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Droht die Wikipedia-Community zu scheitern?

Die Wikipedia-Community ist ein einzigartiges Experiment: Das Online-Lexikon möchte das Wissen der Welt demokratisieren. Jetzt steckt das Projekt in einer tiefen Krise.

Immer häufiger schaffen es Artikel nicht in die deutschsprachige Wikipedia: zum Beispiel ein Text über Barack Obamas Wasserhund Bo. Änderungen im Wissenswerk werden nicht mehr so wie früher einfach übernommen, sondern vorher von einem der Wiki-Mitglieder kontrolliert – und meistens gelöscht. Der Artikel wurde Opfer der so genannten "Löschkriege", die gerade die Community der Online-Enzyklopädie spalten und manche Kritiker dazu veranlassen, vom Scheitern des Experimentes zu sprechen.

Was ist die Wikipedia-Community eigentlich?

Wikipedia versteht sich selbst als Online-Enzyklopädie, die das Wissen der gesamten Menschheit aufnehmen und an alle weitergeben möchte. Sie folgt dem Wiki-Prinzip, nach dem es möglich ist, unkompliziert Inhalte einzutippen. Dieses Prinzip wurde 1995 von einem Amerikaner erfunden und von Wikipedia übernommen. Über jedem Artikel gibt es den Button "Seite bearbeiten", über den man einfach in ein Bearbeitungsfenster gelangt.

Bis vor einigen Wochen wurden Änderungen ohne Kontrolle sofort übernommen - jeder konnte sich aktiv beteiligen, indem er ohne Registrierung Inhalte erstellen, ändern oder löschen konnte. Inzwischen muss ein Eintrag von einem berechtigten "Wikipedianer", also einem der in Deutschland7000 aktiven registrierten Wikipedia-User, abgenommen und zur Veröffentlichung freigegeben werden. Bilder und Texte können einfach kopiert und genutzt werden, solange man Wikipedia als Urheber nennt. Ausnahmen bilden nur Filmplakate, CD-Cover und Ähnliches: Hier muss man den eigentlichen Urheber wie beispielweise die Produktionsfirma nennen. Auf Wikipedia wird man entsprechend darauf hingewiesen.

Und wie funktioniert Wikipedia genau?

Was wir als normale Nutzer sehen, ist der so genannte Artikel-Namensraum, der die Texte enthält. Es gibt aber noch zwei andere Ebenen: den Diskussions- und der Benutzer-Namensraum. In Letzteren gelangt man nur, wenn man registriert ist. Hier befinden sich die Richtlinien des Projekts, Handbücher und Formatregeln. Hier finden aber auch wichtige Prozesse statt, allen voran basisdemokratische Wahlen zu verschiedenen Dingen. So wird hier entschieden, welche Beiträge in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen werden. Geschafft haben es unter anderem die Texte zu Pink Floyd oder der Hansestadt Hamburg. Die Abstimmungen werden in der Regel von mehr oder weniger hitzigen Diskussionen begleitet. Man kann sie auch ohne Anmeldung auf der Diskussionsseite verfolgen.

Wer arbeitet und diskutiert bei der Wikipedia-Community?

Der typische Wikipedianer ist männlich, über 30, arbeitet Vollzeit und ist Single. Das ergab eine wissenschaftliche Studie. Für ihre Arbeit werden sie nicht bezahlt, sie arbeiten freiwillig und ehrenamtlich für das Projekt – und das durchschnittlich zwei Stunden am Tag. Warum? Weil die Helfer Spaß daran haben, ihr Wissen zu erweitern, und sich mit der Ideologie des Projekts identifizieren. Und weil dort richtige Freundschaften entstehen. Es gibt eine Seite, auf der die Geburtstage der aktiven Mitglieder aufgelistet sind und einen Artikel, in dem einige Wikipedianer ihre Katzen vorstellen. Im Mittelpunkt steht aber die Qualitätssicherung der Inhalte. Nur wenige User werden auch aktiv. Lediglich sechs Prozent aller Nutzer haben überhaupt schon mal einen Eintrag gemacht. Regelmäßig aktiv sind die Allerwenigsten: Nur neun Prozent aller registrierten Benutzer sind verantwortlich für über 90 Prozent der Inhalte.

Wie muss ich mir die Arbeit der Wikipedia-Community vorstellen?

