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Das Altenheim Casa Verdi in Mailand: "Grazie, Giuseppe!"

Casa Verdi
© MIGUEL MEDINA/AFP / Getty Images
Für die, die in der Mailänder Casa Verdi leben, ist sie das größte Werk des Komponisten. Ein Altersheim für verarmte Musiker, gestiftet vom Maestro persönlich. Das Paradies aus Museum und Konzertsaal wird für betagte Diven und Dirigenten, Tänzer und Agenten zur großen Bühne der Erinnerungen. Jetzt kommt Dustin Hoffmanns Regiedebüt in Kino, welches das Altenheim zum Thema hat.

Am Empfang sitzt ein gestrenges Fräulein Rottenberg, das uns nur zähneknirschend einlässt. Schließlich verirren sich immer wieder Passanten in die Casa Verdi. Woran die Empfangsdame im Übrigen nicht ganz unschuldig ist, denn sie liebt ihren Verdi so laut, dass er den von der Piazza hereindringenden Verkehrslärm übertönt. Angelockt vom Klang der Traviata "Oh, lass uns fliegen aus diesen Mauern, lass in schön're Auen uns ziehen" stehen plötzlich Fremde im Foyer und bitten verlegen, Verdis Grab in der Krypta besuchen zu dürfen!

Resigniert drückt sie schließlich auf einen Knopf, die altmodischen Flügeltüren springen auf wie von Geisterhand gezogen, und wir stehen in der Eingangshalle, neben den Büsten und marmornen Tafeln der Stifter: Vladimir Horowitz, Irma Colasanti, Pläcido Domingo. Ein alter Herr mit einem Packen Briefe in der Hand nähert sich und zischelt uns zu: "Am liebsten würde sie überhaupt niemanden einlassen!" Dabei ist die Casa Verdi für Mailand eine Institution wie die Scala, das Opernhaus. Jeder weiß, dass dieses Gebäude mit seinen neugotischen Bögen ein Altersheim für Musiker ist - gestiftet von Giuseppe Verdi. Im Jahr 1900 ließ der große Komponist es für bedürftige Musiker erbauen und verfügte in seinem Testament nicht nur, hier an der Seite seiner letzten Ehefrau Giuseppina Strepponi begraben zu werden, sondern auch, der Casa Verdi die Tantiemen seiner Werke zu hinterlassen.

Die 52 Bewohner zahlen, was sie erübrigen können, 50 Euro oder ein ganzes Haus

Aus der Ferne dringen Klavierakkorde, Tonleiterübungen eines Koloratursoprans und Fetzen von Macbeth: "Wohlan denn, entsteigt dem Abgrund, ihr Dämonen!" Die Sopranistin Lina Vasta erteilt gerade Gesangsunterricht. Paolo, ihr heutiger Schüler, ist ein junger Schauspieler und begnadeter Stimmenimitator. Er deutet nur einen Ton an, schon schwebt die Tebaldi über uns, Gott habe sie selig, er pumpt sich zu Luciano Pavarotti auf, haucht wie Louis Armstrong, und seine Lehrerin windet sich vor Lachen.

Lina Vasta betrachtet die Welt durch eine veilchenfarbene Schmetterlingsbrille. An ihrem Revers hängt ein Notenschlüssel wie ein winziger Orden. Sie ist mit ihren 73 Jahren eine der jüngsten Bewohnerinnen der Casa Verdi und dennoch diejenige, die am längsten hier wohnt. Vor 20 Jahren zog sie mit ihrem Mann ein, einem Dirigenten, der 30 Jahre älter war und eifersüchtig bis zum letzten Atemzug. Mehr als einmal habe er im Publikum gesessen und ihr während des Auftritts eine Szene gemacht. "Wissen Sie", sagt Lina Vasta, ohne ihre Augen von der Tastatur des Klaviers zu heben, "es war nicht nur Eifersucht auf mich als Frau. Es war auch Eifersucht auf mein Talent." Dann lächelt sie ganz fein und spöttisch. Bald nach dem Umzug in die Casa Verdi starb ihr Mann. Da war Lina Vasta zwar erst 53 Jahre alt, aber sie blieb in der Casa Verdi: "Schließlich lebe ich hier wie einem Hotel!" Sie geht immer noch viel aus, regelmäßig in die Scala, wenngleich sie für deren Dirigenten Riccardo Muti nicht viel übrig hat: "Ein Taktschläger! Er benutzt Sänger wie Instrumente, er versteht nicht, dass jeder Sänger eine Persönlichkeit hat! Musik muss Gefühle auslösen, Musik ist Tragik!" Paolo, ihr Schüler, blickt sie an, suchend und ganz leicht berührt. Und dann sagt sie: "Man muss sich geben in der Musik!"

