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Alte Eltern: Darf ich in ihr Leben eingreifen?

Früher haben sie die Regeln gesetzt - aber was, wenn man plötzlich alte Eltern hat? Darf man dann über sie bestimmen?
Alte Eltern: Darf ich in ihr Leben eingreifen?
© Credit: Jarvis/Corbis

Mein Vater freut sich. „Schön, dass du kommst“, sagt er und dass er mich wie immer vom Flughafen abholen will. Mir wäre lieber, er bliebe zu Hause. „Musst du nicht“, sage ich, „ich hab mir schon eine Zugverbindung rausgesucht.“ „Na, hör mal“, ruft er entrüstet. „Das wären ja ganz neue Moden. Selbstverständlich hole ich dich ab. Keine Widerrede!“ Mein Vater fährt unfallfrei, solange ich denken kann. Aber jetzt ist er 83, da sollte er nicht mehr zur Rushhour auf der Autobahn unterwegs sein und am Flughafen nach einem Parkplatz suchen. Finde ich, spreche es aber nicht aus, weil ich natürlich weiß, wie er reagieren würde: „Die halbe Stunde Fahrt – das ist ja wohl lächerlich!“ Wann hat sie angefangen, die Angst um ihn? Nach dem Krebstod meiner Mutter vor vier Jahren? Oder kam sie unmerklich wie das Alter, das man ihm kaum ansieht? Ähnlich wie der 80-jährige Schauspieler Michael Degen wirkt mein Vater deutlich jünger. An guten Tagen geht er für Anfang 70 durch. „Gestern ist ein junges Mädchen für mich in der Straßenbahn aufgestanden“, erzählt er mir geradezu empört. Natürlich habe er das Angebot abgelehnt: „Ich bin doch noch kein alter Sack.“ Nein, das nicht. So fit und so gut zu Fuß ist er aber auch nicht mehr. Ein Gehstock oder ein Rollator könnten eine Hilfe für ihn sein. „Wenn es so weit ist, erschieße ich mich“, sagt er gelegentlich und gibt uns Kindern damit zu verstehen, dass wir das Thema gar nicht erst anzusprechen brauchen.

Beratungsrenitent – so nennt meine Freundin Anne halb im Scherz ihre Mutter: „Sie wird immer klappriger, aber mit dem Seniorenheim darf ich ihr nicht kommen.“ Die 78-Jährige pocht auf ihre Eigenständigkeit. Sie hat eine Zweizimmerwohnung im zweiten Stock, ohne Fahrstuhl. Nur Badewanne, keine Dusche. Altengerecht ist was anderes. Aber die Berlinerin will bleiben, wo sie ist: in ihrem Kiez und in ihren vier Wänden. Basta! Anne macht sich Gedanken um ihre Mutter. Und sie ist nicht die Einzige, der es so geht. Immer öfter drehen sich die Gespräche mit meinen Freundinnen um unsere alten Eltern. „Ich habe keine ruhige Minute mehr“, sagt Anne. „Was, wenn meine Mutter stürzt, wenn sie einen Schlaganfall oder Herzinfarkt kriegt?“ Sie mag sich das Szenario nicht ausmalen, die Mutter hilflos allein in ihrer Wohnung, womöglich über Nacht.

Und tut es doch ständig. Die Mutter will davon nichts hören, und so gibt es bei fast jedem Treffen Streit. „Kenn ich“, sagt Daggi. Sie diskutiert seit einer gefühlten Ewigkeit mit ihren Eltern über einen Treppenlift und ein barrierefreies Badezimmer. Ihrer Meinung nach ist beides dringend geboten, wenn die beiden in ihrem Häuschen bleiben wollen. Die Mutter hat bereits ein neues Kniegelenk bekommen, das andere ist auch bald dran. Aber die 80-Jährige humpelt unverdrossen die Treppe rauf und runter – „für mich ist das Training“, sagt sie. Und die Badewanne? „Ich bin noch nie darin ausgerutscht. Außerdem, Kind, ein neues Bad – weißt du, was das kostet?“ Schon mehrmals hat Daggi im Branchenbuch nach Beratungsstellen gesucht – nicht für ihre Eltern, die sich ja ohnehin nichts sagen lassen, sondern für sich selbst. „Eine gute Entscheidung“, meint die Sozialarbeiterin Carola Exner vom Pflegestützpunkt Berlin-Mitte. „So eine Beratung empfiehlt sich spätestens dann, wenn man anfängt, sich auszumalen, was den Eltern alles zustoßen könnte.“