Es herrscht strikte Arbeitsteilung. Neben den Autoren gibt es zum Beispiel die Putztruppe, die täglich neue Einträge kontrolliert, und die Vandalenjäger, die gezielt nach falschen Informationen suchen und sie entfernen. Besonders wichtig sind die Administratoren, kurz Admins. Sie stehen an der Spitze der Hierarchie, die sich ungewollt im Laufe der Jahre herausgebildet hat. Heißt: Die etwa 300 Admins können ganze Seiten einfach löschen, wiederherstellen oder für Bearbeitungen sperren (so geschehen beim Eintrag zu George W. Bush während des Irak-Krieges) – letztendlich entscheiden sie darüber, was bleibt und was geht. Dieses Amt muss hart erarbeitet werden, denn hier kommt nur an die Macht, wer sich aufgrund seines Könnens einen Namen macht. Zu den Kriterien gehört außerdem, dass der Kandidat seit mindestens sechs Monaten in der Wikipedia aktiv ist, über 1000 Einträge aufweisen kann und bei der demokratischen Wahl mindestens zwei Drittel der Stimmen erhält. Akademische Bildung und Berufserfahrung spielen keine Rolle. Es kann passieren, dass ein Kaufmann den Artikel eines Professors für Kulturgeschichte für unwichtig erklärt und ihn löscht.

Kann ich den Inhalten vertrauen?

Das zu bewerkstelligen ist die große Herausforderung der Online-Enzyklopädie. Immerhin handelt es sich um ein noch nie dagewesenes soziales Projekt, das wie kein anderes für die Demokratisierung des Wissens steht – zumindest in der Theorie. Tatsächlich wird sehr viel für die Qualitätssicherung getan. Und das sehr erfolgreich: Zur Überraschung aller Skeptiker schneidet Wikipedia bei Vergleichstests nur unwesentlich schlechter ab als der Brockhaus oder die Encyclopedia Britannica. Was die Aktualität und die Aufnahme von speziellen sowie kontroversen Themen angeht, ist Wikipedia Vorreiter. Trotzdem ist das Internet-Nachschlagewerk nicht ganz frei von Fehlern. Es lohnt sich immer, Fakten noch mal zu überprüfen.

Aber wo ist dann genau das Problem?

Das Problem: Die beiden obersten Grundprinzipien, nämlich die kollektive Arbeit und der Anspruch eines Nachschlagewerks, scheinen schwer miteinander vereinbar. Bedenkt man, dass die Online-Enzyklopädie inzwischen fast eine Million Artikel umfasst und täglich rund 500 neue dazu kommen, liegt nahe, dass die Qualitätssicherung einen riesigen Kraftakt bedeutet - vor allem wenn alle mitreden wollen und über alles demokratisch abgestimmt wird. Hinzu kommt, dass ziemlich viel Quatsch geschrieben wird, der schnellstmöglich entfernt werden muss. Das ist mit den 7000 Aktiven kaum zu bewerkstelligen. Deshalb auch die Änderung dahingehend, dass neue Einträge erst nach der Abnahme durch einen Wikipedianer angezeigt werden.

Geht damit nicht die Grundidee verloren?

Diese Neuerung steht im Gegensatz zu der Wiki-Idee, nach der wirklich jeder einfach seine Informationen ohne Hindernisse hinzufügen kann und so ein Werk entsteht, das das Wissen aller Menschen bündelt. Allerdings ist diese Verfahrensweise nur formal neu. In der Praxis sind ohnehin nur die allerwenigsten Änderungen durch Außenstehende durchgekommen – die meisten wurden von den Administratoren gelöscht. Aber noch ein anderes Problem beschäftigt die Wikipedia-Gemeinde: Welche Themen gehören in ein Lexikon, welche nicht? Muss es wirklich einen Artikel über Bauchnabelfussel enthalten? Diese Frage spaltet die Wikipedianer in Inklusionisten, die alles aufnehmen möchten, und in Exklusionisten, die das Gegenteil wollen – beide Fraktionen liefern sich erbitterte Diskussionen. Es ist ein endloses Thema, das die Aktiven noch länger beschäftigen wird.

Also ist das Projekt nun gescheitert?

In gewisser Weise schon. Die Wikipedia wird es weiterhin geben und für den normalen Nutzer werden sich wohl keine Unterschiede erkennen lassen. Aber das Prinzip eines kollektiven Wissenswerkes gibt es so nicht mehr. Statt purer Demokratie haben sich hierarchische, redaktionelle Strukturen herausgebildet, in denen die Admins die Funktion eines Chefredakteurs eingenommen haben. Aber lässt sich ohne Kontrolle ein Lexikon, ein Werk, das zuverlässige Informationen liefern soll, machen? Wohl kaum. Jeder würde etwas reinschreiben, der Großteil der Zahlen und Fakten wäre fehlerhaft oder nach kurzer Zeit hoffnungslos veraltet. Die Verbreitung von Informationen und Wissen muss kontrolliert werden. Das hat auch ein Großteil der Wikipedianer erkannt – und damit auch dass das soziale Experiment Wikipedia nicht wie gedacht durchgeführt werden kann.

Text: Roxana Wellbrock Foto: iStockphoto

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