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Pflege im Alter Angehörige pflegen: Wie schaffe ich das nur?

Sandra von Oehsen steht als Coach Menschen zur Seite, die schwerkranke Angehörige pflegen. Sie beantwortet sieben Fragen, mit denen Pflegende sich intensiv beschäftigen sollten.

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BRIGITTE-WOMAN: Was erwartet mich?

Sandra von Oehsen: Sie wachsen mit Ihren Aufgaben, aber Sie können auch überfordert sein. Oft gilt es, schnell eine Entscheidung darüber zu treffen, ob Sie die Pflege eines Angehörigen übernehmen wollen und können oder nicht. Dann ist es gut, sich keine falschen Vorstellungen davon zu machen, was Sie erwartet. Klären Sie möglichst sachlich und realistisch alle Fakten, die in dieser Situation wichtig sind: Welche Krankheit liegt vor? Wie schnell schreitet sie voran? Wie entwickelt sie sich und wie beeinträchtigt sie das Leben des Patienten? Welche Prognosen und Perspektiven gibt es? Was braucht der Patient im Zusammenhang mit seiner Krankheit (z.B. regelmäßige Physiotherapie, besondere Ernährung, spezielle Pflege)?

Wie sind die Räumlichkeiten, in denen Sie oder der Kranke leben (z.B. ebenerdig, rollstuhlgerecht, genügend Platz für ein Krankenbett)? Welche Unterstützung gibt es, wer kann bei der Pflege helfen? Wie flexibel sind Sie (Berufstätigkeit, Kinder, große räumliche Entfernung, andere Verpflichtungen, andere Angehörige, eigene gesundheitliche Probleme)? Erst wenn Sie diese Fragen beantwortet haben, können Sie halbwegs realistisch einschätzen, ob Sie diese Aufgabe - Angehörige pflegen - wirklich bewältigen können oder nicht. Seien Sie ehrlich zu sich selbst und denken Sie daran: Nicht alles lässt sich im Voraus planen; Sie sollten sich auch auf unvorhersehbare Dinge einstellen.

Kann Ihr Angehöriger selbst entscheiden?

BRIGITTE-WOMAN: Wer ist wofür verantwortlich?

<antwort name = "Sandra von Oehsen">Ein wichtiger Punkt für Sie ist auch, ob Ihr zu pflegender Angehöriger (noch) eigene Entscheidungen für sich und sein Leben treffen kann oder nicht. Ihr Angehöriger kann in einer Vorsorgevollmacht festlegen, welche Dinge Sie für ihn entscheiden dürfen, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Sind Ihre Mutter oder Ihr Vater aufgrund ihrer Krankheit dazu nicht mehr in der Lage (beispielsweise dement), können sie nur mit der Vorsorgevollmacht oder als gerichtlich bestellter Betreuer für sie entscheiden. Dessen sollten Sie sich bewusst sein.

Anders ist es, wenn Kranke zwar körperlich gehandicapt sind, aber noch selbst etwa über den Umfang der Therapie oder die eigene Lebensführung voll entscheiden können. Akzeptieren Sie diese Entscheidungen – auch wenn sie Ihnen vielleicht nicht immer gefallen. Das kann Spannungen geben, Ihnen aber auch gedankliche Freiräume verschaffen. Denn in diesem Fall ist jeder für sein eigenes Leben verantwortlich: der Kranke für seines – und Sie für Ihres. Das gibt Ihnen die Möglichkeit, auch einmal „Nein“ zu sagen.</antwort>

Was wollen Sie wirklich machen?

BRIGITTE-WOMAN: Wo sind meine Grenzen?