Sie grenzen sich ab, sie lassen sich nichts vorschreiben. Schon gar nicht von ihren erwachsenen Kindern

Pflegestützpunkte gibt es überall in Deutschland. Der Name mag irreführend sein im Zusammenhang mit so rüstigen Alten, wie mein Vater einer ist. Wie kann ich verhindern, dass er vorzeitig zum Pflegefall wird, wie kann ich ihn darin unterstützen, möglichst lange autonom zu bleiben? Welche Hilfsmittel und -dienste gibt es für Gehbehinderte und chronisch Kranke? Vor allem darum geht es in vielen Beratungen. „Die meisten Menschen möchten, solange es geht, in ihrem gewohnten Umfeld leben“, sagt Carola Exner. „Das ist auch möglich. Man muss sich nur früh genug darum kümmern.“ Das täten wir gern – wenn unsere Eltern uns nur ließen. „Ich weiß selbst, was für mich richtig ist“, murrt mein Vater. Weiß er das? Plötzlich will er wieder einen Hund. Am liebsten einen jungen, der ihn auf Trab hält. Schon sieht er sich mit einem treuen Begleiter fröhlich durch Wald und Flur laufen. Meine Geschwister und ich sehen ihn über das tollende Jungtier stolpern und stürzen. „Ein Schenkelhalsbruch, und das war’s dann“, sagt meine Schwester.

Manchmal können wir die Unvernunft unseres Vaters kaum fassen. Der Altersforscher und Psychoanalytiker Prof. Hartmut Radebold wirbt um Verständnis: „Es ist ein mühseliger Prozess, die Einschränkungen zu akzeptieren, die das Alter nun mal mit sich bringt.“ Der 77-Jährige spricht auch aus eigener Erfahrung: Dass er in den vergangenen Jahren schwerhörig geworden ist, passte anfangs nicht zu seinem Selbstbild, gibt er zu. Dennoch hat er den Rat seines Arztes befolgt und trägt jetzt ein Hörgerät. Warum fällt es anderen alten Menschen so schwer, sich damit zu arrangieren, dass ihre Kräfte nachlassen? „Die heute 80-Jährigen haben ganz andere Erfahrungen gemacht als ihre Kinder, die Babyboomer“, sagt Radebold. „Sie haben als Jugendliche den Krieg erlebt, viele auch die Flucht. Sie mussten sich durchbeißen, um zu überleben, und konnten sich oft nur auf sich selbst verlassen. Jetzt Schwächen einzugestehen oder gar Hilfe anzunehmen fällt vielen schwer.“

Von Fremden nehmen sie leichter Ratschläge an.

