigt fremd. Und sie sprechen beide eine Sprache, die nicht die ihre ist. Ihre Kinder wollen sie dreisprachig erziehen - auf Deutsch, Arabisch und Englisch. Und sie möchten ihnen sowohl das Christentum als auch den Islam nahebringen. Eine zu anspruchsvolle Vision? "Oft geht alles gut, bis die Kinder kommen", sagt Psychologe Oskar Holzberg. "In der Erziehung werden dann die Unterschiede deutlich. Schließlich hat jeder die Tendenz, seine eigene Familienkultur zu wiederholen." Aushandeln, neue, eigene Partnerschafts- Landkarten zeichnen, Fremdes annehmen - die Globalisierung fordert junge Paare heraus. Und mit ihnen ihre Eltern. Jörg und Miho, Eva und Divine, Moritz und Mumta, Lydia und Yaz könnten sich offenere Familien kaum wünschen. "Für mich", sagt Cornelia Breuer, "ist es unerheblich, ob mein Sohn mit Mumta zusammen ist oder einem Mädchen aus der Nachbarschaft." Vielleicht sind diese Eltern so, weil sie als Akademiker das Reflektieren einfach gewohnt sind. Vielleicht, weil sie selbst viel von der Welt gesehen haben. Die schönste Erklärung aber findet Christa Roth: "Ich hätte doch alles genauso gemacht wie Jörg."

Text: Marike Frick Fotos: Anikka Bauer, Cira Moro, Johanna Ruebel

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