Sandra von Oehsen: Wer einen Angehörigen betreut, sollte immer auch mit Situationen rechnen, die schwierig und unangenehm sind. So kann es zum Beispiel peinlich sein, dem eigenen Partner Windeln anzulegen. Viele pflegende Angehörige schrecken davor zurück, weil sie befürchten, die Würde des Kranken zu verletzen. Andere machen es lieber selbst, bevor es Fremde, etwa das Personal eines Pflegedienstes, machen. Fragen Sie Ihren Angehörigen frühzeitig, was er von Ihnen erwartet, welche Vorstellungen er im Hinblick auf die Pflege hat. Überlegen Sie dann, wo für Sie ganz persönlich Grenzen sind, die Sie nicht überschreiten möchten.

Wenn Sie etwas partout nicht machen wollen, sollten Sie es auch nicht mit zusammengebissenen Zähnen tun. Das belastet nur unnötig Ihre Beziehung zu dem Kranken, und der merkt sofort, dass Sie etwas nur gezwungenermaßen erledigen und dabei Widerwillen empfinden. Dann ist es besser, Klarheit zu schaffen und nach einer anderen Lösung zu suchen. Es ist kein Zeichen von Versagen oder Schwäche, sich für bestimmte Aufgaben Hilfe zu suchen. Andere Grenzen können mit der Zeit verwischen. Etwas, von dem Sie anfangs dachten, Sie könnten es nie schaffen, ist für Sie vielleicht nach ein paar Monaten kein unüberwindbares Problem mehr. Sie sind in die Situation hinein gewachsen, und die Grenzen sind verschoben. Wichtig ist auch hier, dass Sie immer ehrlich sich selbst gegenüber bleiben.

Sie müssen nicht immer stark sein.

BRIGITTE-WOMAN: Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um?

Sandra von Oehsen: Wer einen Menschen pflegen will, muss bereit sein, sich auf den anderen einzulassen, auf seine Wünsche, seine Bedürfnisse und seine Emotionen. Dabei ist es ganz natürlich, dass Sie als Begleiter häufig ebenso wie der Kranke extreme Gefühle wie Verzweiflung, Hilflosigkeit, Wut und Trauer erleben. Verdrängen Sie diese nicht. Es ist menschlich, diese Emotionen zuzulassen und sie auch dem Kranken gegenüber nicht zu unterdrücken.

Sie müssen nicht immer stark und tapfer sein. Sie dürfen auch mal wütend sein, Sie müssen Ihre Tränen nicht herunter schlucken, sondern können auch mal zusammen weinen. Wichtig ist, dass Sie, wenn das möglich ist, offen und ehrlich über Ihre Gefühle sprechen und den anderen nicht nur, weil er krank ist, schonen. Trotzdem sollten Sie versuchen, etwas auf Distanz zu gehen. Ein gewisser Abstand zum Kranken, der für jeden individuell ist, kann Ihnen helfen – um z. B. mit Verletzungen umzugehen. So können Sie Entscheidungen Ihres Angehörigen leichter akzeptieren. Und Sie können eher zugeben, dass auch Sie mal Hilfe und Unterstützung brauchen.

Gratwanderung zwischen Autonomie und Aufopferung.

BRIGITTE-WOMAN: Wie kann ich selbst wieder Kraft sammeln?

Sandra von Oehsen: Einen Angehörigen zu pflegen ist eine Gratwanderung zwischen Autonomie und Aufopferung. Sie kann nur gelingen, wenn Sie Ihre eigenen Bedürfnisse im Interesse des Kranken zurücknehmen, ohne sich dabei selbst ganz zu verlieren. Und wenn Sie trotz der immensen Belastung gut auf sich selbst achten und behutsam mit sich umgehen. Reden Sie mit Ihrem/r Partner/in und/oder Freunden über alles, was Sie im Zusammenhang mit dieser Aufgabe beschäftigt. Sprechen Sie über Ihre Gefühle, auch die negativen.