Heute leben in der Casa Verdi 52 Primadonnen, Tenöre, Chorsängerinnen, Dirigenten. 52 Künstler, für die das Leben mit der Musik göttlicher Auftrag war, Erweckungserlebnis und Broterwerb zugleich, 52 Erwählte, viele mit glanzvoller Vergangenheit, manche mit Pensionsanspruch, alle mit Leidenschaft.

Das Altenheim Casa Verdi in Mailand: "Grazie, Giuseppe!"
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Als Aufnahmebedingung für die Casa Verdi reicht der Nachweis über eine hauptberufliche Tätigkeit im Musikbereich, die italienische Staatsangehörigkeit und die Fähigkeit, sich bei Eintritt in die Casa Verdi noch selbst versorgen zu können. Für spätere Bedürftigkeit gibt es eine Pflegestation im Erdgeschoss. Bezahlt wird das, was erübrigt werden kann. Das können 50 Euro pro Monat sein oder ein ganzes Haus - seit dem Ausbleiben der Tantiemen ist die Casa Verdi eine Stiftung, die sich durch Spenden finanziert. Der Herr, der gerade seine Post am Empfang abgeholt hat, heißt Luigi La Pegna und ist ebenfalls seit langem Gast in der Casa Verdi - man legt hier Wert auf das Wort Gast, weil Gast nach Hotel klingt und Bewohner zu sehr nach Altersheim. Signor La Pegna schiebt seine Füße, die seinen Befehlen nur noch mit einiger Verzögerung gehorchen, über den Marmorboden am Übungssaal vorbei. Vorbei an der Raucherecke, in der niemand raucht, vorbei an dem Bastelsaal, in dem unter Anleitung von Signora Titti, einer ehrenamtlichen Papierblumendekorateurin, aus Krepppapier Blumengestecke gefertigt werden - etwas, für das Signor La Pegna überhaupt keine Zeit hat.

Täglich kommen 20 E-Mails an, Anfragen aus der ganzen Welt, denn Luigi La Pegna betreibt aus seinem lindgrün gestrichenen Zimmer eine Konzertagentur. Er ist 84 Jahre alt und vor acht Jahren in die Casa Verdi gezogen. Sein Büro quillt über von Papierstapeln, aufgetürmten CDs und vergilbten Auftrittsplakaten seiner Künstler - der indische Musiker Ravi Shankar, die weißrussische Geigerin Anastasia: "Ein Wunder! Hier hat sie gespielt, in der Tür stehend! Ein echtes Wunder!", schwärmt Signor La Pegna, der gerade etwas sucht unter seinem Berg von Notizzetteln, Zeitungsausschnitten und Programmheften, er schiebt und sortiert und räumt, bis er schließlich ein verstaubtes Faxgerät ausgräbt, das röchelnd eine Seite ausstößt.

Hier wohnen nur Gäste, weil Gast nach Hotel klingt und Bewohner nach Heim

Wenn er hinter seinem Schreibtisch sitzt, mit Fliege und breiten bordeauxroten Hosenträgern, dann scheint er einem Hollywoodfilm entsprungen: Man sieht ihn im Geiste Zigarre rauchen, Millionengagen aushandeln und in fünf Telefone gleichzeitig sprechen. Er schlafe nie, sagt Signor La Pegna. Selbst nachts plant er Konzertauftritte, und wenn in der Schweiz ein interessantes Symphonieorchester auftritt, bringt er es fertig, sich dorthin fahren zu lassen, sechs Stunden hin, sechs Stunden zurück. "Ich lebe hier wie ein Koch in seiner Küche", sagt Signor La Pegna, und in diesem Sinne nennt er die junge Studentin, die für ihn die E-Mails beantwortet: die Perle. "Die beste Idee, die der Verwaltungsrat je hatte, war die, Musikstudenten aufzunehmen", sagt Luigi La Pegna und fügt spitz hinzu: "Denn ansonsten leben hier ja nur alte Leute, und das ist ja... etwas begrenzt."