Manche wollen ihr Alter schlicht nicht wahrhaben. So wie mein 79-jähriger Onkel, der noch immer unerschrocken in die Apfelbäume klettert. Oder unser Nachbar, ein 81-jähriger Witwer, der auf einer wackeligen Leiter stehend Fenster putzt. An ihm beobachte ich ein weit verbreitetes Phänomen: Sich von Fremden etwas sagen zu lassen fällt offenbar leichter, als auf die eigenen Kinder zu hören. „Wie wär’s mit einer Putzfrau?“, frage ich ihn. „Ich mag keine fremden Leute in meinem Haus“, brummt mein Nachbar. Dass seine Tochter darüber unglücklich ist, weiß er. Aber schließlich sei es sein Leben. „Kann ihr doch egal sein, wie’s bei mir aussieht. Und wenn ich mir beim Fensterputzen das Genick breche, fände ich das auch nicht schlimm.“ Was er seiner Tochter vorwirft, kommt mir bekannt vor: „Sie traut mir nicht mal mehr zu, mich selbst in meiner Wohnung zu versorgen – aber den alten Helmut Schmidt vergöttert sie wegen seines messerscharfen Verstandes. Das muss man sich mal vorstellen...“ „Ich kann mir das vorstellen, aber nur schwer ein Leben ohne meine Putzfrau“, sage ich und leite damit mehr oder weniger geschickt zum eigentlichen Thema über. „Ist sie denn zuverlässig?“, fragt er. „Absolut! Ich könnte sie mal fragen...“ Erst zögert er, dann: „Na gut, aber ganz unverbindlich...“ Als ich ihn wieder treffe, strahlt er. „Ihre Putzfrau ist eine Perle. Hat doch Lebensqualität, so eine saubere Wohnung.“ Ob er das seiner Tochter gegenüber ebenfalls zugegeben hat?

Gespräche zwischen uns erwachsenen Kindern und unseren betagten Eltern sind oft schwierig. Das liegt nicht selten auch an uns. Entweder kommen wir – wie ich – aus unserer Kinderrolle nicht heraus, machen höchstens Andeutungen und meiden jedes ernste Gespräch. Oder wir fangen unversehens an, die alten Eltern wie Kleinkinder zu behandeln. Beides ist falsch: Im einen Fall kommen die Signale nicht an, im anderen Fall wird auf stur geschaltet. „Solche heiklen Themen kann man nur auf der Erwachsenen-Ebene ansprechen“, sagt Hartmut Radebold. „Auf Augenhöhe, mit Respekt und Verständnis füreinander.“ Er empfiehlt, in einer ruhigen Minute bei den Eltern vorzufühlen: „Wie stellt ihr euch euer weiteres Leben vor? Möchtet ihr hier wohnen bleiben? Und wenn ja, wollen wir eure Wohnung nicht gemeinsam ein bisschen besser ausstatten, was Licht, Heizung, Sanitäranlagen angeht, damit euch der Alltag leichter fällt?“

Über die eigenen Sorgen und Gedanken sprechen, gleichzeitig Hilfe oder Lösungsmöglichkeiten anbieten und damit Gedankenprozesse in Gang bringen, das sei wichtig, so der Experte. Und wenn die Eltern erst mal abblocken? Das Thema wechseln und irgendwann später wieder aufnehmen, rät Radebold. Nach seiner Erfahrung kann es zudem helfen, weitere Vertrauenspersonen hinzuzuziehen, etwa Freunde der Eltern oder den Hausarzt. Und wenn das genauso wenig bringt? „Dann ist das so“, sagt Hartmut Radebold. „Auch alte Menschen dürfen falsche Entscheidungen fällen – wie alle anderen.“ Wir, die erwachsenen Kinder, müssen dann lernen zu akzeptieren, dass wir nicht für alles verantwortlich sind, so der Experte. Und darauf zu vertrauen, dass die Eltern schon wissen, was sie tun, und die Folgen einschätzen können. Das Thema Autofahren werde ich ansprechen, sobald ich wieder bei meinem Vater bin. Ich werde ihm sagen, dass ich Angst um ihn habe und dass ich ihn noch brauche. Als meinen Fels in der Brandung. Das andere Thema, das meine Geschwister und mich so aufgeregt hatte, ist inzwischen vom Tisch, besser gesagt, es liegt darunter: eine einjährige Labrador-Mix-Hündin. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Vater telefoniere, höre ich sie zu seinen Füßen an einem Kauknochen knabbern. Ich habe das Gefühl, Hund und Herrchen sind sehr glücklich miteinander.

Text: Petra Meyer-Schefe

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