Geben Sie anderen gegenüber ruhig zu, wenn Sie überlastet und hilflos sind. Bitten Sie ohne schlechtes Gewissen um Unterstützung, wenn Sie welche brauchen. Machen sich körperliche Probleme bemerkbar, zum Beispiel Rückenschmerzen durch schweres Heben, gehen Sie rechtzeitig zu einem Arzt. Scheuen Sie sich auch nicht, seelsorgerische oder psychologische Beratung oder Begleitung durch einen Coach anzunehmen. Suchen Sie sich Entlastung bei praktischen Dingen und schaffen Sie sich, wann immer es möglich ist, Freiräume im Alltag. Nur so können Sie neue Kräfte sammeln. Auch Helfer brauchen Hilfe.

Nehmen Sie Pflegekräfte in Anspruch.

BRIGITTE-WOMAN: Wo bekomme ich praktische Unterstützung?

Sandra von Oehsen: Ambulante Pflegedienste können eine große Entlastung sein. Vor allem die Körperpflege wie Baden oder Windeln fällt ausgebildeten Fachkräften oft leichter als den Angehörigen. Wichtig ist dabei, vorab die Kostenübernahme mit der Pflegeversicherung zu klären. Das gilt auch für Einrichtungen zur Tagespflege, die sich zeitweilig um Ihren Angehörigen kümmern, wenn Sie zum Beispiel mal kurz verreisen möchten. Sprechen Sie mit dem behandelnden Arzt und der Krankenkasse Ihres Angehörigen darüber.

Dort müssen Sie einen Antrag stellen, damit die jeweilige Pflegestufe durch den Medizinischen Dienst ermittelt wird. Daneben gibt es aber auch ehrenamtliche Helfer, die bei Kranken Wache halten, vorlesen oder Einkäufe erledigen. Erkundigen Sie sich zum Beispiel beim Deutschen Roten Kreuz, Caritas oder Ihrer Kirchengemeinde. Hospizvereine bieten Sterbebegleitung an. Gezielte Unterstützung bekommen pflegende Angehörige außerdem durch Selbsthilfegruppen. Adressen von Organisationen und Gruppen in Ihrer Nähe finden Sie in den Gelben Seiten Ihres Telefonbuchs oder im Internet.

BRIGITTE-WOMAN: Wie baue ich ein Netzwerk von Helfern auf?

Sandra von Oehsen: Haben Sie keine Scheu, um Hilfe zu bitten – auch wenn Sie dazu innere Widerstände überwinden müssen. Oft fragen Menschen nicht, ob sie etwas tun können, weil sie sich nicht aufdrängen und in die Intimsphäre eindringen möchten. Andere haben Berührungsängste. Ein offenes Gespräch kann meist falsche Vorstellungen ausräumen. Sprechen Sie andere Angehörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn direkt an und fragen Sie sie, ob sie Sie bei der Pflege unterstützen können. Am besten fragen Sie ganz konkret nach Hilfe bei bestimmten Aufgaben, zum Beispiel „eine Stunde aufpassen, oder vorlesen“, damit Sie mal einen Spaziergang machen können, oder Wäsche bügeln.

Sie werden staunen, wie viele Menschen spontan bereit sind, Ihnen zu helfen. Aber akzeptieren Sie auch ein „Nein“. Nehmen Sie es nicht persönlich, wenn jemand es ablehnt, Sie zu unterstützen. Und nehmen Sie es ebenfalls nicht persönlich, wenn der Kranke mit Schuldzuweisungen („Du kümmerst dich nicht um mich“) und Wut auf Änderungen in der Betreuung reagiert. Die Situation ist extrem stressig für ihn, da werden oft diejenigen, die dem Kranken am nächsten stehen, am stärksten verletzt. Sagen Sie Ihrem Angehörigen, dass auch Sie einmal eine Pause brauchen. Nur so können Sie anschließend wieder voll für ihn da sein.

Sandra von Oehsen ist "TÜV zertifizierter Coach in der Arbeitswelt" und als Coach für Privatpersonen und Firmen tätig.

Interview: Monika Murphy-Witt Foto: Privat

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