Immer wieder werden die von Verdi entworfenen Statuten dem Wandel der Zeit angepasst: So leben neuerdings 26 Musikstudenten in der Casa Verdi, die es sicher besonders zu schätzen wissen, dass die von Verdi erfundene Kleiderordnung schon lange abgeschafft wurde: für die Herren Zylinder, Fliege und Doppelreiher, für die Damen dunkle Giuseppina-Strepponi-Kleider.

Zwei Türen weiter schließt Stefania Sina, die Chefredakteurin der Hauszeitung "La Voce", das Büro auf. Sie blickt auf den Computer, den zu beherrschen sie erst hier in der Casa Verdi gelernt hat, wie auf eine Sonne, die ihr den Tag erhellt. Signora Sina ist 76 Jahre alt, war Altistin, zuletzt im Chor der Scala, und versichert immer wieder, dass es das reine Glück sei, hier in der Casa Verdi zu leben, wo man zwischen Dirigenten und Chorsängern keine Unterschiede macht.

"Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Zimmer!" Schon läuft sie vorbei am schmiedeeisernen Aufzugkäfig. "Nein, das dauert mir zu lange!" Ungeachtet ihres Alters steigt sie die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. In der Luft liegen Geigenklänge und leichter Essensgeruch. Der blank gebohnerte Flur erinnert mit seinen halb vertrockneten Topfpflanzen, verblassten Friedensfahnen und handgemalten Namensschildern mehr an ein Studentenwohnheim als an ein Altersheim.

Das Zimmer von Stefania Sina ist eingerichtet wie ein bürgerliches Wohnzimmer, mit poliertem Nussbaum und weißen Spitzendeckchen. Jeder Bewohner hat das Recht, sein Zimmer mit eigenen Möbeln einzurichten. Durch die Doppelbögen ihres Fensters blickt Stefania Sina auf die Piazza, in deren Mitte Verdi steht, in nonchalanter Haltung, mit fliegenden Rockschößen inmitten einer kleinen, blumenbepflanzten Insel. "Jeden Morgen begrüße ich ihn mit .Grazie, Giuseppe!'", sagt Signora Sina. Denn die Casa Verdi sei nach "Falstaff' sein bestes Werk.

Wenige Schritte von ihrem Zimmer entfernt steht Giuseppe Zazzetta in blauem Anzug und mit gepunkteter Krawatte vor dem Spiegel und murmelt: "93 Jahre, und du bist immer noch da!" Auf seinem Bett liegt ein verstaubter Teddybär. Ein verwackeltes Urlaubsfoto erinnert an seine Frau, mit der er 55 Jahre verheiratet war. Als sie vor zehn Jahren starb, zog er in die Casa Verdi.

Jeder der Bewohner hat das Recht, sein Zimmer mit eigenen Möbeln einzurichten

Auf einem Weinen Tisch liegt ein Schreibblock, denn Giuseppe Zazzetta hat gerade angefangen, sein Leben in Druckbuchstaben aufzuschreiben. Eine Altenpflegerin habe ihn dazu ermuntert. "Von meiner Kindheit ist nicht viel zu berichten", steht da und die Überschrift "Von der Feile zur Scala". Denn Giuseppe Zazzetta war Arbeiter in einer Fahrradfabrik und verdiente zehn Lire pro Woche, als er sich 1937 der Scala vorstellte. Vielleicht wäre er in der Fabrik geblieben, wäre da nicht Giannina Arrangi Lombardi gewesen, Toscaninis Lieblingssopranistin und Gesangslehrerin am Konservatorium, die sagte: "Sie müssen singen! Was verdienen Sie in der Fabrik? Ich zahle es Ihnen!"

Seine Schwiegermutter hingegen traute seiner Begabung nicht. "Von wegen singen", sagte sie, "der hat nur keine Lust zu arbeiten!" Das hat Giuseppe Zazzetta ihr nie verziehen, auch mit 93 nicht. Später wollte sie dann Karten von der Scala von ihm, vergeblich. Sein letztes Konzert gab er mit 90, in Tokio. Eine japanische Gesangsgruppe, die in Mailand ein Requiem aufnahm, hatte ihn entdeckt und eingeladen. Er zögerte keine Sekunde. Auf einem Foto sieht man Giuseppe Zazzetta mit schräg vor die Brust geschnallter Tasche durch Tokio laufen.

Am anderen Ende des Flurs wohnt Cesare Fortunato Ottaviani, der sich gerade parfümiert. Sein Zimmer funkelt wie ein Schatzkästlein. Alles glänzt, der Kronleuchter, die silbernen Fotorahmen, die Goldränder der Porzellantassen, Signor Ottavianis Diamantring, die zahllosen Madonnen. Das in der Mitte des Zimmers stehende Bett ist schwelgerisch dekoriert mit türkisfarbenem Überwurf und unzähligen Gobelinkissen. Er läuft nicht durch sein kleines Reich, er springt wie ein Derwisch darin herum. Trotz Stützkorsett. Auf der Bühne wie im Leben hat Signor Ottaviani die Rolle des lyrischen Tenors übernommen, mit lakritzfeinem Oberlippenbärtchen, konterkariert von einem senkrechten millimeterschmalen Strich auf dem Kinn.

"Werther von Massenet war meine Paraderolle", sagt er und zählt die Namen auf, die er sich im Laufe seiner Karriere gegeben hat: Als Paolo Vetrano zur Welt gekommen, verwandelte er sich erst in Paolo Veri, dann in Rainolfo Nullo di Vallelunga, was sich auf Plakaten sehr gut macht, allerdings etwas zu lang zum Aussprechen ist, weshalb er sich erst zu Cesare Ottaviani verkürzte, dann jedoch das Fortunato hinzufügte: Denn wer sonst ist in seinem Leben von den Göttern so geküsst worden wie er?

Wenngleich er mit Frauen kein Glück hatte. Zwei starben und eine endete im Irrenhaus. Aber es habe ihm nie an Gelegenheiten gemangelt. "Ich habe ein junges Herz!", ruft er aus, seine beiden autobiografischen Romane zeugen davon, der eine trägt den Titel "Ekstase", der andere wird "Erinnerungen eines Schalmeienspielers" heißen und ist noch in Arbeit. Denn es kommen täglich neue Erlebnisse hinzu: So habe er sich im hohen Alter von 74 noch einmal verliebt, in "ein wundervolles Wesen", einen jungen Freund, einen Musikstudenten, der nun in Leipzig lebe und ihn immer noch sieze.

Kurz setzt er zu einem "O sole mio" an, das die Porzellantassen erzittern lässt. Er sei in die Casa Verdi gezogen, weil er lieber in Gesellschaft auf die endgültige Reise warten wolle, sagt Signor Ottaviani. Wenngleich er auch anmerken müsse, dass geistiges Licht in der Casa Verdi rar sei. "Man muss es mit der Taschenlampe suchen!", ruft er kichernd aus. Neben seiner Zimmertür hängt die Kritik seines letzten Konzerts, in Gold gerahmt. Sie bezeugt ihm die Kraft eines Erdbebens.

Zu Mittag wird im Erdgeschoss gegessen. In einem hohen und lichten Speisesaal, der sehr an den "Zauberberg" gemahnt, mit knarrendem Holzparkett und Jugendstil-Ornamenten. Nach dem Dessert setzen sich ein paar Gäste der Casa Verdi noch eine Weile in die nebenan liegende Sala Toscanini, einen herrschaftlichen Salon mit Sitzgruppen aus lindgrünen Louis-quinze-Sesselchen und geblümten Sofas, und hören eine Klaviersonate.

Am Flügel sitzt eine Dame, die gerade noch in einem Notenheft gelesen hat wie in einer Tageszeitung und allen immer wieder erzählte, dass sie nur vorübergehend in der Casa Verdi sei, gleich werde ihre Tochter sie wieder abholen und zurück in ihre Wohnung nach Civitavecchia bringen. Ihr Fuß tippt den Takt mit, und ihre Hände gleiten überraschend kraftvoll über die Tastatur. Die Dame lächelt entrückt. Kunst rettet vielleicht nicht den Körper, aber die Seele.

Signora Sona hatte eine Cousine, die wurde Puccinis Kanarienvogel genannt

Das Parkett knarrt, als zwei Damen und ein Herr mit Stock die Sala Toscanini betreten. Sie bewegen sich fort wie aneinander geschweißt. Signor Colini stützt Signora Moretto und Signora Moretto stützt Signora Sona. Erschöpft von wenigen Schritten sinken sie in die Polster der geblümten Sofas. Elena Moretto ist die Witwe eines Tenors und war 36 Jahre lang Chorsängerin in der Scala. "Hat sie Callas gesagt?", fragt Renata Sona, die früher Harfenistin war und heute etwas schwerhörig ist. "Nein, Scala!", schreit Signor Colini. "Du musst dich nicht anstrengen", beruhigt Signora Moretto.

Signor Colini ist sehr groß und trägt eine helle Häkelmütze. "Ach", sagt er, "ich schäme mich meiner Glatze. Ich hatte doch so schöne goldene Locken!" Früher war er Balletttänzer an der Scala, 20 Jahre lang. (Seit einigen Jahren dürfen auch Angehörige des Corps de Ballet in der Casa Verdi aufgenommen werden.) "Ich war kein guter Tänzer, aber ich sah blendend aus", erinnert sich Signor Colini. Seine Ballettkarriere begann im August 1943, als die Scala noch in Schutt und Asche lag. "Ich war einer der Boys von Wanda Osiris!", sagt er - was Signora Moretto auftrumpfen lässt mit einem "Ich habe Toscanini noch gekannt!". Signora Sona kontert mit "Und ich hatte eine Cousine, die wurde Puccinis Kanarienvogel genannt!". Als Signor Colini immer noch weiter vom Ballett redet, tippt sie ungeduldig mit ihrem Stock auf das Parkett und ruft: "Nieder mit der Sklaverei! Fort mit den Freien!"

Das Altenheim Casa Verdi in Mailand: "Grazie, Giuseppe!"
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"Ach ja, der Gefangenenchor", seufzt Signor Colini. "Ich beneide die Musiker", fügt er an, "sie können mit allen über Musik reden. Aber ich habe hier niemanden, bei dem ich sagen kann: "Weißt du noch, die und die Schrittfolge?"

Am Nachmittag betritt ein Flötist mit einem abgegriffenen Notenheft in der Hand den Konzertsaal der Casa Verdi. Die anderen Übungssäle, um die eifersüchtig gerungen wird, sind wieder mal besetzt. Paolo Varetti ist erst vor kurzem in die Casa Verdi gezogen, mit seiner Frau und 104 Gedichtbänden. "Kunst", sagt er, "ist die Basis von allem." Und so spielt er vor diesen leeren roten Stuhlreihen, selbstvergessen, entrückt, schwebend. Bach-Sonaten und Debussy.

Von draußen hört man den Mailänder Verkehr rauschen, eine Straßenbahn quietscht, in der Ferne ertönt ein Martinshorn, und schon ergreift die Musik das Herz und drückt es so fest, bis es schmerzt. Und man schluckt und schluckt und schämt sich. Denn wenn wir Signor Zazzetta, Signor Varetti oder Signor Colini irgendwo auf der Straße begegnet wären, hätten wir vielleicht nur ihren schleppenden Gang bemerkt. Und nicht ihre heißen Herzen.

BRIGITTE woman 02/2005 Text: Petra Reski

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